Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

den Schlesien bildet, waltet ein Unterschied ob, der nicht übersehen werden
darf. Oberschlesien ist der Landstrich, wo die nicht regulirten bäuerlichen
Stellen, meist sogenannte Robotgärtnerstellen (in Mittel- und Niederschlesien
hießen ihre Inhaber Dreschgürtner), allesamt von den Gutsherren einfach ein¬
gezogen wurden. Hier wurde also ganz plötzlich ein zahlreiches Arbeiterpro¬
letariat geschaffen, das den Tagelohn bis auf den heutigen Tag niedrig ge¬
halten hat. Heute hat nicht mehr, wie 1873, der Regierungsbezirk Gumbinnen,
sondern der Regierungsbezirk Oppeln die niedrigsten Tagelohne; dort schwanken
sie zwischen 1,20 und 1,80 Mark Sommerlohn für Männer, hier betragen sie
durchweg eine Mark, nur im Jnduftriebezirk treibt sie die Konkurrenz höher.
Ob auch die Frau mitarbeitet, deren Tagelohn im Winter fünfzig, im Sommer
sechzig Pfennige beträgt, so steigt doch das Familieneinkommen, wie 1873, so
auch heute noch nur wenig über vierhundert Mark. (Die von Weber gesam¬
melten Angaben über die oberschlesischen Löhne stimmen genan mit dem überei",
was wir selbst durch persönliche Erkundigungen erfahren haben.) Dabei ist
zu bemerken, daß der "freie" Tagelöhner außer dem uralten Geldlohn nichts,
rein nichts erhält, weder einen Bissen Brot zum Frühstück oder zur Vesper,
"och einen Schnaps, noch ein Glas Milch oder Buttermilch, wenigstens beim
Rittergutsbesitzer; der Bauer pflegt einen Schnaps zu spenden, die Bäuerin
auch manchmal ein Butterbrot. Die Gesamtlage des oberschlesischen nicht bloß,
sondern überhaupt des schlesischen Landarbeiterstandes ist aber besonders des¬
wegen schlechter als die des ostpreußischen, weil er vorzugsweise aus besitz¬
losen Tagelöhnern besteht, während diese, von den Wanderarbeitern abgesehen,
im Norden, wo das Jnstmnnnverhältnis vorherrscht, die Ausnahme bilden.
Im Norden liegt die Sache so, daß sich die Lage der Leute durch Vermin¬
derung der Jnstmannstellen und durch Verwandlung der Nctturallöhne zugleich
verschlechtert und verbessert. Verschlechtert, indem die Eristenzsicherheit schwindet,
ruheloses Wandern an die Stelle der Seßhaftigkeit tritt und die Ernährung
schlechter wird,^) verbessert, indem das Abwandern die zuverlässigen Arbeiter
selten macht, den Geldlohn in die Höhe treibt und eine bessere Behandlung
erzwingt.

Es hieße dem Publikum den gesunden Menschenverstand absprechen, wenn



") Die Milch der Deputatkuh fällt weg, statt Milch und Buttermilch wird Schnaps
getrunken, und an die Stelle des Mehls und der Hülsenfrüchte tritt die Kartoffel. Der So-
zialist Mehring Schreitet in der Neuen Zeit Rudolf Meyers Behauptung, daß sich die Ver¬
schlechterung der Ernährung schon in der leiblichen Entartung bekunde, und daß es die Leute
vor neunzig Jahren in materieller Beziehung besser gehabt hatten, allein auch v. d. Goltz und
Weber heben die Verschlechterung der Ernährung hervor, die doch, wenn sie anhält, nicht ohne
Einfluß aus die Körperbeschaffenheit bleiben kann; allerdings vergleichen sie den heutigen Zu¬
stand nicht mit dem in der Zeit der Leibeigenschaft, sondern gehen nur aus die unmittelbare
Vergangenheit zurück.

den Schlesien bildet, waltet ein Unterschied ob, der nicht übersehen werden
darf. Oberschlesien ist der Landstrich, wo die nicht regulirten bäuerlichen
Stellen, meist sogenannte Robotgärtnerstellen (in Mittel- und Niederschlesien
hießen ihre Inhaber Dreschgürtner), allesamt von den Gutsherren einfach ein¬
gezogen wurden. Hier wurde also ganz plötzlich ein zahlreiches Arbeiterpro¬
letariat geschaffen, das den Tagelohn bis auf den heutigen Tag niedrig ge¬
halten hat. Heute hat nicht mehr, wie 1873, der Regierungsbezirk Gumbinnen,
sondern der Regierungsbezirk Oppeln die niedrigsten Tagelohne; dort schwanken
sie zwischen 1,20 und 1,80 Mark Sommerlohn für Männer, hier betragen sie
durchweg eine Mark, nur im Jnduftriebezirk treibt sie die Konkurrenz höher.
Ob auch die Frau mitarbeitet, deren Tagelohn im Winter fünfzig, im Sommer
sechzig Pfennige beträgt, so steigt doch das Familieneinkommen, wie 1873, so
auch heute noch nur wenig über vierhundert Mark. (Die von Weber gesam¬
melten Angaben über die oberschlesischen Löhne stimmen genan mit dem überei»,
was wir selbst durch persönliche Erkundigungen erfahren haben.) Dabei ist
zu bemerken, daß der „freie" Tagelöhner außer dem uralten Geldlohn nichts,
rein nichts erhält, weder einen Bissen Brot zum Frühstück oder zur Vesper,
»och einen Schnaps, noch ein Glas Milch oder Buttermilch, wenigstens beim
Rittergutsbesitzer; der Bauer pflegt einen Schnaps zu spenden, die Bäuerin
auch manchmal ein Butterbrot. Die Gesamtlage des oberschlesischen nicht bloß,
sondern überhaupt des schlesischen Landarbeiterstandes ist aber besonders des¬
wegen schlechter als die des ostpreußischen, weil er vorzugsweise aus besitz¬
losen Tagelöhnern besteht, während diese, von den Wanderarbeitern abgesehen,
im Norden, wo das Jnstmnnnverhältnis vorherrscht, die Ausnahme bilden.
Im Norden liegt die Sache so, daß sich die Lage der Leute durch Vermin¬
derung der Jnstmannstellen und durch Verwandlung der Nctturallöhne zugleich
verschlechtert und verbessert. Verschlechtert, indem die Eristenzsicherheit schwindet,
ruheloses Wandern an die Stelle der Seßhaftigkeit tritt und die Ernährung
schlechter wird,^) verbessert, indem das Abwandern die zuverlässigen Arbeiter
selten macht, den Geldlohn in die Höhe treibt und eine bessere Behandlung
erzwingt.

Es hieße dem Publikum den gesunden Menschenverstand absprechen, wenn



") Die Milch der Deputatkuh fällt weg, statt Milch und Buttermilch wird Schnaps
getrunken, und an die Stelle des Mehls und der Hülsenfrüchte tritt die Kartoffel. Der So-
zialist Mehring Schreitet in der Neuen Zeit Rudolf Meyers Behauptung, daß sich die Ver¬
schlechterung der Ernährung schon in der leiblichen Entartung bekunde, und daß es die Leute
vor neunzig Jahren in materieller Beziehung besser gehabt hatten, allein auch v. d. Goltz und
Weber heben die Verschlechterung der Ernährung hervor, die doch, wenn sie anhält, nicht ohne
Einfluß aus die Körperbeschaffenheit bleiben kann; allerdings vergleichen sie den heutigen Zu¬
stand nicht mit dem in der Zeit der Leibeigenschaft, sondern gehen nur aus die unmittelbare
Vergangenheit zurück.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216088"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1189" prev="#ID_1188"> den Schlesien bildet, waltet ein Unterschied ob, der nicht übersehen werden<lb/>
darf. Oberschlesien ist der Landstrich, wo die nicht regulirten bäuerlichen<lb/>
Stellen, meist sogenannte Robotgärtnerstellen (in Mittel- und Niederschlesien<lb/>
hießen ihre Inhaber Dreschgürtner), allesamt von den Gutsherren einfach ein¬<lb/>
gezogen wurden. Hier wurde also ganz plötzlich ein zahlreiches Arbeiterpro¬<lb/>
letariat geschaffen, das den Tagelohn bis auf den heutigen Tag niedrig ge¬<lb/>
halten hat. Heute hat nicht mehr, wie 1873, der Regierungsbezirk Gumbinnen,<lb/>
sondern der Regierungsbezirk Oppeln die niedrigsten Tagelohne; dort schwanken<lb/>
sie zwischen 1,20 und 1,80 Mark Sommerlohn für Männer, hier betragen sie<lb/>
durchweg eine Mark, nur im Jnduftriebezirk treibt sie die Konkurrenz höher.<lb/>
Ob auch die Frau mitarbeitet, deren Tagelohn im Winter fünfzig, im Sommer<lb/>
sechzig Pfennige beträgt, so steigt doch das Familieneinkommen, wie 1873, so<lb/>
auch heute noch nur wenig über vierhundert Mark. (Die von Weber gesam¬<lb/>
melten Angaben über die oberschlesischen Löhne stimmen genan mit dem überei»,<lb/>
was wir selbst durch persönliche Erkundigungen erfahren haben.) Dabei ist<lb/>
zu bemerken, daß der &#x201E;freie" Tagelöhner außer dem uralten Geldlohn nichts,<lb/>
rein nichts erhält, weder einen Bissen Brot zum Frühstück oder zur Vesper,<lb/>
»och einen Schnaps, noch ein Glas Milch oder Buttermilch, wenigstens beim<lb/>
Rittergutsbesitzer; der Bauer pflegt einen Schnaps zu spenden, die Bäuerin<lb/>
auch manchmal ein Butterbrot. Die Gesamtlage des oberschlesischen nicht bloß,<lb/>
sondern überhaupt des schlesischen Landarbeiterstandes ist aber besonders des¬<lb/>
wegen schlechter als die des ostpreußischen, weil er vorzugsweise aus besitz¬<lb/>
losen Tagelöhnern besteht, während diese, von den Wanderarbeitern abgesehen,<lb/>
im Norden, wo das Jnstmnnnverhältnis vorherrscht, die Ausnahme bilden.<lb/>
Im Norden liegt die Sache so, daß sich die Lage der Leute durch Vermin¬<lb/>
derung der Jnstmannstellen und durch Verwandlung der Nctturallöhne zugleich<lb/>
verschlechtert und verbessert. Verschlechtert, indem die Eristenzsicherheit schwindet,<lb/>
ruheloses Wandern an die Stelle der Seßhaftigkeit tritt und die Ernährung<lb/>
schlechter wird,^) verbessert, indem das Abwandern die zuverlässigen Arbeiter<lb/>
selten macht, den Geldlohn in die Höhe treibt und eine bessere Behandlung<lb/>
erzwingt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1190" next="#ID_1191"> Es hieße dem Publikum den gesunden Menschenverstand absprechen, wenn</p><lb/>
          <note xml:id="FID_55" place="foot"> ") Die Milch der Deputatkuh fällt weg, statt Milch und Buttermilch wird Schnaps<lb/>
getrunken, und an die Stelle des Mehls und der Hülsenfrüchte tritt die Kartoffel. Der So-<lb/>
zialist Mehring Schreitet in der Neuen Zeit Rudolf Meyers Behauptung, daß sich die Ver¬<lb/>
schlechterung der Ernährung schon in der leiblichen Entartung bekunde, und daß es die Leute<lb/>
vor neunzig Jahren in materieller Beziehung besser gehabt hatten, allein auch v. d. Goltz und<lb/>
Weber heben die Verschlechterung der Ernährung hervor, die doch, wenn sie anhält, nicht ohne<lb/>
Einfluß aus die Körperbeschaffenheit bleiben kann; allerdings vergleichen sie den heutigen Zu¬<lb/>
stand nicht mit dem in der Zeit der Leibeigenschaft, sondern gehen nur aus die unmittelbare<lb/>
Vergangenheit zurück.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] den Schlesien bildet, waltet ein Unterschied ob, der nicht übersehen werden darf. Oberschlesien ist der Landstrich, wo die nicht regulirten bäuerlichen Stellen, meist sogenannte Robotgärtnerstellen (in Mittel- und Niederschlesien hießen ihre Inhaber Dreschgürtner), allesamt von den Gutsherren einfach ein¬ gezogen wurden. Hier wurde also ganz plötzlich ein zahlreiches Arbeiterpro¬ letariat geschaffen, das den Tagelohn bis auf den heutigen Tag niedrig ge¬ halten hat. Heute hat nicht mehr, wie 1873, der Regierungsbezirk Gumbinnen, sondern der Regierungsbezirk Oppeln die niedrigsten Tagelohne; dort schwanken sie zwischen 1,20 und 1,80 Mark Sommerlohn für Männer, hier betragen sie durchweg eine Mark, nur im Jnduftriebezirk treibt sie die Konkurrenz höher. Ob auch die Frau mitarbeitet, deren Tagelohn im Winter fünfzig, im Sommer sechzig Pfennige beträgt, so steigt doch das Familieneinkommen, wie 1873, so auch heute noch nur wenig über vierhundert Mark. (Die von Weber gesam¬ melten Angaben über die oberschlesischen Löhne stimmen genan mit dem überei», was wir selbst durch persönliche Erkundigungen erfahren haben.) Dabei ist zu bemerken, daß der „freie" Tagelöhner außer dem uralten Geldlohn nichts, rein nichts erhält, weder einen Bissen Brot zum Frühstück oder zur Vesper, »och einen Schnaps, noch ein Glas Milch oder Buttermilch, wenigstens beim Rittergutsbesitzer; der Bauer pflegt einen Schnaps zu spenden, die Bäuerin auch manchmal ein Butterbrot. Die Gesamtlage des oberschlesischen nicht bloß, sondern überhaupt des schlesischen Landarbeiterstandes ist aber besonders des¬ wegen schlechter als die des ostpreußischen, weil er vorzugsweise aus besitz¬ losen Tagelöhnern besteht, während diese, von den Wanderarbeitern abgesehen, im Norden, wo das Jnstmnnnverhältnis vorherrscht, die Ausnahme bilden. Im Norden liegt die Sache so, daß sich die Lage der Leute durch Vermin¬ derung der Jnstmannstellen und durch Verwandlung der Nctturallöhne zugleich verschlechtert und verbessert. Verschlechtert, indem die Eristenzsicherheit schwindet, ruheloses Wandern an die Stelle der Seßhaftigkeit tritt und die Ernährung schlechter wird,^) verbessert, indem das Abwandern die zuverlässigen Arbeiter selten macht, den Geldlohn in die Höhe treibt und eine bessere Behandlung erzwingt. Es hieße dem Publikum den gesunden Menschenverstand absprechen, wenn ") Die Milch der Deputatkuh fällt weg, statt Milch und Buttermilch wird Schnaps getrunken, und an die Stelle des Mehls und der Hülsenfrüchte tritt die Kartoffel. Der So- zialist Mehring Schreitet in der Neuen Zeit Rudolf Meyers Behauptung, daß sich die Ver¬ schlechterung der Ernährung schon in der leiblichen Entartung bekunde, und daß es die Leute vor neunzig Jahren in materieller Beziehung besser gehabt hatten, allein auch v. d. Goltz und Weber heben die Verschlechterung der Ernährung hervor, die doch, wenn sie anhält, nicht ohne Einfluß aus die Körperbeschaffenheit bleiben kann; allerdings vergleichen sie den heutigen Zu¬ stand nicht mit dem in der Zeit der Leibeigenschaft, sondern gehen nur aus die unmittelbare Vergangenheit zurück.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/364>, abgerufen am 22.07.2024.