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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gründetttschlcm!?

und Verbrechen verantwortlich machen will, falsch sind, daß er die soziale
Frage mißversteht und nicht zu ihrer friedlichen Lösung, sondern zur Ver¬
schärfung der Gegensätze beiträgt. Indem Kirchner, nachdem er in einer all¬
gemeinen Übersicht "die Vertreter Gründeutschlands" gemustert und vom
"Wesen und Ursprung des Naturalismus" gehandelt hat, in den .Kapiteln
"Der Naturalismus und die Liebe" und "Die soziale Dichtung und der Natu¬
ralismus" am eingehendste" die hierher gehörigen Bücher der Neuesten be¬
spricht, muß ganz unwillkürlich seine ausgesprvchne und unausgesprochne Ver¬
urteilung viel schärfer ausfallen, als ihm selbst von vornherein klar war. Ja
in der Zusammendrnnguug so vieler Bestrebungen und Versuche, die doch sehr
verschiedne Anfänge und Ziele zeigen, könnte sogar ein gewisses Unrecht ge¬
funden werden. Aber es ist ein Unrecht, dem schwer auszuweichen ist, weil
uns die angebliche Gemeinsamkeit all dieses modernen Geistes immer wieder
aufgetrumpft wird.

Wenn Kirchner am Schluß seines Buches "die Prinzipien des Natura¬
lismus" noch einmal zu verdeutlichen sucht und daran "Thesen" anknüpft, so
vermissen wir auch hier wieder die eine entscheidende These: der Naturalismus,
so wie er sich in seinen bisherigen Schöpfungen und Anläufen darstellt, ist
Unnatur, seine Wirklichkeitsschilderung besteht bestenfalls ans arten Eiuzel-
stndien, die zusammengeschoben und zusammengeflickt, kein Bild ergeben, seine
Symbolik muß wertlos sein, weil sie nicht aus einer, festen und reifen Welt-
und Lebensanschauung, sondern ans einer nach fortwährendem Wechsel
des Neuen und Unerhörten, nach Verblüffung und prickelnden Nervenreiz
haschenden Willkür hervorgeht. Eine "Schule," eine Theorie, die angeblich
alles Konventionelle bekämpft und geringschätzt, die dabei aber in ihrer Elends-
schildernng und ihrer Darstellung geschlechtlicher Probleme bis zum Einfältigen
konventionell ist, hat keine Zukunft, kann keine haben. Gewiß ist es leichter,
in den wiederkehrenden Rouladen und Trillern des bei vauw das Konventionelle
zu erkennen, als in einem fortgesetzten unterschiedslosen Gebrüll, aber unmöglich
ist auch das nicht, und die Leute fangen auch schon an, gegen die angeblichen
Naturlaute sehr mißtrauisch zu werden.

Daraus folgt nun keineswegs, daß nicht einzelnen Talenten, die in de
Getümmel des ersten Anlaufs mit fortgerissen worden sind, eine sehr sel bstcindig
und tüchtige Entwicklung beschieden sein konnte. Sehr richtig sagt Friedrich
Lange in seiner ernsten und inhaltreichen Schrift "Reines Deutschtum": "Man
darf nicht vergessen, daß dieses jüngste Künstler- und Dichtergeschlecht sich
wohl oder übel der Zustimmung eines großen Publikums hat entwöhne"
müssen und nun gewissermaßen ohne Öffentlichkeit eine Welt für sich spielt,
in der man einfache Gesundheit und ernste Kraft des Empfindens als eine
Alltäglichkeit von gestern betrachtet, immer die Nase in? Winde hält nach dem
Neuen und Neuesten und darum jede noch so krankhafte Albernheit für einen


Gründetttschlcm!?

und Verbrechen verantwortlich machen will, falsch sind, daß er die soziale
Frage mißversteht und nicht zu ihrer friedlichen Lösung, sondern zur Ver¬
schärfung der Gegensätze beiträgt. Indem Kirchner, nachdem er in einer all¬
gemeinen Übersicht „die Vertreter Gründeutschlands" gemustert und vom
„Wesen und Ursprung des Naturalismus" gehandelt hat, in den .Kapiteln
„Der Naturalismus und die Liebe" und „Die soziale Dichtung und der Natu¬
ralismus" am eingehendste» die hierher gehörigen Bücher der Neuesten be¬
spricht, muß ganz unwillkürlich seine ausgesprvchne und unausgesprochne Ver¬
urteilung viel schärfer ausfallen, als ihm selbst von vornherein klar war. Ja
in der Zusammendrnnguug so vieler Bestrebungen und Versuche, die doch sehr
verschiedne Anfänge und Ziele zeigen, könnte sogar ein gewisses Unrecht ge¬
funden werden. Aber es ist ein Unrecht, dem schwer auszuweichen ist, weil
uns die angebliche Gemeinsamkeit all dieses modernen Geistes immer wieder
aufgetrumpft wird.

Wenn Kirchner am Schluß seines Buches „die Prinzipien des Natura¬
lismus" noch einmal zu verdeutlichen sucht und daran „Thesen" anknüpft, so
vermissen wir auch hier wieder die eine entscheidende These: der Naturalismus,
so wie er sich in seinen bisherigen Schöpfungen und Anläufen darstellt, ist
Unnatur, seine Wirklichkeitsschilderung besteht bestenfalls ans arten Eiuzel-
stndien, die zusammengeschoben und zusammengeflickt, kein Bild ergeben, seine
Symbolik muß wertlos sein, weil sie nicht aus einer, festen und reifen Welt-
und Lebensanschauung, sondern ans einer nach fortwährendem Wechsel
des Neuen und Unerhörten, nach Verblüffung und prickelnden Nervenreiz
haschenden Willkür hervorgeht. Eine „Schule," eine Theorie, die angeblich
alles Konventionelle bekämpft und geringschätzt, die dabei aber in ihrer Elends-
schildernng und ihrer Darstellung geschlechtlicher Probleme bis zum Einfältigen
konventionell ist, hat keine Zukunft, kann keine haben. Gewiß ist es leichter,
in den wiederkehrenden Rouladen und Trillern des bei vauw das Konventionelle
zu erkennen, als in einem fortgesetzten unterschiedslosen Gebrüll, aber unmöglich
ist auch das nicht, und die Leute fangen auch schon an, gegen die angeblichen
Naturlaute sehr mißtrauisch zu werden.

Daraus folgt nun keineswegs, daß nicht einzelnen Talenten, die in de
Getümmel des ersten Anlaufs mit fortgerissen worden sind, eine sehr sel bstcindig
und tüchtige Entwicklung beschieden sein konnte. Sehr richtig sagt Friedrich
Lange in seiner ernsten und inhaltreichen Schrift „Reines Deutschtum": „Man
darf nicht vergessen, daß dieses jüngste Künstler- und Dichtergeschlecht sich
wohl oder übel der Zustimmung eines großen Publikums hat entwöhne»
müssen und nun gewissermaßen ohne Öffentlichkeit eine Welt für sich spielt,
in der man einfache Gesundheit und ernste Kraft des Empfindens als eine
Alltäglichkeit von gestern betrachtet, immer die Nase in? Winde hält nach dem
Neuen und Neuesten und darum jede noch so krankhafte Albernheit für einen


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[0039] Gründetttschlcm!? und Verbrechen verantwortlich machen will, falsch sind, daß er die soziale Frage mißversteht und nicht zu ihrer friedlichen Lösung, sondern zur Ver¬ schärfung der Gegensätze beiträgt. Indem Kirchner, nachdem er in einer all¬ gemeinen Übersicht „die Vertreter Gründeutschlands" gemustert und vom „Wesen und Ursprung des Naturalismus" gehandelt hat, in den .Kapiteln „Der Naturalismus und die Liebe" und „Die soziale Dichtung und der Natu¬ ralismus" am eingehendste» die hierher gehörigen Bücher der Neuesten be¬ spricht, muß ganz unwillkürlich seine ausgesprvchne und unausgesprochne Ver¬ urteilung viel schärfer ausfallen, als ihm selbst von vornherein klar war. Ja in der Zusammendrnnguug so vieler Bestrebungen und Versuche, die doch sehr verschiedne Anfänge und Ziele zeigen, könnte sogar ein gewisses Unrecht ge¬ funden werden. Aber es ist ein Unrecht, dem schwer auszuweichen ist, weil uns die angebliche Gemeinsamkeit all dieses modernen Geistes immer wieder aufgetrumpft wird. Wenn Kirchner am Schluß seines Buches „die Prinzipien des Natura¬ lismus" noch einmal zu verdeutlichen sucht und daran „Thesen" anknüpft, so vermissen wir auch hier wieder die eine entscheidende These: der Naturalismus, so wie er sich in seinen bisherigen Schöpfungen und Anläufen darstellt, ist Unnatur, seine Wirklichkeitsschilderung besteht bestenfalls ans arten Eiuzel- stndien, die zusammengeschoben und zusammengeflickt, kein Bild ergeben, seine Symbolik muß wertlos sein, weil sie nicht aus einer, festen und reifen Welt- und Lebensanschauung, sondern ans einer nach fortwährendem Wechsel des Neuen und Unerhörten, nach Verblüffung und prickelnden Nervenreiz haschenden Willkür hervorgeht. Eine „Schule," eine Theorie, die angeblich alles Konventionelle bekämpft und geringschätzt, die dabei aber in ihrer Elends- schildernng und ihrer Darstellung geschlechtlicher Probleme bis zum Einfältigen konventionell ist, hat keine Zukunft, kann keine haben. Gewiß ist es leichter, in den wiederkehrenden Rouladen und Trillern des bei vauw das Konventionelle zu erkennen, als in einem fortgesetzten unterschiedslosen Gebrüll, aber unmöglich ist auch das nicht, und die Leute fangen auch schon an, gegen die angeblichen Naturlaute sehr mißtrauisch zu werden. Daraus folgt nun keineswegs, daß nicht einzelnen Talenten, die in de Getümmel des ersten Anlaufs mit fortgerissen worden sind, eine sehr sel bstcindig und tüchtige Entwicklung beschieden sein konnte. Sehr richtig sagt Friedrich Lange in seiner ernsten und inhaltreichen Schrift „Reines Deutschtum": „Man darf nicht vergessen, daß dieses jüngste Künstler- und Dichtergeschlecht sich wohl oder übel der Zustimmung eines großen Publikums hat entwöhne» müssen und nun gewissermaßen ohne Öffentlichkeit eine Welt für sich spielt, in der man einfache Gesundheit und ernste Kraft des Empfindens als eine Alltäglichkeit von gestern betrachtet, immer die Nase in? Winde hält nach dem Neuen und Neuesten und darum jede noch so krankhafte Albernheit für einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/39>, abgerufen am 04.07.2024.