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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich
sind"? Und ferner: "Es wird schon der Jugend klar gemacht werden können,
daß die Lehren der Sozialdemokratie praktisch unausführbar sind, und, wenn
sie es nicht wären, die Freiheit der Einzelnen bis in die Häuslichkeit hinein
einem unerträglichen Zwange unterworfen werden würde"?

Über die Brüderlichkeit wird zunächst der Grundsatz aufgestellt: "Mau muß
den Nächsten lieben, d. h. seine Landsleute." Mau darf nicht thun, was mir
dem eignen persönlichen Nutzen dient und ander" schaden kann. "Vor vierzehn
Tagen kam ein wackerer Mann aus der Gegend zu mir und bat mich, an
unsern Abgeordneten einen Brief zu schreiben, damit er verhindern sollte, daß
sein Sohn als Soldat nach Tunis gehe. Ich habe mich selbstverständlich ge¬
weigert. Aber ich habe ihm uicht begreiflich machen können, daß er sehr Un¬
recht habe, da man ja an Stelle seines Sohnes einen andern hinschicken müsse.
Der Mann weiß nicht, was Brüderlichkeit ist." Dann wird der Unterschied
zwischen Brüderlichkeit und Mildthätigkeit besprochen; die eine ist eine Bürger¬
pflicht, die andre eine persönliche Tugend. "Ohne Freiheit kann die Gleich¬
heit die abscheulichste Knechtschaft sein: unter einem Thrannen sind alle gleich;
ohne Brüderlichkeit führt die Freiheit zur Selbstsucht." Es wird niemand in
Abrede stellen, daß der berüchtigte Wahlspruch der französischen Republik nach
der von Paul Berl gegebnen Auslegung von jedem gebildeten Volke zur Richt¬
schnur genommen werden könnte.

Das letzte Kapitel giebt eine Art Kulturgeschichte; es zeigt, wie es in
Frankreich vor der Revolution aussah, und was die Franzose" alles der Re¬
volution zu verdanken haben. Es wird hier von der Leibeigenschaft, den
Fendalrechten, dem Frohndienst, dem Zehnten, dem Meisterrecht und den
Zünften gesprochen.

Dieses der Inhalt des Büchleins, dem ich bei eingehendem Studium sehr
viel Anregung verdanke. Nicht als ob ich es als das unerreichte Muster eines
Schulbuchs ansahe. Was mir aber höchst beachtenswert erscheint, das ist die
Anknüpfung an das tägliche Leben und die volkstümliche Darstellung. Denn
wer möchte nach den angeführten Beispielen behaupten, daß der Gegenstand
die Fassungskraft von zwölfjährigen Jungen übersteige? Vergleicht man freilich
damit die Versuche, die bis jetzt in Deutschland gemacht worden sind, den
Gegenstand ster die Schule zu verwerten, so zeigt sich da eine viel zu große
Vorliebe sür allgemein gehaltene, shstematische Darstellung, ohne daß man
unmittelbar ins Leben hincingriffe. Ich möchte behaupten, daß, wenn man sich
bis jetzt der Frage, ob die Bürgerlehre unter die Unterrichtsgegenstände unsrer
höhern Schulen aufzunehmen sei, größtenteils ablehnend gegenübergestellt hat, nur
der Umstand darau schuld ist, daß wir noch keine passenden Lehrbücher haben/")



Ich möchte aber doch aufmerksam machen auf das liebenswürdige Büchlein des seinem
Wirkungskreise leider so früh entrissenen badischen Oberschulrats Dr. O. Deimling: "Die Seg-

und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich
sind"? Und ferner: „Es wird schon der Jugend klar gemacht werden können,
daß die Lehren der Sozialdemokratie praktisch unausführbar sind, und, wenn
sie es nicht wären, die Freiheit der Einzelnen bis in die Häuslichkeit hinein
einem unerträglichen Zwange unterworfen werden würde"?

Über die Brüderlichkeit wird zunächst der Grundsatz aufgestellt: „Mau muß
den Nächsten lieben, d. h. seine Landsleute." Mau darf nicht thun, was mir
dem eignen persönlichen Nutzen dient und ander» schaden kann. „Vor vierzehn
Tagen kam ein wackerer Mann aus der Gegend zu mir und bat mich, an
unsern Abgeordneten einen Brief zu schreiben, damit er verhindern sollte, daß
sein Sohn als Soldat nach Tunis gehe. Ich habe mich selbstverständlich ge¬
weigert. Aber ich habe ihm uicht begreiflich machen können, daß er sehr Un¬
recht habe, da man ja an Stelle seines Sohnes einen andern hinschicken müsse.
Der Mann weiß nicht, was Brüderlichkeit ist." Dann wird der Unterschied
zwischen Brüderlichkeit und Mildthätigkeit besprochen; die eine ist eine Bürger¬
pflicht, die andre eine persönliche Tugend. „Ohne Freiheit kann die Gleich¬
heit die abscheulichste Knechtschaft sein: unter einem Thrannen sind alle gleich;
ohne Brüderlichkeit führt die Freiheit zur Selbstsucht." Es wird niemand in
Abrede stellen, daß der berüchtigte Wahlspruch der französischen Republik nach
der von Paul Berl gegebnen Auslegung von jedem gebildeten Volke zur Richt¬
schnur genommen werden könnte.

Das letzte Kapitel giebt eine Art Kulturgeschichte; es zeigt, wie es in
Frankreich vor der Revolution aussah, und was die Franzose» alles der Re¬
volution zu verdanken haben. Es wird hier von der Leibeigenschaft, den
Fendalrechten, dem Frohndienst, dem Zehnten, dem Meisterrecht und den
Zünften gesprochen.

Dieses der Inhalt des Büchleins, dem ich bei eingehendem Studium sehr
viel Anregung verdanke. Nicht als ob ich es als das unerreichte Muster eines
Schulbuchs ansahe. Was mir aber höchst beachtenswert erscheint, das ist die
Anknüpfung an das tägliche Leben und die volkstümliche Darstellung. Denn
wer möchte nach den angeführten Beispielen behaupten, daß der Gegenstand
die Fassungskraft von zwölfjährigen Jungen übersteige? Vergleicht man freilich
damit die Versuche, die bis jetzt in Deutschland gemacht worden sind, den
Gegenstand ster die Schule zu verwerten, so zeigt sich da eine viel zu große
Vorliebe sür allgemein gehaltene, shstematische Darstellung, ohne daß man
unmittelbar ins Leben hincingriffe. Ich möchte behaupten, daß, wenn man sich
bis jetzt der Frage, ob die Bürgerlehre unter die Unterrichtsgegenstände unsrer
höhern Schulen aufzunehmen sei, größtenteils ablehnend gegenübergestellt hat, nur
der Umstand darau schuld ist, daß wir noch keine passenden Lehrbücher haben/")



Ich möchte aber doch aufmerksam machen auf das liebenswürdige Büchlein des seinem
Wirkungskreise leider so früh entrissenen badischen Oberschulrats Dr. O. Deimling: „Die Seg-
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[0264] und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind"? Und ferner: „Es wird schon der Jugend klar gemacht werden können, daß die Lehren der Sozialdemokratie praktisch unausführbar sind, und, wenn sie es nicht wären, die Freiheit der Einzelnen bis in die Häuslichkeit hinein einem unerträglichen Zwange unterworfen werden würde"? Über die Brüderlichkeit wird zunächst der Grundsatz aufgestellt: „Mau muß den Nächsten lieben, d. h. seine Landsleute." Mau darf nicht thun, was mir dem eignen persönlichen Nutzen dient und ander» schaden kann. „Vor vierzehn Tagen kam ein wackerer Mann aus der Gegend zu mir und bat mich, an unsern Abgeordneten einen Brief zu schreiben, damit er verhindern sollte, daß sein Sohn als Soldat nach Tunis gehe. Ich habe mich selbstverständlich ge¬ weigert. Aber ich habe ihm uicht begreiflich machen können, daß er sehr Un¬ recht habe, da man ja an Stelle seines Sohnes einen andern hinschicken müsse. Der Mann weiß nicht, was Brüderlichkeit ist." Dann wird der Unterschied zwischen Brüderlichkeit und Mildthätigkeit besprochen; die eine ist eine Bürger¬ pflicht, die andre eine persönliche Tugend. „Ohne Freiheit kann die Gleich¬ heit die abscheulichste Knechtschaft sein: unter einem Thrannen sind alle gleich; ohne Brüderlichkeit führt die Freiheit zur Selbstsucht." Es wird niemand in Abrede stellen, daß der berüchtigte Wahlspruch der französischen Republik nach der von Paul Berl gegebnen Auslegung von jedem gebildeten Volke zur Richt¬ schnur genommen werden könnte. Das letzte Kapitel giebt eine Art Kulturgeschichte; es zeigt, wie es in Frankreich vor der Revolution aussah, und was die Franzose» alles der Re¬ volution zu verdanken haben. Es wird hier von der Leibeigenschaft, den Fendalrechten, dem Frohndienst, dem Zehnten, dem Meisterrecht und den Zünften gesprochen. Dieses der Inhalt des Büchleins, dem ich bei eingehendem Studium sehr viel Anregung verdanke. Nicht als ob ich es als das unerreichte Muster eines Schulbuchs ansahe. Was mir aber höchst beachtenswert erscheint, das ist die Anknüpfung an das tägliche Leben und die volkstümliche Darstellung. Denn wer möchte nach den angeführten Beispielen behaupten, daß der Gegenstand die Fassungskraft von zwölfjährigen Jungen übersteige? Vergleicht man freilich damit die Versuche, die bis jetzt in Deutschland gemacht worden sind, den Gegenstand ster die Schule zu verwerten, so zeigt sich da eine viel zu große Vorliebe sür allgemein gehaltene, shstematische Darstellung, ohne daß man unmittelbar ins Leben hincingriffe. Ich möchte behaupten, daß, wenn man sich bis jetzt der Frage, ob die Bürgerlehre unter die Unterrichtsgegenstände unsrer höhern Schulen aufzunehmen sei, größtenteils ablehnend gegenübergestellt hat, nur der Umstand darau schuld ist, daß wir noch keine passenden Lehrbücher haben/") Ich möchte aber doch aufmerksam machen auf das liebenswürdige Büchlein des seinem Wirkungskreise leider so früh entrissenen badischen Oberschulrats Dr. O. Deimling: „Die Seg-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/264>, abgerufen am 22.07.2024.