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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Landarbeiterfrcige

Industrie ähnliche Organisation kommen müßte, die es den kleinen Leuten
möglich machte, zwischen Jndustricarbeit im Winter und Feldarbeit im Sommer
abzuwechseln. Auch möglichst gleichmäßige Verteilung des Waldes, der Straßen
und Eisenbahnen über das Land ist von großer Wichtigkeit, da Forstwirtschaft,
Bahn- und Straßenban Gelegenheit zur Winterarbeit schassen. Giebt es keine
Großstädte und Jndustriebezirke, in denen die Landarbeiter zusammenströmen
und wo sie ihren dauernden Wohnsitz aufschlagen müssen, um das ganze Jahr
über Beschäftigung zu finden, hat der Nübenbauer den im Sommer abkömm¬
lichen Industriearbeiter, der Arbeiter aber beides, die Sommer- wie die Winter-
arbeit zur Hand, so ist beiden Teilen geholfen und die Arbeiterschaft wieder
seßhaft geworden. Dann säßen auch die Erzeuger und die Verbraucher der Lebens¬
mittel und Rohstoffe unmittelbar neben einander, und so würde die Getreide¬
börse samt ihren viel gescholtenen Sünden überflüssig. Wer diesen Plan als
utopisch zurückweist, der thäte besser, das unnütze Gejammer über die Sachsen-
güngerei und die Desorganisation der Landgemeinden und Gutsbezirke zu lassen
und sich auf einen Zustand einzurichten, der Deutschland allmählich in ein
großes Zigeunerlager zu verwandeln verspricht. Denn einen andern Ausweg
vermögen wir nicht zu sehen; die Chemiker und Physiologen müßten denn ein
Verfahren erfinden, die Rübenarbeiter im Herbste einzupökeln und im Früh¬
jahr wieder lebendig zu machen.

Wenden wir uus dann zu der besondern ostelbischen Abteilung der Frage,
so liegt die Schwierigkeit, sie zu behandeln, in der Unaufrichtigkeit unsrer Zeit.
Nachdem mit Luther und Rabelais die Aufrichtigkeit") der alten und mittlern
Zeiten zu Grabe getragen war, hat die europäische Diplomatie die Sprache zu
einer Kunst, die Gedanken zu verhüllen, ausgebildet, und die politischen Par¬
teien und Interessenvertretungen unsrer Tage kennen gar keinen andern Gebrauch
der Sprache mehr; wer in ihren Kreisen jedes Ding mit seinem richtigen
Namen nennen wollte, würde der Acht und Aberacht verfallen. Das ist sehr
bequem für die Interessenten, aber es ist sehr schlimm für das Vaterland,
denn um für jeden Fall die richtigen Maßregeln treffen zu können, müssen
die Behörden und Volksvertretungen den Fall verstehen, und dazu gehört vor
allem, daß er wahrheitsgetreu vorgelegt werde. Die richtige Fragestellung zeigt
ja immer den Weg zur Lösung, wie jede Rechenaufgabe, sobald man den rich¬
tigen Ansatz gefunden hat, schon so gut wie gelöst ist. Mit Beziehung auf
den vorliegenden Gegenstand haben wir nun schon früher einmal die Dinge
beim richtigen Namen genannt. Man hat es uns sehr übel genommen, aber
widerlegt sind wir nicht worden und können wir nicht werden. Wir wollen
auch heute nicht um den heißen Brei herumgehen, sondern den damals anf-



Sehr bezeichnend Pflegen wir sie Naivität "der Kindlichkeit zu nennen, womit gesagt
ist, daß heutzutage der gebildete Erwachsene notwendig ein Lügner und Heuchler sein muß.
Die Landarbeiterfrcige

Industrie ähnliche Organisation kommen müßte, die es den kleinen Leuten
möglich machte, zwischen Jndustricarbeit im Winter und Feldarbeit im Sommer
abzuwechseln. Auch möglichst gleichmäßige Verteilung des Waldes, der Straßen
und Eisenbahnen über das Land ist von großer Wichtigkeit, da Forstwirtschaft,
Bahn- und Straßenban Gelegenheit zur Winterarbeit schassen. Giebt es keine
Großstädte und Jndustriebezirke, in denen die Landarbeiter zusammenströmen
und wo sie ihren dauernden Wohnsitz aufschlagen müssen, um das ganze Jahr
über Beschäftigung zu finden, hat der Nübenbauer den im Sommer abkömm¬
lichen Industriearbeiter, der Arbeiter aber beides, die Sommer- wie die Winter-
arbeit zur Hand, so ist beiden Teilen geholfen und die Arbeiterschaft wieder
seßhaft geworden. Dann säßen auch die Erzeuger und die Verbraucher der Lebens¬
mittel und Rohstoffe unmittelbar neben einander, und so würde die Getreide¬
börse samt ihren viel gescholtenen Sünden überflüssig. Wer diesen Plan als
utopisch zurückweist, der thäte besser, das unnütze Gejammer über die Sachsen-
güngerei und die Desorganisation der Landgemeinden und Gutsbezirke zu lassen
und sich auf einen Zustand einzurichten, der Deutschland allmählich in ein
großes Zigeunerlager zu verwandeln verspricht. Denn einen andern Ausweg
vermögen wir nicht zu sehen; die Chemiker und Physiologen müßten denn ein
Verfahren erfinden, die Rübenarbeiter im Herbste einzupökeln und im Früh¬
jahr wieder lebendig zu machen.

Wenden wir uus dann zu der besondern ostelbischen Abteilung der Frage,
so liegt die Schwierigkeit, sie zu behandeln, in der Unaufrichtigkeit unsrer Zeit.
Nachdem mit Luther und Rabelais die Aufrichtigkeit") der alten und mittlern
Zeiten zu Grabe getragen war, hat die europäische Diplomatie die Sprache zu
einer Kunst, die Gedanken zu verhüllen, ausgebildet, und die politischen Par¬
teien und Interessenvertretungen unsrer Tage kennen gar keinen andern Gebrauch
der Sprache mehr; wer in ihren Kreisen jedes Ding mit seinem richtigen
Namen nennen wollte, würde der Acht und Aberacht verfallen. Das ist sehr
bequem für die Interessenten, aber es ist sehr schlimm für das Vaterland,
denn um für jeden Fall die richtigen Maßregeln treffen zu können, müssen
die Behörden und Volksvertretungen den Fall verstehen, und dazu gehört vor
allem, daß er wahrheitsgetreu vorgelegt werde. Die richtige Fragestellung zeigt
ja immer den Weg zur Lösung, wie jede Rechenaufgabe, sobald man den rich¬
tigen Ansatz gefunden hat, schon so gut wie gelöst ist. Mit Beziehung auf
den vorliegenden Gegenstand haben wir nun schon früher einmal die Dinge
beim richtigen Namen genannt. Man hat es uns sehr übel genommen, aber
widerlegt sind wir nicht worden und können wir nicht werden. Wir wollen
auch heute nicht um den heißen Brei herumgehen, sondern den damals anf-



Sehr bezeichnend Pflegen wir sie Naivität »der Kindlichkeit zu nennen, womit gesagt
ist, daß heutzutage der gebildete Erwachsene notwendig ein Lügner und Heuchler sein muß.
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[0412] Die Landarbeiterfrcige Industrie ähnliche Organisation kommen müßte, die es den kleinen Leuten möglich machte, zwischen Jndustricarbeit im Winter und Feldarbeit im Sommer abzuwechseln. Auch möglichst gleichmäßige Verteilung des Waldes, der Straßen und Eisenbahnen über das Land ist von großer Wichtigkeit, da Forstwirtschaft, Bahn- und Straßenban Gelegenheit zur Winterarbeit schassen. Giebt es keine Großstädte und Jndustriebezirke, in denen die Landarbeiter zusammenströmen und wo sie ihren dauernden Wohnsitz aufschlagen müssen, um das ganze Jahr über Beschäftigung zu finden, hat der Nübenbauer den im Sommer abkömm¬ lichen Industriearbeiter, der Arbeiter aber beides, die Sommer- wie die Winter- arbeit zur Hand, so ist beiden Teilen geholfen und die Arbeiterschaft wieder seßhaft geworden. Dann säßen auch die Erzeuger und die Verbraucher der Lebens¬ mittel und Rohstoffe unmittelbar neben einander, und so würde die Getreide¬ börse samt ihren viel gescholtenen Sünden überflüssig. Wer diesen Plan als utopisch zurückweist, der thäte besser, das unnütze Gejammer über die Sachsen- güngerei und die Desorganisation der Landgemeinden und Gutsbezirke zu lassen und sich auf einen Zustand einzurichten, der Deutschland allmählich in ein großes Zigeunerlager zu verwandeln verspricht. Denn einen andern Ausweg vermögen wir nicht zu sehen; die Chemiker und Physiologen müßten denn ein Verfahren erfinden, die Rübenarbeiter im Herbste einzupökeln und im Früh¬ jahr wieder lebendig zu machen. Wenden wir uus dann zu der besondern ostelbischen Abteilung der Frage, so liegt die Schwierigkeit, sie zu behandeln, in der Unaufrichtigkeit unsrer Zeit. Nachdem mit Luther und Rabelais die Aufrichtigkeit") der alten und mittlern Zeiten zu Grabe getragen war, hat die europäische Diplomatie die Sprache zu einer Kunst, die Gedanken zu verhüllen, ausgebildet, und die politischen Par¬ teien und Interessenvertretungen unsrer Tage kennen gar keinen andern Gebrauch der Sprache mehr; wer in ihren Kreisen jedes Ding mit seinem richtigen Namen nennen wollte, würde der Acht und Aberacht verfallen. Das ist sehr bequem für die Interessenten, aber es ist sehr schlimm für das Vaterland, denn um für jeden Fall die richtigen Maßregeln treffen zu können, müssen die Behörden und Volksvertretungen den Fall verstehen, und dazu gehört vor allem, daß er wahrheitsgetreu vorgelegt werde. Die richtige Fragestellung zeigt ja immer den Weg zur Lösung, wie jede Rechenaufgabe, sobald man den rich¬ tigen Ansatz gefunden hat, schon so gut wie gelöst ist. Mit Beziehung auf den vorliegenden Gegenstand haben wir nun schon früher einmal die Dinge beim richtigen Namen genannt. Man hat es uns sehr übel genommen, aber widerlegt sind wir nicht worden und können wir nicht werden. Wir wollen auch heute nicht um den heißen Brei herumgehen, sondern den damals anf- Sehr bezeichnend Pflegen wir sie Naivität »der Kindlichkeit zu nennen, womit gesagt ist, daß heutzutage der gebildete Erwachsene notwendig ein Lügner und Heuchler sein muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/412>, abgerufen am 22.07.2024.