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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Landarbeitorfrage

Bände über die Lcmdarbeiterfrcige berichtet und beraten, am zweiten über die
damit eng verflochtene Vodenbesitzverteilung und die Sicherung des Klein¬
grundbesitzes. Endlich hat Dr. Kuno Frankenstein, Dozent an der Hum¬
boldt-Akademie zu Berlin, bei Robert Oppenheim in Berlin ein Buch heraus¬
gegeben: Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft, worin
er "den Versuch macht, nach den Ergebnissen der Enquete ein übersichtliches
Bild der Verhältnisse der deutschen Landarbeiter zu zeichnen und die ländliche
Arbeiterfrage darzustellen, wie sie nach den Erhebungen des Vereins für Sozial¬
politik erscheint." Wer in der Lage ist, sich über die Sache gründlich unter¬
richten zu können, der sei auf diese sechs Bände verwiesen.") Zur oberfläch¬
lichen Orientirung solcher, die es nicht können, und um unser eignes Urteil
über den Stand der Dinge einigermaßen zu begründen, wage" wir eine flüchtige
Skizze zu entwerfen, die sich vorzugsweise an v. d. Goltz und an den Bericht
über die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik hält.

In dieser Versammlung berichtete Dr. G. F. Knapp über die Arbeiter¬
frage auf Grund der genannten Vorlagen. Das südliche Deutschland wurde
in den Verhandlungen nur einmal, und zwar später von Dr. Weber mit der
Bemerkung gestreift, es gebe im Süden und Westen ziemlich ausgedehnte Ge¬
biete, wo es einen sozial geschiednen, sich ans sich selbst wiedererzeugenden
Arbeiterstnnd gnr nicht gebe. Es seien das die Gegenden mit vorwiegenden
Kleinbesitz, der einerseits in der Erbfolge immer weiter geteilt, andrerseits
wieder durch Parzellenankauf vergrößert zu werden Pflege. Hier bestehe keine
soziale Scheidewand zwischen dem größern Bauer und dem bei ihm tage¬
löhnernden Kleinbauer. Professor Knapp beschränkte sich auf das nördliche
Deutschland und unterschied hier drei Typen von ländlichen Arbeitern. In
Westfalen ist der Lohnarbeiter ein Heuerling, d. h. ein Pächter des Bauern.
Er hat von diesem ein Grundstück in Pacht, das ohne ausdrückliche Erneue¬
rung des Vertrags vom Vater auf den Sohn überzugehen pflegt. Er hilft
dem Bauer, so oft es dieser nötig hat, arbeitet mit diesem zusammen, ißt an
solchen Tagen mit an seinem Tisch und unterscheidet sich von ihm weder in
der Sprache, noch in der Sitte, der Denkungsart und den Umgangsformen,
sondern nur durch die Kleinheit seiner Wirtschaft; er hat nicht das Gefühl,
zur Lohnarbeit gezwungen zu sein, sondern arbeitet für den Bauer in dem
Bewußtsein, daß beide Teile einander brauchen. Beide Teile sind dort zu¬
frieden; für Sozialdemokraten ist da kein Geschäft zu machen. Natürlich ist
diese Arbeitsverfasfung mir möglich, wo es, wie in Westfalen, keine oder nur



") Als wertvolle Ergänzungen sind noch die zahlreichen Einzeldarstellnngen heranzuziehen,
die, wie Kaergers Arbeit über die Sachsengängerei, einzelne Erscheinungen, oder wie die so¬
eben erschienene Schrift des Pastors H. Wittenberg über die Lage der ländlichen
Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen (Leipzig, Reinhold Werther) einzelne
Gegenden behandeln.
Die Landarbeitorfrage

Bände über die Lcmdarbeiterfrcige berichtet und beraten, am zweiten über die
damit eng verflochtene Vodenbesitzverteilung und die Sicherung des Klein¬
grundbesitzes. Endlich hat Dr. Kuno Frankenstein, Dozent an der Hum¬
boldt-Akademie zu Berlin, bei Robert Oppenheim in Berlin ein Buch heraus¬
gegeben: Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft, worin
er „den Versuch macht, nach den Ergebnissen der Enquete ein übersichtliches
Bild der Verhältnisse der deutschen Landarbeiter zu zeichnen und die ländliche
Arbeiterfrage darzustellen, wie sie nach den Erhebungen des Vereins für Sozial¬
politik erscheint." Wer in der Lage ist, sich über die Sache gründlich unter¬
richten zu können, der sei auf diese sechs Bände verwiesen.") Zur oberfläch¬
lichen Orientirung solcher, die es nicht können, und um unser eignes Urteil
über den Stand der Dinge einigermaßen zu begründen, wage» wir eine flüchtige
Skizze zu entwerfen, die sich vorzugsweise an v. d. Goltz und an den Bericht
über die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik hält.

In dieser Versammlung berichtete Dr. G. F. Knapp über die Arbeiter¬
frage auf Grund der genannten Vorlagen. Das südliche Deutschland wurde
in den Verhandlungen nur einmal, und zwar später von Dr. Weber mit der
Bemerkung gestreift, es gebe im Süden und Westen ziemlich ausgedehnte Ge¬
biete, wo es einen sozial geschiednen, sich ans sich selbst wiedererzeugenden
Arbeiterstnnd gnr nicht gebe. Es seien das die Gegenden mit vorwiegenden
Kleinbesitz, der einerseits in der Erbfolge immer weiter geteilt, andrerseits
wieder durch Parzellenankauf vergrößert zu werden Pflege. Hier bestehe keine
soziale Scheidewand zwischen dem größern Bauer und dem bei ihm tage¬
löhnernden Kleinbauer. Professor Knapp beschränkte sich auf das nördliche
Deutschland und unterschied hier drei Typen von ländlichen Arbeitern. In
Westfalen ist der Lohnarbeiter ein Heuerling, d. h. ein Pächter des Bauern.
Er hat von diesem ein Grundstück in Pacht, das ohne ausdrückliche Erneue¬
rung des Vertrags vom Vater auf den Sohn überzugehen pflegt. Er hilft
dem Bauer, so oft es dieser nötig hat, arbeitet mit diesem zusammen, ißt an
solchen Tagen mit an seinem Tisch und unterscheidet sich von ihm weder in
der Sprache, noch in der Sitte, der Denkungsart und den Umgangsformen,
sondern nur durch die Kleinheit seiner Wirtschaft; er hat nicht das Gefühl,
zur Lohnarbeit gezwungen zu sein, sondern arbeitet für den Bauer in dem
Bewußtsein, daß beide Teile einander brauchen. Beide Teile sind dort zu¬
frieden; für Sozialdemokraten ist da kein Geschäft zu machen. Natürlich ist
diese Arbeitsverfasfung mir möglich, wo es, wie in Westfalen, keine oder nur



") Als wertvolle Ergänzungen sind noch die zahlreichen Einzeldarstellnngen heranzuziehen,
die, wie Kaergers Arbeit über die Sachsengängerei, einzelne Erscheinungen, oder wie die so¬
eben erschienene Schrift des Pastors H. Wittenberg über die Lage der ländlichen
Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen (Leipzig, Reinhold Werther) einzelne
Gegenden behandeln.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/358>, abgerufen am 02.10.2024.