Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

ob die moralische Bilanz vor dem göttlichen Richter bei den Tüchtigen oder
bei den Untüchtigen ungünstiger ausfällt. Wären alle Völkerschaften gleich
tüchtig, so würden sie entweder alle gleichmäßig verkümmern, oder es würde
der Kampf jener Löwen entbrennen, die einander bis aus die Schwanzspitzen
ausfressen. Die menschliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne vielfache Un¬
gleichheiten, und uuter diesem spielen die moralischen eine hervorragende Rolle.

Paulsen hat Recht, wenn er den bekannten Fechterkniff der Frommen, die
Materialisten als lasterhafte Menschen zu denunziren. mit Entrüstung verwirft
und erklärt, die sittliche Güte eiues Meuscheu hänge weder von seinem reli¬
giösen Glauben. uoch von seiner Kosmologie ab. Aber er hat Unrecht, wenn
er glaubt, die moralische Weltordnung bei der Preisgebung des Jenseits retten
zu können, und wenn er den Glauben daran für hinlänglich geschützt hält
durch die angebliche innere Unscligkeit des unmoralischen Menschen, die dadurch
noch nicht Thatsache wird, daß gläubige und ungläubige Moralisten überein¬
stimmend davon predigen. "Wer gegen seine Umgebung rücksichtslos, hoch¬
mütig, niederträchtig, boshaft ist. der ruft Abneigung und Haß und das diesen
Gefühlen entsprechende Verhalten hervor. Es giebt aber niemanden, dem dies
völlig gleichgültig wäre." Dazu komme das Schuldbewußtsein, und das mache
einsam..' Als ob jeder Unmoralische ein Tiberius auf Cnpri werdeu müßte.
In Wirklichkeit vcreiusnmen Armut und Unglück weit öfter und gründlicher
als Sünden und selbst Verbrechen. Der große Finanzmann, der durch glück¬
liche SMllatioueu, d. h. durch Beraubung unzähliger Witwen, Waisen und
kleiner Sparer, sich' selbst, seine Familie und seine Freunde bereichert, wird von
diesen angebetet, von den Mächtigen im Staate geehrt und scheidet mit dem
stolzen Vewnßtsein ans dieser Welt, einer der nützlichsten und edelsten Menschen
gewesen und um das Baterland wohl verdient zu sein. Solche Erfahrungen halten
den Maun. der nun einmal so geartet ist, daß er fremdes Gut nicht mag und
lieber Unrecht leidet als Unrecht thut, natürlich nicht ab, zeitlebens rechtschaffen
und gewissenhaft zu bleiben, aber den Glauben an die sittliche Weltordnung
rauben sie ihm. Man kann nämlich sehr wohl sittlich sein, ohne an eine sittliche
Weltordnung zu glauben. Wenn ein solcher Dummkopf oder eigensinniger
Querkopf, wie ihn die Welt nennt. elend untergeht, so stirbt er zwar als ehr¬
licher Manu, aber nicht mit einem Preis der sittlichen Weltordnung auf den
Kippen, sondern mit dem Fluche: Unsinn, dn siegst, nud ich muß untergehn!
Es schöne wohl manchmal so, meint Paulsen, indem er allbekannte und gut
gemeinte Trostlieder wiederholt, als siege das Schlechte, aber wenn auch Unrecht
und Lüge vorübergehend Triumphe feiern: "das Ende trägt die Last!" Ist
denn aber unserm Gerechtigkeitsgefühl dadurch Genüge geschehn, daß Ludwig XVI.
für die Sünden seines Urgroßvaters geköpft wurde? Was schadet es denn
dem Sonnenkönig, daß sein Ururenkel geköpft wird, wenn er nicht im Jenseits
bewußt nud persönlich fortlebt, also nichts davon weiß? Heißt denn das nicht


Grenzboten lV 18W ^

ob die moralische Bilanz vor dem göttlichen Richter bei den Tüchtigen oder
bei den Untüchtigen ungünstiger ausfällt. Wären alle Völkerschaften gleich
tüchtig, so würden sie entweder alle gleichmäßig verkümmern, oder es würde
der Kampf jener Löwen entbrennen, die einander bis aus die Schwanzspitzen
ausfressen. Die menschliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne vielfache Un¬
gleichheiten, und uuter diesem spielen die moralischen eine hervorragende Rolle.

Paulsen hat Recht, wenn er den bekannten Fechterkniff der Frommen, die
Materialisten als lasterhafte Menschen zu denunziren. mit Entrüstung verwirft
und erklärt, die sittliche Güte eiues Meuscheu hänge weder von seinem reli¬
giösen Glauben. uoch von seiner Kosmologie ab. Aber er hat Unrecht, wenn
er glaubt, die moralische Weltordnung bei der Preisgebung des Jenseits retten
zu können, und wenn er den Glauben daran für hinlänglich geschützt hält
durch die angebliche innere Unscligkeit des unmoralischen Menschen, die dadurch
noch nicht Thatsache wird, daß gläubige und ungläubige Moralisten überein¬
stimmend davon predigen. „Wer gegen seine Umgebung rücksichtslos, hoch¬
mütig, niederträchtig, boshaft ist. der ruft Abneigung und Haß und das diesen
Gefühlen entsprechende Verhalten hervor. Es giebt aber niemanden, dem dies
völlig gleichgültig wäre." Dazu komme das Schuldbewußtsein, und das mache
einsam..' Als ob jeder Unmoralische ein Tiberius auf Cnpri werdeu müßte.
In Wirklichkeit vcreiusnmen Armut und Unglück weit öfter und gründlicher
als Sünden und selbst Verbrechen. Der große Finanzmann, der durch glück¬
liche SMllatioueu, d. h. durch Beraubung unzähliger Witwen, Waisen und
kleiner Sparer, sich' selbst, seine Familie und seine Freunde bereichert, wird von
diesen angebetet, von den Mächtigen im Staate geehrt und scheidet mit dem
stolzen Vewnßtsein ans dieser Welt, einer der nützlichsten und edelsten Menschen
gewesen und um das Baterland wohl verdient zu sein. Solche Erfahrungen halten
den Maun. der nun einmal so geartet ist, daß er fremdes Gut nicht mag und
lieber Unrecht leidet als Unrecht thut, natürlich nicht ab, zeitlebens rechtschaffen
und gewissenhaft zu bleiben, aber den Glauben an die sittliche Weltordnung
rauben sie ihm. Man kann nämlich sehr wohl sittlich sein, ohne an eine sittliche
Weltordnung zu glauben. Wenn ein solcher Dummkopf oder eigensinniger
Querkopf, wie ihn die Welt nennt. elend untergeht, so stirbt er zwar als ehr¬
licher Manu, aber nicht mit einem Preis der sittlichen Weltordnung auf den
Kippen, sondern mit dem Fluche: Unsinn, dn siegst, nud ich muß untergehn!
Es schöne wohl manchmal so, meint Paulsen, indem er allbekannte und gut
gemeinte Trostlieder wiederholt, als siege das Schlechte, aber wenn auch Unrecht
und Lüge vorübergehend Triumphe feiern: „das Ende trägt die Last!" Ist
denn aber unserm Gerechtigkeitsgefühl dadurch Genüge geschehn, daß Ludwig XVI.
für die Sünden seines Urgroßvaters geköpft wurde? Was schadet es denn
dem Sonnenkönig, daß sein Ururenkel geköpft wird, wenn er nicht im Jenseits
bewußt nud persönlich fortlebt, also nichts davon weiß? Heißt denn das nicht


Grenzboten lV 18W ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215749"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_40" prev="#ID_39"> ob die moralische Bilanz vor dem göttlichen Richter bei den Tüchtigen oder<lb/>
bei den Untüchtigen ungünstiger ausfällt. Wären alle Völkerschaften gleich<lb/>
tüchtig, so würden sie entweder alle gleichmäßig verkümmern, oder es würde<lb/>
der Kampf jener Löwen entbrennen, die einander bis aus die Schwanzspitzen<lb/>
ausfressen. Die menschliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne vielfache Un¬<lb/>
gleichheiten, und uuter diesem spielen die moralischen eine hervorragende Rolle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Paulsen hat Recht, wenn er den bekannten Fechterkniff der Frommen, die<lb/>
Materialisten als lasterhafte Menschen zu denunziren. mit Entrüstung verwirft<lb/>
und erklärt, die sittliche Güte eiues Meuscheu hänge weder von seinem reli¬<lb/>
giösen Glauben. uoch von seiner Kosmologie ab. Aber er hat Unrecht, wenn<lb/>
er glaubt, die moralische Weltordnung bei der Preisgebung des Jenseits retten<lb/>
zu können, und wenn er den Glauben daran für hinlänglich geschützt hält<lb/>
durch die angebliche innere Unscligkeit des unmoralischen Menschen, die dadurch<lb/>
noch nicht Thatsache wird, daß gläubige und ungläubige Moralisten überein¬<lb/>
stimmend davon predigen. &#x201E;Wer gegen seine Umgebung rücksichtslos, hoch¬<lb/>
mütig, niederträchtig, boshaft ist. der ruft Abneigung und Haß und das diesen<lb/>
Gefühlen entsprechende Verhalten hervor. Es giebt aber niemanden, dem dies<lb/>
völlig gleichgültig wäre." Dazu komme das Schuldbewußtsein, und das mache<lb/>
einsam..' Als ob jeder Unmoralische ein Tiberius auf Cnpri werdeu müßte.<lb/>
In Wirklichkeit vcreiusnmen Armut und Unglück weit öfter und gründlicher<lb/>
als Sünden und selbst Verbrechen. Der große Finanzmann, der durch glück¬<lb/>
liche SMllatioueu, d. h. durch Beraubung unzähliger Witwen, Waisen und<lb/>
kleiner Sparer, sich' selbst, seine Familie und seine Freunde bereichert, wird von<lb/>
diesen angebetet, von den Mächtigen im Staate geehrt und scheidet mit dem<lb/>
stolzen Vewnßtsein ans dieser Welt, einer der nützlichsten und edelsten Menschen<lb/>
gewesen und um das Baterland wohl verdient zu sein. Solche Erfahrungen halten<lb/>
den Maun. der nun einmal so geartet ist, daß er fremdes Gut nicht mag und<lb/>
lieber Unrecht leidet als Unrecht thut, natürlich nicht ab, zeitlebens rechtschaffen<lb/>
und gewissenhaft zu bleiben, aber den Glauben an die sittliche Weltordnung<lb/>
rauben sie ihm. Man kann nämlich sehr wohl sittlich sein, ohne an eine sittliche<lb/>
Weltordnung zu glauben. Wenn ein solcher Dummkopf oder eigensinniger<lb/>
Querkopf, wie ihn die Welt nennt. elend untergeht, so stirbt er zwar als ehr¬<lb/>
licher Manu, aber nicht mit einem Preis der sittlichen Weltordnung auf den<lb/>
Kippen, sondern mit dem Fluche: Unsinn, dn siegst, nud ich muß untergehn!<lb/>
Es schöne wohl manchmal so, meint Paulsen, indem er allbekannte und gut<lb/>
gemeinte Trostlieder wiederholt, als siege das Schlechte, aber wenn auch Unrecht<lb/>
und Lüge vorübergehend Triumphe feiern: &#x201E;das Ende trägt die Last!" Ist<lb/>
denn aber unserm Gerechtigkeitsgefühl dadurch Genüge geschehn, daß Ludwig XVI.<lb/>
für die Sünden seines Urgroßvaters geköpft wurde? Was schadet es denn<lb/>
dem Sonnenkönig, daß sein Ururenkel geköpft wird, wenn er nicht im Jenseits<lb/>
bewußt nud persönlich fortlebt, also nichts davon weiß? Heißt denn das nicht</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten lV 18W ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] ob die moralische Bilanz vor dem göttlichen Richter bei den Tüchtigen oder bei den Untüchtigen ungünstiger ausfällt. Wären alle Völkerschaften gleich tüchtig, so würden sie entweder alle gleichmäßig verkümmern, oder es würde der Kampf jener Löwen entbrennen, die einander bis aus die Schwanzspitzen ausfressen. Die menschliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne vielfache Un¬ gleichheiten, und uuter diesem spielen die moralischen eine hervorragende Rolle. Paulsen hat Recht, wenn er den bekannten Fechterkniff der Frommen, die Materialisten als lasterhafte Menschen zu denunziren. mit Entrüstung verwirft und erklärt, die sittliche Güte eiues Meuscheu hänge weder von seinem reli¬ giösen Glauben. uoch von seiner Kosmologie ab. Aber er hat Unrecht, wenn er glaubt, die moralische Weltordnung bei der Preisgebung des Jenseits retten zu können, und wenn er den Glauben daran für hinlänglich geschützt hält durch die angebliche innere Unscligkeit des unmoralischen Menschen, die dadurch noch nicht Thatsache wird, daß gläubige und ungläubige Moralisten überein¬ stimmend davon predigen. „Wer gegen seine Umgebung rücksichtslos, hoch¬ mütig, niederträchtig, boshaft ist. der ruft Abneigung und Haß und das diesen Gefühlen entsprechende Verhalten hervor. Es giebt aber niemanden, dem dies völlig gleichgültig wäre." Dazu komme das Schuldbewußtsein, und das mache einsam..' Als ob jeder Unmoralische ein Tiberius auf Cnpri werdeu müßte. In Wirklichkeit vcreiusnmen Armut und Unglück weit öfter und gründlicher als Sünden und selbst Verbrechen. Der große Finanzmann, der durch glück¬ liche SMllatioueu, d. h. durch Beraubung unzähliger Witwen, Waisen und kleiner Sparer, sich' selbst, seine Familie und seine Freunde bereichert, wird von diesen angebetet, von den Mächtigen im Staate geehrt und scheidet mit dem stolzen Vewnßtsein ans dieser Welt, einer der nützlichsten und edelsten Menschen gewesen und um das Baterland wohl verdient zu sein. Solche Erfahrungen halten den Maun. der nun einmal so geartet ist, daß er fremdes Gut nicht mag und lieber Unrecht leidet als Unrecht thut, natürlich nicht ab, zeitlebens rechtschaffen und gewissenhaft zu bleiben, aber den Glauben an die sittliche Weltordnung rauben sie ihm. Man kann nämlich sehr wohl sittlich sein, ohne an eine sittliche Weltordnung zu glauben. Wenn ein solcher Dummkopf oder eigensinniger Querkopf, wie ihn die Welt nennt. elend untergeht, so stirbt er zwar als ehr¬ licher Manu, aber nicht mit einem Preis der sittlichen Weltordnung auf den Kippen, sondern mit dem Fluche: Unsinn, dn siegst, nud ich muß untergehn! Es schöne wohl manchmal so, meint Paulsen, indem er allbekannte und gut gemeinte Trostlieder wiederholt, als siege das Schlechte, aber wenn auch Unrecht und Lüge vorübergehend Triumphe feiern: „das Ende trägt die Last!" Ist denn aber unserm Gerechtigkeitsgefühl dadurch Genüge geschehn, daß Ludwig XVI. für die Sünden seines Urgroßvaters geköpft wurde? Was schadet es denn dem Sonnenkönig, daß sein Ururenkel geköpft wird, wenn er nicht im Jenseits bewußt nud persönlich fortlebt, also nichts davon weiß? Heißt denn das nicht Grenzboten lV 18W ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/25>, abgerufen am 04.07.2024.