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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und Frankreich

europas gegen das bedrohliche Wachstum der Wettbewerbung der Mächte mit
dem räumlichen Vorsprung: Rußland, das britische Reich, die Vereinigten
Staaten; Bildung eines einheitlichen, geschichtlich längst vorbereiteten Berkehrs-
und Wirtschaftsgebietes in West- und Mitteleuropa. Deutschland und Frank¬
reich vereint würden eine ganze Reihe von Schwierigkeiten im Innern und
Äußern besiege", die beiden unüberwindlich sind, solange sie einander feindlich
gegenüberstehen: sogar die Währungsfrage werden sie mir vereint lösen. Und
was hätte Frankreich zu bieten, als den endgiltigen Verzicht auf die Wieder¬
erwerbung zweier Provinzen, deren Bevölkerung ihm zum Teil ftammfremd,
zum Teil entfremdet ist, und für die es eingestandnermaßen in dreiundzwanzig
Jahren nicht den Entschluß gesunde" hat, das Schwert zu ziehe"!

Es sei gestattet, diesem Auszuge einige Bemerkniigen hinzuzufügen. Wir
würden es für einen Frevel halten, deu Gedanke" der Annäherung Deutsch-
lands und Frankreichs ohne Prüfung zurückzuweisen. In manchen Beziehungen
ist kein Augenblick geeigneter, dazu aufzufordern, als der gegenwärtige. Ohne
Zweifel hat sich die Lage beider Staaten im letzten Vierteljcchrhnndert gründ¬
lich geändert. Frankreich ist Deutschland ähnlicher geworden, und Deutschland hat
sich in maiicheu Beziehungen Frankreich genähert. Seine wirtschaftliche Entwick¬
lung hat den Wohlstand gesteigert und das Übelbesinde" der Lohnarbeiter vermehrt,
die soziale Frage tritt an beide Länder ziemlich gleich heran. Beide haben ihre
wirtschaftlichen Interessen in der ganzen Welt verstärkt, und Deutschland ist
durch seinen Kolonialbesitz denselben Verwicklungen mit England ausgesetzt, die
Frankreich in alter und neuer Zeit erfahren hat. Den Mächten von über¬
ragender Größe, besonders Nußland und den Vereinigten Staaten, war ein
Gegengewicht nie nötiger als jetzt. Wer anders als die vereinigten Mächte
des Festlands vermag es zu bilden? Es geht ein Streben nach großen po¬
litischen und wirtschaftlichen Räumen durch die Welt, die natürliche Folge des
Verkehrs, der die bisherige!? Räume verkleinert. Europa, dessen Verkehr am
meisten entwickelt ist, muß rückwärts gehen, wenn sich seine Großstaaten, die
großenteils nur noch Mittelstaaten sind, immer tiefer sondern. Die Stufe,
die Deutschland und Frankreich erstiegen haben, ruft sie an die Spitze.

Verhängnisvoll, daß beide ihre Rechnung nicht 1815 statt 1870 beglichen!
wird ein Geschichtschreiber der Zukunft sagen; Europa Hütte in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr als je der Einheit bedurft. Als beide
Mächte einander am nötigsten brauchten, stießen sie sich am heftigsten ab. Es
muß immer wieder ausgesprochen werden, was auch diese Schrift noch viel
energischer hätte betonen können, daß es europäisch-kontinentale Interessen
giebt, die den britisch-insularen entgegenzusetzen sind. Folgerichtig ergiebt sich
daraus, was die Schrift nicht folgert -- man wird sich doch nicht gescheut
haben, den Schluß zu ziehen? --, daß, wenn Englands- ungeheurer Landbesitz
ni allen Erdteilen und seine Seebeherrschung auf ganz Europa lastet, man


Deutschland und Frankreich

europas gegen das bedrohliche Wachstum der Wettbewerbung der Mächte mit
dem räumlichen Vorsprung: Rußland, das britische Reich, die Vereinigten
Staaten; Bildung eines einheitlichen, geschichtlich längst vorbereiteten Berkehrs-
und Wirtschaftsgebietes in West- und Mitteleuropa. Deutschland und Frank¬
reich vereint würden eine ganze Reihe von Schwierigkeiten im Innern und
Äußern besiege», die beiden unüberwindlich sind, solange sie einander feindlich
gegenüberstehen: sogar die Währungsfrage werden sie mir vereint lösen. Und
was hätte Frankreich zu bieten, als den endgiltigen Verzicht auf die Wieder¬
erwerbung zweier Provinzen, deren Bevölkerung ihm zum Teil ftammfremd,
zum Teil entfremdet ist, und für die es eingestandnermaßen in dreiundzwanzig
Jahren nicht den Entschluß gesunde» hat, das Schwert zu ziehe»!

Es sei gestattet, diesem Auszuge einige Bemerkniigen hinzuzufügen. Wir
würden es für einen Frevel halten, deu Gedanke» der Annäherung Deutsch-
lands und Frankreichs ohne Prüfung zurückzuweisen. In manchen Beziehungen
ist kein Augenblick geeigneter, dazu aufzufordern, als der gegenwärtige. Ohne
Zweifel hat sich die Lage beider Staaten im letzten Vierteljcchrhnndert gründ¬
lich geändert. Frankreich ist Deutschland ähnlicher geworden, und Deutschland hat
sich in maiicheu Beziehungen Frankreich genähert. Seine wirtschaftliche Entwick¬
lung hat den Wohlstand gesteigert und das Übelbesinde» der Lohnarbeiter vermehrt,
die soziale Frage tritt an beide Länder ziemlich gleich heran. Beide haben ihre
wirtschaftlichen Interessen in der ganzen Welt verstärkt, und Deutschland ist
durch seinen Kolonialbesitz denselben Verwicklungen mit England ausgesetzt, die
Frankreich in alter und neuer Zeit erfahren hat. Den Mächten von über¬
ragender Größe, besonders Nußland und den Vereinigten Staaten, war ein
Gegengewicht nie nötiger als jetzt. Wer anders als die vereinigten Mächte
des Festlands vermag es zu bilden? Es geht ein Streben nach großen po¬
litischen und wirtschaftlichen Räumen durch die Welt, die natürliche Folge des
Verkehrs, der die bisherige!? Räume verkleinert. Europa, dessen Verkehr am
meisten entwickelt ist, muß rückwärts gehen, wenn sich seine Großstaaten, die
großenteils nur noch Mittelstaaten sind, immer tiefer sondern. Die Stufe,
die Deutschland und Frankreich erstiegen haben, ruft sie an die Spitze.

Verhängnisvoll, daß beide ihre Rechnung nicht 1815 statt 1870 beglichen!
wird ein Geschichtschreiber der Zukunft sagen; Europa Hütte in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr als je der Einheit bedurft. Als beide
Mächte einander am nötigsten brauchten, stießen sie sich am heftigsten ab. Es
muß immer wieder ausgesprochen werden, was auch diese Schrift noch viel
energischer hätte betonen können, daß es europäisch-kontinentale Interessen
giebt, die den britisch-insularen entgegenzusetzen sind. Folgerichtig ergiebt sich
daraus, was die Schrift nicht folgert — man wird sich doch nicht gescheut
haben, den Schluß zu ziehen? —, daß, wenn Englands- ungeheurer Landbesitz
ni allen Erdteilen und seine Seebeherrschung auf ganz Europa lastet, man


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[0299] Deutschland und Frankreich europas gegen das bedrohliche Wachstum der Wettbewerbung der Mächte mit dem räumlichen Vorsprung: Rußland, das britische Reich, die Vereinigten Staaten; Bildung eines einheitlichen, geschichtlich längst vorbereiteten Berkehrs- und Wirtschaftsgebietes in West- und Mitteleuropa. Deutschland und Frank¬ reich vereint würden eine ganze Reihe von Schwierigkeiten im Innern und Äußern besiege», die beiden unüberwindlich sind, solange sie einander feindlich gegenüberstehen: sogar die Währungsfrage werden sie mir vereint lösen. Und was hätte Frankreich zu bieten, als den endgiltigen Verzicht auf die Wieder¬ erwerbung zweier Provinzen, deren Bevölkerung ihm zum Teil ftammfremd, zum Teil entfremdet ist, und für die es eingestandnermaßen in dreiundzwanzig Jahren nicht den Entschluß gesunde» hat, das Schwert zu ziehe»! Es sei gestattet, diesem Auszuge einige Bemerkniigen hinzuzufügen. Wir würden es für einen Frevel halten, deu Gedanke» der Annäherung Deutsch- lands und Frankreichs ohne Prüfung zurückzuweisen. In manchen Beziehungen ist kein Augenblick geeigneter, dazu aufzufordern, als der gegenwärtige. Ohne Zweifel hat sich die Lage beider Staaten im letzten Vierteljcchrhnndert gründ¬ lich geändert. Frankreich ist Deutschland ähnlicher geworden, und Deutschland hat sich in maiicheu Beziehungen Frankreich genähert. Seine wirtschaftliche Entwick¬ lung hat den Wohlstand gesteigert und das Übelbesinde» der Lohnarbeiter vermehrt, die soziale Frage tritt an beide Länder ziemlich gleich heran. Beide haben ihre wirtschaftlichen Interessen in der ganzen Welt verstärkt, und Deutschland ist durch seinen Kolonialbesitz denselben Verwicklungen mit England ausgesetzt, die Frankreich in alter und neuer Zeit erfahren hat. Den Mächten von über¬ ragender Größe, besonders Nußland und den Vereinigten Staaten, war ein Gegengewicht nie nötiger als jetzt. Wer anders als die vereinigten Mächte des Festlands vermag es zu bilden? Es geht ein Streben nach großen po¬ litischen und wirtschaftlichen Räumen durch die Welt, die natürliche Folge des Verkehrs, der die bisherige!? Räume verkleinert. Europa, dessen Verkehr am meisten entwickelt ist, muß rückwärts gehen, wenn sich seine Großstaaten, die großenteils nur noch Mittelstaaten sind, immer tiefer sondern. Die Stufe, die Deutschland und Frankreich erstiegen haben, ruft sie an die Spitze. Verhängnisvoll, daß beide ihre Rechnung nicht 1815 statt 1870 beglichen! wird ein Geschichtschreiber der Zukunft sagen; Europa Hütte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr als je der Einheit bedurft. Als beide Mächte einander am nötigsten brauchten, stießen sie sich am heftigsten ab. Es muß immer wieder ausgesprochen werden, was auch diese Schrift noch viel energischer hätte betonen können, daß es europäisch-kontinentale Interessen giebt, die den britisch-insularen entgegenzusetzen sind. Folgerichtig ergiebt sich daraus, was die Schrift nicht folgert — man wird sich doch nicht gescheut haben, den Schluß zu ziehen? —, daß, wenn Englands- ungeheurer Landbesitz ni allen Erdteilen und seine Seebeherrschung auf ganz Europa lastet, man

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/299>, abgerufen am 22.07.2024.