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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Edmund Dorer

Diese Lesefrüchte zeugen von der geistigen Regsamkeit des Schriftstellers und
dehnen sich mit den Aufsätzen "Carlo Gozzi und sein Theater," "Hans Sachs
Gedanken über Krankheit und Gesundheit, Alter und Jugend," "Einige Wider¬
sacher der Ärzte," "Napoleon I. und seine Ärzte" weit über das Gebiet der
spanischen Litteratur aus.

Dorers eigne poetische Bestrebungen aber, von denen die im ersten Bande
der nachgelassenen Schriften mitgeteilten lyrischen und humoristischen Gedichte
und die Fastnachtsspiele Zeugnis ablegen sollen, standen unter dem Banne der
wunderlichen Überlieferung, die einen so großen Teil unsrer Dichter ihr Leben
hindurch zur Unselbständigkeit verurteilt. Wir teilen die Meinung der "Modernen"
nicht, daß jede Empfindung, Stimmung oder Situation schon dadurch "akade¬
misch" werde, daß sie einer Empfindung, Stinunuug oder Situation gleicht,
die bei Dichtern vor 1870 vorkommt. Und wir zweifeln stark, daß eine Reihe
von Jnterjektionen und Gedankenstrichen einen neuen Stil der Lyrik ergeben
werden. Aber gegen die Erkenntnis, daß unzählige Bände formell tadelloser
lyrischer Gedichte viel zu wenig von dem eignen Leben ihrer Dichter getränkt,
viel zu eng in die Schranken überlieferter Bilder, Tropen und Rhythmen ge¬
preßt sind, daß der Wunsch nach Einklang mit von Jugend auf bewunderten
Gedichten den eignen Ton in der Seele vieler gar nicht erwachen läßt, kann
sich doch nur die Befangenheit sträuben. Daß sich selbst wirkliche Talente be¬
gnügen, das innere Dasein vor ihnen Dagewesener nachzuempfinden und nach¬
zuleben, anstatt ihr eignes inneres Dasein ans Licht zu bringen, daß sie mit
schon gefärbten Brillen, anstatt mit ihren eignen Augen in die Wirklichkeit
schauen, daß sie nicht den Mut haben, sie selbst zu sein, muß zugegeben werden,
ohne daß man darum die klassischen Dichter für überlebt hält und von ihrem
Joch fabelt. Mit der Bildung vieler unsrer Dichter, die uicht gerade eine
starke Phantasie und ein trotziges Naturell haben, ist die Gefahr verknüpft,
überhaupt abhängig von Vorbildern zu bleiben und über alles, was ihr un¬
zweifelhaftes Eigentum ist, zu schweigen. Die gelehrten Dichter unsrer Tage
sind eben das gerade Gegenstück zu ihren Genossen im siebzehnten Jahr¬
hundert. Damals ward "ein andres gesagt als gemeint," höchst ehrenfeste,
in strengster bürgerlicher Sitte, ja in langweiligster Einförmigkeit lebende
Syndici und Senatoren alter Städte, Professoren hochfnrstlicher Gymnasien
und Säulen weltberühmter Universitäten schickten ihre Phantasie und Reim¬
kunst in die üppigsten Venusberge, in paphische Haine und in die gewaltigsten
Kämpfe "blutiger doch mutiger" Völker in Hinterasien. Heute ist die Welt
weit, das Leben wechselvoll geworden, auch der Gemessenste und Ruhigste,
wenn er ein Dichter ist, hat schon in der Jugend meist mehr erfahren und
gesehen, als vor zweihundert Jahren in einem ganzen Leben zu erfahren und
zu sehen war. Aber als ob ers müßte, birgt er das Beste und Meiste
davon im Tiefsten seines Busens und mißt den Rest um dem, was er von


Edmund Dorer

Diese Lesefrüchte zeugen von der geistigen Regsamkeit des Schriftstellers und
dehnen sich mit den Aufsätzen „Carlo Gozzi und sein Theater," „Hans Sachs
Gedanken über Krankheit und Gesundheit, Alter und Jugend," „Einige Wider¬
sacher der Ärzte," „Napoleon I. und seine Ärzte" weit über das Gebiet der
spanischen Litteratur aus.

Dorers eigne poetische Bestrebungen aber, von denen die im ersten Bande
der nachgelassenen Schriften mitgeteilten lyrischen und humoristischen Gedichte
und die Fastnachtsspiele Zeugnis ablegen sollen, standen unter dem Banne der
wunderlichen Überlieferung, die einen so großen Teil unsrer Dichter ihr Leben
hindurch zur Unselbständigkeit verurteilt. Wir teilen die Meinung der „Modernen"
nicht, daß jede Empfindung, Stimmung oder Situation schon dadurch „akade¬
misch" werde, daß sie einer Empfindung, Stinunuug oder Situation gleicht,
die bei Dichtern vor 1870 vorkommt. Und wir zweifeln stark, daß eine Reihe
von Jnterjektionen und Gedankenstrichen einen neuen Stil der Lyrik ergeben
werden. Aber gegen die Erkenntnis, daß unzählige Bände formell tadelloser
lyrischer Gedichte viel zu wenig von dem eignen Leben ihrer Dichter getränkt,
viel zu eng in die Schranken überlieferter Bilder, Tropen und Rhythmen ge¬
preßt sind, daß der Wunsch nach Einklang mit von Jugend auf bewunderten
Gedichten den eignen Ton in der Seele vieler gar nicht erwachen läßt, kann
sich doch nur die Befangenheit sträuben. Daß sich selbst wirkliche Talente be¬
gnügen, das innere Dasein vor ihnen Dagewesener nachzuempfinden und nach¬
zuleben, anstatt ihr eignes inneres Dasein ans Licht zu bringen, daß sie mit
schon gefärbten Brillen, anstatt mit ihren eignen Augen in die Wirklichkeit
schauen, daß sie nicht den Mut haben, sie selbst zu sein, muß zugegeben werden,
ohne daß man darum die klassischen Dichter für überlebt hält und von ihrem
Joch fabelt. Mit der Bildung vieler unsrer Dichter, die uicht gerade eine
starke Phantasie und ein trotziges Naturell haben, ist die Gefahr verknüpft,
überhaupt abhängig von Vorbildern zu bleiben und über alles, was ihr un¬
zweifelhaftes Eigentum ist, zu schweigen. Die gelehrten Dichter unsrer Tage
sind eben das gerade Gegenstück zu ihren Genossen im siebzehnten Jahr¬
hundert. Damals ward „ein andres gesagt als gemeint," höchst ehrenfeste,
in strengster bürgerlicher Sitte, ja in langweiligster Einförmigkeit lebende
Syndici und Senatoren alter Städte, Professoren hochfnrstlicher Gymnasien
und Säulen weltberühmter Universitäten schickten ihre Phantasie und Reim¬
kunst in die üppigsten Venusberge, in paphische Haine und in die gewaltigsten
Kämpfe „blutiger doch mutiger" Völker in Hinterasien. Heute ist die Welt
weit, das Leben wechselvoll geworden, auch der Gemessenste und Ruhigste,
wenn er ein Dichter ist, hat schon in der Jugend meist mehr erfahren und
gesehen, als vor zweihundert Jahren in einem ganzen Leben zu erfahren und
zu sehen war. Aber als ob ers müßte, birgt er das Beste und Meiste
davon im Tiefsten seines Busens und mißt den Rest um dem, was er von


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[0379] Edmund Dorer Diese Lesefrüchte zeugen von der geistigen Regsamkeit des Schriftstellers und dehnen sich mit den Aufsätzen „Carlo Gozzi und sein Theater," „Hans Sachs Gedanken über Krankheit und Gesundheit, Alter und Jugend," „Einige Wider¬ sacher der Ärzte," „Napoleon I. und seine Ärzte" weit über das Gebiet der spanischen Litteratur aus. Dorers eigne poetische Bestrebungen aber, von denen die im ersten Bande der nachgelassenen Schriften mitgeteilten lyrischen und humoristischen Gedichte und die Fastnachtsspiele Zeugnis ablegen sollen, standen unter dem Banne der wunderlichen Überlieferung, die einen so großen Teil unsrer Dichter ihr Leben hindurch zur Unselbständigkeit verurteilt. Wir teilen die Meinung der „Modernen" nicht, daß jede Empfindung, Stimmung oder Situation schon dadurch „akade¬ misch" werde, daß sie einer Empfindung, Stinunuug oder Situation gleicht, die bei Dichtern vor 1870 vorkommt. Und wir zweifeln stark, daß eine Reihe von Jnterjektionen und Gedankenstrichen einen neuen Stil der Lyrik ergeben werden. Aber gegen die Erkenntnis, daß unzählige Bände formell tadelloser lyrischer Gedichte viel zu wenig von dem eignen Leben ihrer Dichter getränkt, viel zu eng in die Schranken überlieferter Bilder, Tropen und Rhythmen ge¬ preßt sind, daß der Wunsch nach Einklang mit von Jugend auf bewunderten Gedichten den eignen Ton in der Seele vieler gar nicht erwachen läßt, kann sich doch nur die Befangenheit sträuben. Daß sich selbst wirkliche Talente be¬ gnügen, das innere Dasein vor ihnen Dagewesener nachzuempfinden und nach¬ zuleben, anstatt ihr eignes inneres Dasein ans Licht zu bringen, daß sie mit schon gefärbten Brillen, anstatt mit ihren eignen Augen in die Wirklichkeit schauen, daß sie nicht den Mut haben, sie selbst zu sein, muß zugegeben werden, ohne daß man darum die klassischen Dichter für überlebt hält und von ihrem Joch fabelt. Mit der Bildung vieler unsrer Dichter, die uicht gerade eine starke Phantasie und ein trotziges Naturell haben, ist die Gefahr verknüpft, überhaupt abhängig von Vorbildern zu bleiben und über alles, was ihr un¬ zweifelhaftes Eigentum ist, zu schweigen. Die gelehrten Dichter unsrer Tage sind eben das gerade Gegenstück zu ihren Genossen im siebzehnten Jahr¬ hundert. Damals ward „ein andres gesagt als gemeint," höchst ehrenfeste, in strengster bürgerlicher Sitte, ja in langweiligster Einförmigkeit lebende Syndici und Senatoren alter Städte, Professoren hochfnrstlicher Gymnasien und Säulen weltberühmter Universitäten schickten ihre Phantasie und Reim¬ kunst in die üppigsten Venusberge, in paphische Haine und in die gewaltigsten Kämpfe „blutiger doch mutiger" Völker in Hinterasien. Heute ist die Welt weit, das Leben wechselvoll geworden, auch der Gemessenste und Ruhigste, wenn er ein Dichter ist, hat schon in der Jugend meist mehr erfahren und gesehen, als vor zweihundert Jahren in einem ganzen Leben zu erfahren und zu sehen war. Aber als ob ers müßte, birgt er das Beste und Meiste davon im Tiefsten seines Busens und mißt den Rest um dem, was er von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/379>, abgerufen am 04.07.2024.