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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindriicke ans England

schritte macht! Leider gelang es mir nicht, an einen Gewerkverein selbst hinan¬
zukommen. Zwei Arbeiter, mit denen ich längere Gespräche führen konnte,
wollten aber nichts von ihnen wissen. Der eine, ein junger Matrose, war
ausgetreten, weil ihm die Beiträge zu hoch waren, der andre, ein älterer be¬
schäftigungsloser Londoner Warenhausnrbeiter, der im Hhdepark neben mir auf
einer Bank Platz nahm, meinte, die Unionen verwendeten ihre Mittel nur auf
Streiks, unterstützten ihre Mitglieder auch nur während der Aufstände und
kümmerten sich sonst nicht weiter um sie. Er verurteilte die Streiks, da die
Arbeiter mit den Masters die gleichen Interessen hätten und nur im Einver¬
nehmen mit ihnen ihre Lage verbessern könnten.

Es ist nicht zu verkennen, daß die politische Freiheit, die bedingungslos
anerkannte bürgerliche Gleichberechtigung jedes eingebornen Briten doch viel
dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Gegensätze zu mildern. Auch der niedrigste
Arbeiter hat im Gespräch mit höher stehenden nichts von Unterwürfigkeit in
seiner Haltung. Beide geben sich gewissenhaft das piepse und Annika ^on, mit
dem das Erbieten und Gewähren jeder, auch der geringsten Dienstleistung ver¬
bunden wird. Auch im Verkehr der Beamten mit dem Publikum habe ich nie
den herrischen, hochfahrenden Ton zu hören bekomme", der leider in Deutsch¬
land noch vielfach Mode ist. Freilich der Begriff des respektabeln Gentlemans
geht nur bis zu einer ganz bestimmten Grenze. Im Londoner Volkspalast
lautete die Aufschrift auf den Bedürfnisanstalten einfach: l'or insn, statt wie
sonst überall: lor MuUvmöv, Daß aber politisch eine freiere Luft über den
britischen Inseln weht, ist keine Frage. Der Polieeman erscheint mehr nur
als Beschützer der Schwachen, in London auch als willkommner Ratgeber in
allerlei Verlegenheiten. Eine Menge der festländischen Polizeivorschriften müssen
dem Engländer notwendig kleinlich vorkommen. Wie oft ich in London und
allen großen Provinzialstndten den Thatbestand des "groben Unfugs" ver¬
wirklicht sah, ohne daß ein Hahn darnach krähte, ist nicht zu zählen. Den
Kinderwagen gehörte das Trottoir, die Zeitungsjungen hatten die große fett¬
gedruckte Inhaltsangabe, die alle Tagesblätter ihren Verkäufern als Plakat
mitgeben, mit kleinen Steinen beschwert überall auf der Fahrbahn oder den
Bürgersteigen ausgebreitet, Maler zeichneten farbige Landschaften auf die Stein¬
platten, der Verkehr -- und was für ein Verkehr! -- ging ruhig daran vorbei
oder darüber hinweg. Wenn grober Unfug nach der klassischen Begriffsbestim¬
mung unsrer "Motive" die "Belästigung des Publikums in seiner Allgemein¬
heit" ist, so versteht der Engländer eben die Kunst, sich durch dergleichen
Dinge nicht belästigen zu lassen. Laß mich gewähren, ich lasse dich auch ge¬
währen! Laßt dem armen Teufel sich eiuen Perus verdienen, wenn es mich
nicht mehr als einen Schritt Umweg kostet! Am Towerhill in London hatten
einige verwogne Gestalten eine rote Fahne aufgesteckt, um ein sozialistisches
oder auch anarchistisches Meeting abzuhalten. Der einzige Zuschauer, den sie


Reiseeindriicke ans England

schritte macht! Leider gelang es mir nicht, an einen Gewerkverein selbst hinan¬
zukommen. Zwei Arbeiter, mit denen ich längere Gespräche führen konnte,
wollten aber nichts von ihnen wissen. Der eine, ein junger Matrose, war
ausgetreten, weil ihm die Beiträge zu hoch waren, der andre, ein älterer be¬
schäftigungsloser Londoner Warenhausnrbeiter, der im Hhdepark neben mir auf
einer Bank Platz nahm, meinte, die Unionen verwendeten ihre Mittel nur auf
Streiks, unterstützten ihre Mitglieder auch nur während der Aufstände und
kümmerten sich sonst nicht weiter um sie. Er verurteilte die Streiks, da die
Arbeiter mit den Masters die gleichen Interessen hätten und nur im Einver¬
nehmen mit ihnen ihre Lage verbessern könnten.

Es ist nicht zu verkennen, daß die politische Freiheit, die bedingungslos
anerkannte bürgerliche Gleichberechtigung jedes eingebornen Briten doch viel
dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Gegensätze zu mildern. Auch der niedrigste
Arbeiter hat im Gespräch mit höher stehenden nichts von Unterwürfigkeit in
seiner Haltung. Beide geben sich gewissenhaft das piepse und Annika ^on, mit
dem das Erbieten und Gewähren jeder, auch der geringsten Dienstleistung ver¬
bunden wird. Auch im Verkehr der Beamten mit dem Publikum habe ich nie
den herrischen, hochfahrenden Ton zu hören bekomme», der leider in Deutsch¬
land noch vielfach Mode ist. Freilich der Begriff des respektabeln Gentlemans
geht nur bis zu einer ganz bestimmten Grenze. Im Londoner Volkspalast
lautete die Aufschrift auf den Bedürfnisanstalten einfach: l'or insn, statt wie
sonst überall: lor MuUvmöv, Daß aber politisch eine freiere Luft über den
britischen Inseln weht, ist keine Frage. Der Polieeman erscheint mehr nur
als Beschützer der Schwachen, in London auch als willkommner Ratgeber in
allerlei Verlegenheiten. Eine Menge der festländischen Polizeivorschriften müssen
dem Engländer notwendig kleinlich vorkommen. Wie oft ich in London und
allen großen Provinzialstndten den Thatbestand des „groben Unfugs" ver¬
wirklicht sah, ohne daß ein Hahn darnach krähte, ist nicht zu zählen. Den
Kinderwagen gehörte das Trottoir, die Zeitungsjungen hatten die große fett¬
gedruckte Inhaltsangabe, die alle Tagesblätter ihren Verkäufern als Plakat
mitgeben, mit kleinen Steinen beschwert überall auf der Fahrbahn oder den
Bürgersteigen ausgebreitet, Maler zeichneten farbige Landschaften auf die Stein¬
platten, der Verkehr — und was für ein Verkehr! — ging ruhig daran vorbei
oder darüber hinweg. Wenn grober Unfug nach der klassischen Begriffsbestim¬
mung unsrer „Motive" die „Belästigung des Publikums in seiner Allgemein¬
heit" ist, so versteht der Engländer eben die Kunst, sich durch dergleichen
Dinge nicht belästigen zu lassen. Laß mich gewähren, ich lasse dich auch ge¬
währen! Laßt dem armen Teufel sich eiuen Perus verdienen, wenn es mich
nicht mehr als einen Schritt Umweg kostet! Am Towerhill in London hatten
einige verwogne Gestalten eine rote Fahne aufgesteckt, um ein sozialistisches
oder auch anarchistisches Meeting abzuhalten. Der einzige Zuschauer, den sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/240>, abgerufen am 22.07.2024.