Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.Unser Zeitimgselend leser eins. Wer sich durch eine Spalte vermischter Nachrichten in der Köl¬ Unser Zeitimgselend leser eins. Wer sich durch eine Spalte vermischter Nachrichten in der Köl¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216033"/> <fw type="header" place="top"> Unser Zeitimgselend</fw><lb/> <p xml:id="ID_916" prev="#ID_915" next="#ID_917"> leser eins. Wer sich durch eine Spalte vermischter Nachrichten in der Köl¬<lb/> nischen oder der Frankfurter Zeitung durchwinden will, der wird auf dem ganzen<lb/> Erdball herumgehetzt, und manchmal anch noch im weiten Himmelsraum. Ist<lb/> denn auch uur das geringste Vergnügen dabei, in fünfzehn bis zwanzig Zeilen<lb/> zu lesen, daß in England zwei Züge zusammengestoßen sind, daß in den Ver¬<lb/> einigten Staaten ein Neger von der wütenden Volksmenge gelyncht worden<lb/> ist, daß in Japan Überschwemmungen großen Schaden angerichtet haben, und<lb/> daß es mittels des großen Refraktors der Lycksternwarte gelungen ist, zu den<lb/> paar hundert kleinen Planeten, die wir schon kennen, noch einen neuen zu ent¬<lb/> decken? Und ist der geistige Zusammenhang im politischen Teil etwa größer?<lb/> Wenn man die wirklich tüchtige Geistesarbeit der Redaktion oder der Mit¬<lb/> arbeiter vergleicht mit dem, was da zusammengebraut ist als ein Ragout von<lb/> andrer Schmaus oder dem Leser als nur halb gar gekochte Speise in „Ori-<lb/> ginaltelegrammen" und „Privatdepeschen" vorgesetzt wird, es ist doch jämmerlich<lb/> wenig. Aber es mag ja schließlich gut sein, daß es ein paar große Sammel¬<lb/> becken giebt, in denen alles zusammenfließt, was auf dieser weiten Erde neues<lb/> geschieht oder gelogen wird. Diese großen Weltblätter verdrängt auch die<lb/> parteilose Presse nicht. Aber die mittlern Provinzzeitungen und die kleinen<lb/> Lokalblätter, die frißt sie nach und nach auf. Und was diese Blätter so wehr¬<lb/> los macht, das ist ihre Einseitigkeit und Eintönigkeit. Grauenhaft trocken und<lb/> geschäftsmäßig wird in der größten Masse dieser Blätter die Tagesgeschichte<lb/> heruntergehaspelt. Irgend eine Leitartikelfabrik in Berlin versorgt das Blatt<lb/> mit längst bekannten Geschichten, in der hergebrachten Pnrteifärbung dar¬<lb/> gestellt. Liest nun ein schlichter Bürgersmann nach vollbrachtem Tagewerk<lb/> an der Spitze seiner Zeitung die Überschrift „Die Liebesgabe der Branntwein¬<lb/> brenner," oder „Die Sozinldemokratie auf dem Lande," oder „Verkappte Kultur-<lb/> kümpfer," so überschlägt er das natürlich oder wirft das Blatt auch ganz<lb/> beiseite, und man kann es ihm nicht übelnehmen, wenn er sich lieber an<lb/> die vielen hübschen Geschichtchen im „Generalanzeiger" hält, denn was sein<lb/> Leibblatt von jenen Dingen sagt, das weiß er ja, wenn ers nicht längst wieder<lb/> vergessen hat. Die übrigen politischen Nachrichten schneidet der Redakteur aus<lb/> größern Zeitungen ans oder entnimmt sie telegraphischen, hektographirten oder<lb/> gedruckten Korrespondenzen, jedenfalls aber stoppelt er sie geradeso mechanisch<lb/> zusammen, wie es die Weltblätter thun. Die einzelnen Teile zu einem Ganzen<lb/> zu verarbeiten, das der Leser ohne zu stocken durchlesen könnte, dazu fehlt es<lb/> ihm an Zeit, selbst wenn er das Talent zu solcher Arbeit hätte. Ist es doch<lb/> nicht einmal möglich, die eingehenden Nachrichten ans ein anständiges Deutsch<lb/> hin durchzuarbeiten. Denn da der überwiegende Teil der Leute, die den Stoff<lb/> für eine Zeitung liefern, nur halb oder gar uicht gebildet ist — das klingt<lb/> komisch, nicht wahr? —, so müßten die Manuskripte in der Regel vollständig<lb/> ungeschrieben werden, und dazu hat der Redakteur, wie gesagt, keine Zeit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
Unser Zeitimgselend
leser eins. Wer sich durch eine Spalte vermischter Nachrichten in der Köl¬
nischen oder der Frankfurter Zeitung durchwinden will, der wird auf dem ganzen
Erdball herumgehetzt, und manchmal anch noch im weiten Himmelsraum. Ist
denn auch uur das geringste Vergnügen dabei, in fünfzehn bis zwanzig Zeilen
zu lesen, daß in England zwei Züge zusammengestoßen sind, daß in den Ver¬
einigten Staaten ein Neger von der wütenden Volksmenge gelyncht worden
ist, daß in Japan Überschwemmungen großen Schaden angerichtet haben, und
daß es mittels des großen Refraktors der Lycksternwarte gelungen ist, zu den
paar hundert kleinen Planeten, die wir schon kennen, noch einen neuen zu ent¬
decken? Und ist der geistige Zusammenhang im politischen Teil etwa größer?
Wenn man die wirklich tüchtige Geistesarbeit der Redaktion oder der Mit¬
arbeiter vergleicht mit dem, was da zusammengebraut ist als ein Ragout von
andrer Schmaus oder dem Leser als nur halb gar gekochte Speise in „Ori-
ginaltelegrammen" und „Privatdepeschen" vorgesetzt wird, es ist doch jämmerlich
wenig. Aber es mag ja schließlich gut sein, daß es ein paar große Sammel¬
becken giebt, in denen alles zusammenfließt, was auf dieser weiten Erde neues
geschieht oder gelogen wird. Diese großen Weltblätter verdrängt auch die
parteilose Presse nicht. Aber die mittlern Provinzzeitungen und die kleinen
Lokalblätter, die frißt sie nach und nach auf. Und was diese Blätter so wehr¬
los macht, das ist ihre Einseitigkeit und Eintönigkeit. Grauenhaft trocken und
geschäftsmäßig wird in der größten Masse dieser Blätter die Tagesgeschichte
heruntergehaspelt. Irgend eine Leitartikelfabrik in Berlin versorgt das Blatt
mit längst bekannten Geschichten, in der hergebrachten Pnrteifärbung dar¬
gestellt. Liest nun ein schlichter Bürgersmann nach vollbrachtem Tagewerk
an der Spitze seiner Zeitung die Überschrift „Die Liebesgabe der Branntwein¬
brenner," oder „Die Sozinldemokratie auf dem Lande," oder „Verkappte Kultur-
kümpfer," so überschlägt er das natürlich oder wirft das Blatt auch ganz
beiseite, und man kann es ihm nicht übelnehmen, wenn er sich lieber an
die vielen hübschen Geschichtchen im „Generalanzeiger" hält, denn was sein
Leibblatt von jenen Dingen sagt, das weiß er ja, wenn ers nicht längst wieder
vergessen hat. Die übrigen politischen Nachrichten schneidet der Redakteur aus
größern Zeitungen ans oder entnimmt sie telegraphischen, hektographirten oder
gedruckten Korrespondenzen, jedenfalls aber stoppelt er sie geradeso mechanisch
zusammen, wie es die Weltblätter thun. Die einzelnen Teile zu einem Ganzen
zu verarbeiten, das der Leser ohne zu stocken durchlesen könnte, dazu fehlt es
ihm an Zeit, selbst wenn er das Talent zu solcher Arbeit hätte. Ist es doch
nicht einmal möglich, die eingehenden Nachrichten ans ein anständiges Deutsch
hin durchzuarbeiten. Denn da der überwiegende Teil der Leute, die den Stoff
für eine Zeitung liefern, nur halb oder gar uicht gebildet ist — das klingt
komisch, nicht wahr? —, so müßten die Manuskripte in der Regel vollständig
ungeschrieben werden, und dazu hat der Redakteur, wie gesagt, keine Zeit.
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