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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Landarbeiterfrage

man es nach Darlegung dieser Verhältnisse noch zu einer besondern Unter¬
suchung der Ursachen, die den Osten der preußischen Monarchie zu entvölkern
drohen, einladen wollte. Ist doch kein Tier so stumpfsinnig, daß es nicht
bei Futtermangel einen bessern Futterplatz suchen sollte. Von Rücksichten
wirtschaftlicher, sittlicher und gemütlicher Art aber, die den Arbeiter an seine
Heimat fesseln könnten, kann dort keine Rede mehr sein, wo an die Stelle
patriarchalischer Pietätsverhältnisse das reine, nackte Geldinteresse getreten ist,*)
wo der Arbeiter keinen festen eignen Herd zu gründen vermag, und wo bei
der Geringfügigkeit des Einkommens weder ein geordnetes Familienleben, noch
eine behagliche Häuslichkeit möglich ist. Zwar äußert or. Weber (S. 70 des
Berichts über die Generalversammlung) über die Snchsengängeren "Die Leute
gehen den Sommer über fort, sie kommen in: Herbste wieder zurück und bringen
soviel bares Geld mit, daß sie einige Monate "Ferien" machen können, und
sie haben dann die Illusion -- es ist lediglich eine Illusion --, daß sie "mehr"
verdient hätten, besser gestellt gewesen seien in der Fremde als zu Hause. Sie
bedenken nicht, daß sie das Mehr an baren Mitteln erspart haben allein aus
Kosten ihrer Lebenshaltung, indem sie sich in der Fremde herdenweise in einem
Kasernement und bei einer Ernährungsweise unterbringen ließen, wie sie sie
sich in ihrer eignen Familie und zu Hause niemals bieten lassen würden."
Doch dabei kann er höchstens einzelne Gegenden des Nordens vor Augen
gehabt haben, vielleicht den Regierungsbezirk Kostin, wo es ja vorkommen
mag, daß es der Jnstmannssohn zu Hause besser haben könnte als in der
Fremde. Aber bei der Mehrzahl, namentlich bei den Oberschlesiern, ist die
Verbesserung sicherlich keine Illusion. Die Arbeiterkaserue im Sachsenlande ist
eine bessere Wohnung, als das elende Loch, worin er zu Hause schläft, und
die Kost ist dort ganz bedeutend besser. Hauptsächlich dieser kräftigen Kost ist
es zuzuschreiben, daß dieselben Leute, die von den oberschlesischen Gutsbesitzern
faul gescholten werden, in Sachsen, eines schon in Niederschlesien ob ihrer tüch¬
tigen Leistungen gelobt werden. Wenn nun ein Bursche den Sommer über
freie Schlafstätte und solche Kost haben und dann noch zwei- bis dreihundert
Mark, das ist die Hälfte bis drei Viertel eines ganzen oberschlesischen Familien¬
einkommens, nach Hause bringen und damit den Winter über nach seinen Be¬
griffen ein Leben wie im Paradiese führen kann, ist das etwa keine wirkliche
Verbesserung? Also bei dein winzigen Gemütsinhalt, den das Leben in der
Heimat dem ländlichen Arbeiter des Ostens bietet, und bei der heutigen Leich-



*) Auch die herrschaftlichen Beamten sind unstet geworden. Früher saß ein Wirt¬
schaftsinspektor, ein Schloßgärtner, wo er einmal saß, zeitlebens, und einer seiner Söhne folgte
ihm. Heutzutage befolgen die Herrschaften und die "Generaldirektoren," um weder rechtliche
noch moralische Verpflichtungen entstehen zu lassen, die Praxis, daß sie den Mann gar nicht
recht warm werden lassen, ihn jedenfalls spätestens dann vor die Thüre setzen, wenn er alt
zu werden anfängt. Wir kennen eine Menge einzelne Fälle.
Die Landarbeiterfrage

man es nach Darlegung dieser Verhältnisse noch zu einer besondern Unter¬
suchung der Ursachen, die den Osten der preußischen Monarchie zu entvölkern
drohen, einladen wollte. Ist doch kein Tier so stumpfsinnig, daß es nicht
bei Futtermangel einen bessern Futterplatz suchen sollte. Von Rücksichten
wirtschaftlicher, sittlicher und gemütlicher Art aber, die den Arbeiter an seine
Heimat fesseln könnten, kann dort keine Rede mehr sein, wo an die Stelle
patriarchalischer Pietätsverhältnisse das reine, nackte Geldinteresse getreten ist,*)
wo der Arbeiter keinen festen eignen Herd zu gründen vermag, und wo bei
der Geringfügigkeit des Einkommens weder ein geordnetes Familienleben, noch
eine behagliche Häuslichkeit möglich ist. Zwar äußert or. Weber (S. 70 des
Berichts über die Generalversammlung) über die Snchsengängeren „Die Leute
gehen den Sommer über fort, sie kommen in: Herbste wieder zurück und bringen
soviel bares Geld mit, daß sie einige Monate »Ferien« machen können, und
sie haben dann die Illusion — es ist lediglich eine Illusion —, daß sie »mehr«
verdient hätten, besser gestellt gewesen seien in der Fremde als zu Hause. Sie
bedenken nicht, daß sie das Mehr an baren Mitteln erspart haben allein aus
Kosten ihrer Lebenshaltung, indem sie sich in der Fremde herdenweise in einem
Kasernement und bei einer Ernährungsweise unterbringen ließen, wie sie sie
sich in ihrer eignen Familie und zu Hause niemals bieten lassen würden."
Doch dabei kann er höchstens einzelne Gegenden des Nordens vor Augen
gehabt haben, vielleicht den Regierungsbezirk Kostin, wo es ja vorkommen
mag, daß es der Jnstmannssohn zu Hause besser haben könnte als in der
Fremde. Aber bei der Mehrzahl, namentlich bei den Oberschlesiern, ist die
Verbesserung sicherlich keine Illusion. Die Arbeiterkaserue im Sachsenlande ist
eine bessere Wohnung, als das elende Loch, worin er zu Hause schläft, und
die Kost ist dort ganz bedeutend besser. Hauptsächlich dieser kräftigen Kost ist
es zuzuschreiben, daß dieselben Leute, die von den oberschlesischen Gutsbesitzern
faul gescholten werden, in Sachsen, eines schon in Niederschlesien ob ihrer tüch¬
tigen Leistungen gelobt werden. Wenn nun ein Bursche den Sommer über
freie Schlafstätte und solche Kost haben und dann noch zwei- bis dreihundert
Mark, das ist die Hälfte bis drei Viertel eines ganzen oberschlesischen Familien¬
einkommens, nach Hause bringen und damit den Winter über nach seinen Be¬
griffen ein Leben wie im Paradiese führen kann, ist das etwa keine wirkliche
Verbesserung? Also bei dein winzigen Gemütsinhalt, den das Leben in der
Heimat dem ländlichen Arbeiter des Ostens bietet, und bei der heutigen Leich-



*) Auch die herrschaftlichen Beamten sind unstet geworden. Früher saß ein Wirt¬
schaftsinspektor, ein Schloßgärtner, wo er einmal saß, zeitlebens, und einer seiner Söhne folgte
ihm. Heutzutage befolgen die Herrschaften und die „Generaldirektoren," um weder rechtliche
noch moralische Verpflichtungen entstehen zu lassen, die Praxis, daß sie den Mann gar nicht
recht warm werden lassen, ihn jedenfalls spätestens dann vor die Thüre setzen, wenn er alt
zu werden anfängt. Wir kennen eine Menge einzelne Fälle.
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[0365] Die Landarbeiterfrage man es nach Darlegung dieser Verhältnisse noch zu einer besondern Unter¬ suchung der Ursachen, die den Osten der preußischen Monarchie zu entvölkern drohen, einladen wollte. Ist doch kein Tier so stumpfsinnig, daß es nicht bei Futtermangel einen bessern Futterplatz suchen sollte. Von Rücksichten wirtschaftlicher, sittlicher und gemütlicher Art aber, die den Arbeiter an seine Heimat fesseln könnten, kann dort keine Rede mehr sein, wo an die Stelle patriarchalischer Pietätsverhältnisse das reine, nackte Geldinteresse getreten ist,*) wo der Arbeiter keinen festen eignen Herd zu gründen vermag, und wo bei der Geringfügigkeit des Einkommens weder ein geordnetes Familienleben, noch eine behagliche Häuslichkeit möglich ist. Zwar äußert or. Weber (S. 70 des Berichts über die Generalversammlung) über die Snchsengängeren „Die Leute gehen den Sommer über fort, sie kommen in: Herbste wieder zurück und bringen soviel bares Geld mit, daß sie einige Monate »Ferien« machen können, und sie haben dann die Illusion — es ist lediglich eine Illusion —, daß sie »mehr« verdient hätten, besser gestellt gewesen seien in der Fremde als zu Hause. Sie bedenken nicht, daß sie das Mehr an baren Mitteln erspart haben allein aus Kosten ihrer Lebenshaltung, indem sie sich in der Fremde herdenweise in einem Kasernement und bei einer Ernährungsweise unterbringen ließen, wie sie sie sich in ihrer eignen Familie und zu Hause niemals bieten lassen würden." Doch dabei kann er höchstens einzelne Gegenden des Nordens vor Augen gehabt haben, vielleicht den Regierungsbezirk Kostin, wo es ja vorkommen mag, daß es der Jnstmannssohn zu Hause besser haben könnte als in der Fremde. Aber bei der Mehrzahl, namentlich bei den Oberschlesiern, ist die Verbesserung sicherlich keine Illusion. Die Arbeiterkaserue im Sachsenlande ist eine bessere Wohnung, als das elende Loch, worin er zu Hause schläft, und die Kost ist dort ganz bedeutend besser. Hauptsächlich dieser kräftigen Kost ist es zuzuschreiben, daß dieselben Leute, die von den oberschlesischen Gutsbesitzern faul gescholten werden, in Sachsen, eines schon in Niederschlesien ob ihrer tüch¬ tigen Leistungen gelobt werden. Wenn nun ein Bursche den Sommer über freie Schlafstätte und solche Kost haben und dann noch zwei- bis dreihundert Mark, das ist die Hälfte bis drei Viertel eines ganzen oberschlesischen Familien¬ einkommens, nach Hause bringen und damit den Winter über nach seinen Be¬ griffen ein Leben wie im Paradiese führen kann, ist das etwa keine wirkliche Verbesserung? Also bei dein winzigen Gemütsinhalt, den das Leben in der Heimat dem ländlichen Arbeiter des Ostens bietet, und bei der heutigen Leich- *) Auch die herrschaftlichen Beamten sind unstet geworden. Früher saß ein Wirt¬ schaftsinspektor, ein Schloßgärtner, wo er einmal saß, zeitlebens, und einer seiner Söhne folgte ihm. Heutzutage befolgen die Herrschaften und die „Generaldirektoren," um weder rechtliche noch moralische Verpflichtungen entstehen zu lassen, die Praxis, daß sie den Mann gar nicht recht warm werden lassen, ihn jedenfalls spätestens dann vor die Thüre setzen, wenn er alt zu werden anfängt. Wir kennen eine Menge einzelne Fälle.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/365>, abgerufen am 25.08.2024.