Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.Unser Zeitungsel'ut weiter spinnt, wird natürlich durch die kleinlichen Vorwürfe verstimmt, wirft Ist der politische Teil unsrer meisten Zeitungen schon eitel Sandwüste, Unser Zeitungsel'ut weiter spinnt, wird natürlich durch die kleinlichen Vorwürfe verstimmt, wirft Ist der politische Teil unsrer meisten Zeitungen schon eitel Sandwüste, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0311" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216035"/> <fw type="header" place="top"> Unser Zeitungsel'ut</fw><lb/> <p xml:id="ID_919" prev="#ID_918"> weiter spinnt, wird natürlich durch die kleinlichen Vorwürfe verstimmt, wirft<lb/> die Feder hin und greift zur Schere, mit dem Vorsatz, sich in Zukunft die<lb/> undankbare Arbeit zu sparen. Zwar wird er dem Vorsatz noch ein paarmal<lb/> untren, nach und nach aber wird ihm das geistige Komödicmtentnm, zu dein<lb/> ihn die stete Rücksicht auf Verleger und Publikum zwingt, zur Gewohnheit;<lb/> da er über gewisse Dinge seine ehrliche Meinung nicht sagen darf, so hilft er<lb/> sich mit ein paar leeren Phrasen, und die Zeitung bleibt, was sie war, näm¬<lb/> lich langweilig. So geht es bei der sogenannten unabhängigen Presse zu.<lb/> Wie es bei Blättern aussieht, die von irgend welchen Behörden abhängen,<lb/> kann man sich darnach vorstellen. Wehe dem Redakteur oder Berichterstatter<lb/> eines „Amtsblattes," der sich erdreistet, irgend eine Angelegenheit, und wäre es<lb/> auch die Gerichtsverhandlung über die Prügelei zweier Marktweiber, in scherz¬<lb/> hafter Form darzustellen! Ein deutscher Beamter von echtem Schrot und Korn<lb/> kann nun einmal den Humor uicht ausstehen, sein Ideal einer Zeitung ist das<lb/> gedankentiefste Blatt der deutscheu Presse, der „königlich preußische Stcmts-<lb/> uud kaiserlich deutsche Reichsanzeiger."</p><lb/> <p xml:id="ID_920" next="#ID_921"> Ist der politische Teil unsrer meisten Zeitungen schon eitel Sandwüste,<lb/> so sieht es in dem übrigen Teil, ganz abgesehen von den „Selbstmorden,"<lb/> „entsetzlichen Unglücksfällen" und „drolligen Begebenheiten," noch viel trau¬<lb/> riger aus. Da werden im Feuilleton nicht bloß die hundert- und zweihundert-<lb/> jährigen, sondern neuerdings auch schon die achtzig-, die sechzig- und die vierzig¬<lb/> jährigen Todestage aller berühmten Männer gefeiert; mit dem Abreißkalender<lb/> und dem Konversationslexikon ist das ja jetzt so ungemein bequem gemacht. Da<lb/> erscheint immer wieder im Frühling der strophendurchwcbte Aufsatz über das<lb/> Veilchen oder die Linde, im Sommer der unvermeidliche „Essai" über die Ameisen<lb/> und Wespen, im Herbst die lehrreiche Zusammenstellung der höchsten Türme.<lb/> Daneben wird auch die Ortsgeschichte gepflegt. Wir kennen ein Prvvinzblcitt,<lb/> das in Zwischenräumen von ein bis zwei Jahren seinen Lesern immer wieder<lb/> dieselben abgestandnen Anekdoten aus der alten Stadtchronik auftischt; mit größter<lb/> Regelmäßigkeit kehrt derselbe „Liebesbrief aus dem siebzehnten Jahrhundert,"<lb/> dieselbe falsche Erklärung irgend eines alten Stadtwahrzcichens, dieselbe längst<lb/> ins Vereich der Fabel verwiesene galante oder Schauergeschichte wieder. Wie<lb/> aber vollends Kunst und Litteratur behandelt wird, das ist nun gar zum<lb/> Weinen. Wie viel „sensationelle Erfolge" werden uicht alljährlich allein von<lb/> Berlin aus nach allen Ecken unsers Vaterlandes hinausposaunt, und neunund¬<lb/> neunzig Prozent davon erweisen sich als einfach gelogen. Über jedes neue<lb/> Schundstück, das Blumenthal und Kadelburg in die Welt setzen, bringen unsre<lb/> größten Zeitungen lange Besprechungen, das Urteil am Schluß schwankt stets<lb/> zwischen „durchschlagender Wirkung" und „freundlich aufgenommen"; und be¬<lb/> kommt man das Ding nachher zu Gesicht, so fragt mau sich, wie ein Mann<lb/> von gesundem Verstände nur hat die Hand zum Klatschen regen können. Über</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0311]
Unser Zeitungsel'ut
weiter spinnt, wird natürlich durch die kleinlichen Vorwürfe verstimmt, wirft
die Feder hin und greift zur Schere, mit dem Vorsatz, sich in Zukunft die
undankbare Arbeit zu sparen. Zwar wird er dem Vorsatz noch ein paarmal
untren, nach und nach aber wird ihm das geistige Komödicmtentnm, zu dein
ihn die stete Rücksicht auf Verleger und Publikum zwingt, zur Gewohnheit;
da er über gewisse Dinge seine ehrliche Meinung nicht sagen darf, so hilft er
sich mit ein paar leeren Phrasen, und die Zeitung bleibt, was sie war, näm¬
lich langweilig. So geht es bei der sogenannten unabhängigen Presse zu.
Wie es bei Blättern aussieht, die von irgend welchen Behörden abhängen,
kann man sich darnach vorstellen. Wehe dem Redakteur oder Berichterstatter
eines „Amtsblattes," der sich erdreistet, irgend eine Angelegenheit, und wäre es
auch die Gerichtsverhandlung über die Prügelei zweier Marktweiber, in scherz¬
hafter Form darzustellen! Ein deutscher Beamter von echtem Schrot und Korn
kann nun einmal den Humor uicht ausstehen, sein Ideal einer Zeitung ist das
gedankentiefste Blatt der deutscheu Presse, der „königlich preußische Stcmts-
uud kaiserlich deutsche Reichsanzeiger."
Ist der politische Teil unsrer meisten Zeitungen schon eitel Sandwüste,
so sieht es in dem übrigen Teil, ganz abgesehen von den „Selbstmorden,"
„entsetzlichen Unglücksfällen" und „drolligen Begebenheiten," noch viel trau¬
riger aus. Da werden im Feuilleton nicht bloß die hundert- und zweihundert-
jährigen, sondern neuerdings auch schon die achtzig-, die sechzig- und die vierzig¬
jährigen Todestage aller berühmten Männer gefeiert; mit dem Abreißkalender
und dem Konversationslexikon ist das ja jetzt so ungemein bequem gemacht. Da
erscheint immer wieder im Frühling der strophendurchwcbte Aufsatz über das
Veilchen oder die Linde, im Sommer der unvermeidliche „Essai" über die Ameisen
und Wespen, im Herbst die lehrreiche Zusammenstellung der höchsten Türme.
Daneben wird auch die Ortsgeschichte gepflegt. Wir kennen ein Prvvinzblcitt,
das in Zwischenräumen von ein bis zwei Jahren seinen Lesern immer wieder
dieselben abgestandnen Anekdoten aus der alten Stadtchronik auftischt; mit größter
Regelmäßigkeit kehrt derselbe „Liebesbrief aus dem siebzehnten Jahrhundert,"
dieselbe falsche Erklärung irgend eines alten Stadtwahrzcichens, dieselbe längst
ins Vereich der Fabel verwiesene galante oder Schauergeschichte wieder. Wie
aber vollends Kunst und Litteratur behandelt wird, das ist nun gar zum
Weinen. Wie viel „sensationelle Erfolge" werden uicht alljährlich allein von
Berlin aus nach allen Ecken unsers Vaterlandes hinausposaunt, und neunund¬
neunzig Prozent davon erweisen sich als einfach gelogen. Über jedes neue
Schundstück, das Blumenthal und Kadelburg in die Welt setzen, bringen unsre
größten Zeitungen lange Besprechungen, das Urteil am Schluß schwankt stets
zwischen „durchschlagender Wirkung" und „freundlich aufgenommen"; und be¬
kommt man das Ding nachher zu Gesicht, so fragt mau sich, wie ein Mann
von gesundem Verstände nur hat die Hand zum Klatschen regen können. Über
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