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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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nach ihrem dermaligen Einkommen einrichten und zunächst eine Wohnung für
100 bis 120 Mark beziehen, so würde sie damit aus ihrer Klasse heraus ins
Proletariat fallen und sich die Aussicht auf Rettung versperren. Dieses Ein¬
kommen nun, das den Menschen der bessern Stände beim bloßen Gedanken
daran Entsetzen erregt, das zu einer Lebensweise zwingt, die ihnen schlimmer
als der Tod dünkt, dieses ist das Durchschnittseinkommen der ländlichen Tage¬
löhner in den fraglichen Gegenden; Hunderttausende von Familien bleiben sogar
-noch darunter, das Streben nach Erhöhung aber wird Unbotmäßigkeit gescholten
und der Staat dagegen zu Hilfe gerufen. Und wenn die Gutsbesitzer von einer
Arbeiterfrage reden, so meinen sie damit die Gefahr, daß sie zur Erhöhung
dieses Einkommens gezwungen werden könnten; ja sie klagen, daß sie schon bei
Zahlung der jetzigen Tagelohne nicht mehr durchkamen. Als Antwort auf
jene Frage erwarten sie also Negierungsmaßregeln, die die Arbeiter zwingen
sollen, bei den jetzigen oder noch geringern Löhnen fortzudienen. Die Leute
sollen also zwangsweise in einer Lage festgehalten werden, die nicht anders be¬
zeichnet werden kann als mit dem Ausdruck oouäitio sorvills. Sie dürfen kein
andres leibliches Bedürfnis kennen als das der notdürftigsten Sättigung mit
den am wenigsten wohlschmeckenden Nahrungsmitteln und jahraus jahrein mit
denselben, ohne alle Abwechslung. Sie dürfen nicht wissen, was Komfort ist.
Sie dürfen gar keine ästhetischen, Geistes- und Herzensbedürfnisse haben. Sie
dürfen auch keine sittlichen Bedürfnisse haben: die Mutter darf kein Rühren
im Herzen und keinen Gewissensbiß spüren, wenn sie ihre Kleinen hilflos in
der verschlossenen Stube allein läßt, wo sie ohne Pflege verkommen und mög¬
licherweise verbrennen; ihre Gedanken dürfen nicht daheim, sondern müssen bei
der Arbeit sein. Sie muß die noch zarten Kinder über ihre Kräfte für den
Brotverdienst ausnutzen. Sie darf sich nicht sträuben, wenn der gnädige Herr
oder der Wirtschaftsiuspektor an ihr Gefallen findet. (Frankenstein a. a. O.,
S. 304.) Die pommersche Gutsarbeiterin muß den Hofgänger (Scharwerker)
oder die Hofgängerm (Scharwerkeritt) mit ihren Kindern in der einzigen Kammer
schlafen lassen, wenn sie auch bestimmt weiß, daß regelmäßig noch ein Schatz
mit drin schläft. (Wittenberg n. a. O., S. 78.) Der Gedanke, einmal beim
Stehlen abgefaßt zu werden, darf für die Leute nichts schreckliches badete, den"
ohne Feld- und Holzdiebstahl gehts einmal nicht, wie Gutsbesitzer gestehen, und
wie die von den Autoritäten festgestellte Erfahrung beweist, daß alle Arbeiter-
kvlonien unfehlbar Spitzbubenuester werden. Kurzum: der Gutsherr braucht
Leute, deren ganzes Seelenleben durch eine unüberbrückbare Kluft von dem
unsern geschieden ist, oder die auf einer Kulturstufe stehen, von der kein Steg
zu unsrer eignen Kulturstufe herausführt; Menschen von einer ganz andern Art,
die sich von den Arbeitstieren nur dadurch unterscheiden, daß sie Menschen¬
gestalt haben, rede" können lind die Befehle des Herrn verstehe", mit einem
Wort: die beseelten und außerdem mit Verstand begabten Werkzeuge der aristvte-


nach ihrem dermaligen Einkommen einrichten und zunächst eine Wohnung für
100 bis 120 Mark beziehen, so würde sie damit aus ihrer Klasse heraus ins
Proletariat fallen und sich die Aussicht auf Rettung versperren. Dieses Ein¬
kommen nun, das den Menschen der bessern Stände beim bloßen Gedanken
daran Entsetzen erregt, das zu einer Lebensweise zwingt, die ihnen schlimmer
als der Tod dünkt, dieses ist das Durchschnittseinkommen der ländlichen Tage¬
löhner in den fraglichen Gegenden; Hunderttausende von Familien bleiben sogar
-noch darunter, das Streben nach Erhöhung aber wird Unbotmäßigkeit gescholten
und der Staat dagegen zu Hilfe gerufen. Und wenn die Gutsbesitzer von einer
Arbeiterfrage reden, so meinen sie damit die Gefahr, daß sie zur Erhöhung
dieses Einkommens gezwungen werden könnten; ja sie klagen, daß sie schon bei
Zahlung der jetzigen Tagelohne nicht mehr durchkamen. Als Antwort auf
jene Frage erwarten sie also Negierungsmaßregeln, die die Arbeiter zwingen
sollen, bei den jetzigen oder noch geringern Löhnen fortzudienen. Die Leute
sollen also zwangsweise in einer Lage festgehalten werden, die nicht anders be¬
zeichnet werden kann als mit dem Ausdruck oouäitio sorvills. Sie dürfen kein
andres leibliches Bedürfnis kennen als das der notdürftigsten Sättigung mit
den am wenigsten wohlschmeckenden Nahrungsmitteln und jahraus jahrein mit
denselben, ohne alle Abwechslung. Sie dürfen nicht wissen, was Komfort ist.
Sie dürfen gar keine ästhetischen, Geistes- und Herzensbedürfnisse haben. Sie
dürfen auch keine sittlichen Bedürfnisse haben: die Mutter darf kein Rühren
im Herzen und keinen Gewissensbiß spüren, wenn sie ihre Kleinen hilflos in
der verschlossenen Stube allein läßt, wo sie ohne Pflege verkommen und mög¬
licherweise verbrennen; ihre Gedanken dürfen nicht daheim, sondern müssen bei
der Arbeit sein. Sie muß die noch zarten Kinder über ihre Kräfte für den
Brotverdienst ausnutzen. Sie darf sich nicht sträuben, wenn der gnädige Herr
oder der Wirtschaftsiuspektor an ihr Gefallen findet. (Frankenstein a. a. O.,
S. 304.) Die pommersche Gutsarbeiterin muß den Hofgänger (Scharwerker)
oder die Hofgängerm (Scharwerkeritt) mit ihren Kindern in der einzigen Kammer
schlafen lassen, wenn sie auch bestimmt weiß, daß regelmäßig noch ein Schatz
mit drin schläft. (Wittenberg n. a. O., S. 78.) Der Gedanke, einmal beim
Stehlen abgefaßt zu werden, darf für die Leute nichts schreckliches badete, den»
ohne Feld- und Holzdiebstahl gehts einmal nicht, wie Gutsbesitzer gestehen, und
wie die von den Autoritäten festgestellte Erfahrung beweist, daß alle Arbeiter-
kvlonien unfehlbar Spitzbubenuester werden. Kurzum: der Gutsherr braucht
Leute, deren ganzes Seelenleben durch eine unüberbrückbare Kluft von dem
unsern geschieden ist, oder die auf einer Kulturstufe stehen, von der kein Steg
zu unsrer eignen Kulturstufe herausführt; Menschen von einer ganz andern Art,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/414>, abgerufen am 22.07.2024.