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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindrücke aus England

auf London Bridge und schaue die in den Nischen herumlungernden und
hungernden Jammergestalten, lies an den Polizeilokalen in Whitechapel die
Tafeln, an denen das unheimliche et6g,et tormä angeschlagen steht, oder gehe in
die vornehmen Parks des Westends, wo dicht neben den Karossen der Aristo¬
kratie fragwürdige Schläfer auf dem Rasen ausgestreckt liegen! Ich sah in
Liverpool am Sonntag Nachmittag auf dem von wohlgekleideter Menschen
angefüllten Pierhead einige so grauenhaft zerlumpte und zerfetzte irische Ge¬
stalten, wie man sie in Deutschland selbst auf der Heerstraße nicht finden wird.
In Manchester waren die Bänke auf dem schönen grünen Platz vor der Jn-
firmary, an denen der gewaltige Tagesverkehr vorüberflutete, mit Arbeitslosen
jeden Alters und jeden Geschlechts angefüllt, die ein Heim überhaupt nicht zu
kennen schienen. Ich kann das bleiche, grell von der Sonne beschienene Gesicht
eines in ein schmutziges Tuch gehüllten Weibes nicht vergessen, das, den Kopf
weit hinten über den Rücksitz gelehnt, wie eine Tote schlief. Es giebt auch
keine gefällige Polizei, die solche unästhetische Anblicke dem bessern Publikum
zu verhüllen suchte. Der Engländer geht, wie ich genau beobachtet habe,
daran nicht stumpfsinnig vorüber. Er sieht es wohl, und vielleicht erklärt das
täglich vor ihm stehende Mene Tekel die ungeheure Wohlthätigkeit, die im
großen wie im kleinen in England geübt wird und einen der schönsten natio¬
nalen Züge bildet. Allerorten sieht man Kranken- und Waisenhäuser, Wohl-
thätigkeits- und Volksbildungsanstalten aller Art mit der Aufschrift: Nur durch
freiwillige Beiträge erhalten. Besonders schön ist der Volkspalast im Ostend
von London. Ich fand seine Räume und Anlagen, namentlich aber auch, trotz
des schönen Sommerabends, den mustergilig eingerichteten Lesesaal dicht von
Männern, Frauen und Mädchen angefüllt. Ein schönes Beispiel davon, was
die Selbsthilfe in England zustande bringt, gab mir der Besuch des großartigen
Warmhauses der Wholesale Society, des Verbandes der englischen Konsum¬
vereine in Manchester. Die gewaltigen Lagerräume machen ein ganzes Straßen¬
viertel aus, der Kontorsaal war von etwa zweihundert Schreibern gefüllt. Die
Gesellschaft läßt sechs eigne Seedampfer laufen, machte im Jahre 1892 einen
Wareunmsatz von 9300904 Pfund Sterling und sicherte 824149 Mitgliedern
d. h. Haushaltungen die Vorteile des direkten Einkaufs. Dabei empfängt
der technische Leiter des Riesennnternehmens einen Gehalt, der den eines
kleinen Beamten nicht übersteigt.

Und doch haben sich weder die Privatwohlthütigkeit, noch die in großen
Vereinigungen organisirte Gesellschaft, allen voran die Hochkirche, noch die ge¬
waltigen, eignen Anstrengungen der arbeitenden Klassen bis jetzt der ungeheuern
Aufgabe gewachsen gezeigt, die Sünden kaum eines halben Jahrhunderts wieder
gut zu machen. Was Wunder, daß auch in England der Ruf nach Staats¬
hilfe lauter und lauter ertönt, und daß der Sozialismus selbst unter den Ge¬
werkvereinen, bis vor kurzem noch seinen stärksten Widersachern, ungeahnte Fort-


Reiseeindrücke aus England

auf London Bridge und schaue die in den Nischen herumlungernden und
hungernden Jammergestalten, lies an den Polizeilokalen in Whitechapel die
Tafeln, an denen das unheimliche et6g,et tormä angeschlagen steht, oder gehe in
die vornehmen Parks des Westends, wo dicht neben den Karossen der Aristo¬
kratie fragwürdige Schläfer auf dem Rasen ausgestreckt liegen! Ich sah in
Liverpool am Sonntag Nachmittag auf dem von wohlgekleideter Menschen
angefüllten Pierhead einige so grauenhaft zerlumpte und zerfetzte irische Ge¬
stalten, wie man sie in Deutschland selbst auf der Heerstraße nicht finden wird.
In Manchester waren die Bänke auf dem schönen grünen Platz vor der Jn-
firmary, an denen der gewaltige Tagesverkehr vorüberflutete, mit Arbeitslosen
jeden Alters und jeden Geschlechts angefüllt, die ein Heim überhaupt nicht zu
kennen schienen. Ich kann das bleiche, grell von der Sonne beschienene Gesicht
eines in ein schmutziges Tuch gehüllten Weibes nicht vergessen, das, den Kopf
weit hinten über den Rücksitz gelehnt, wie eine Tote schlief. Es giebt auch
keine gefällige Polizei, die solche unästhetische Anblicke dem bessern Publikum
zu verhüllen suchte. Der Engländer geht, wie ich genau beobachtet habe,
daran nicht stumpfsinnig vorüber. Er sieht es wohl, und vielleicht erklärt das
täglich vor ihm stehende Mene Tekel die ungeheure Wohlthätigkeit, die im
großen wie im kleinen in England geübt wird und einen der schönsten natio¬
nalen Züge bildet. Allerorten sieht man Kranken- und Waisenhäuser, Wohl-
thätigkeits- und Volksbildungsanstalten aller Art mit der Aufschrift: Nur durch
freiwillige Beiträge erhalten. Besonders schön ist der Volkspalast im Ostend
von London. Ich fand seine Räume und Anlagen, namentlich aber auch, trotz
des schönen Sommerabends, den mustergilig eingerichteten Lesesaal dicht von
Männern, Frauen und Mädchen angefüllt. Ein schönes Beispiel davon, was
die Selbsthilfe in England zustande bringt, gab mir der Besuch des großartigen
Warmhauses der Wholesale Society, des Verbandes der englischen Konsum¬
vereine in Manchester. Die gewaltigen Lagerräume machen ein ganzes Straßen¬
viertel aus, der Kontorsaal war von etwa zweihundert Schreibern gefüllt. Die
Gesellschaft läßt sechs eigne Seedampfer laufen, machte im Jahre 1892 einen
Wareunmsatz von 9300904 Pfund Sterling und sicherte 824149 Mitgliedern
d. h. Haushaltungen die Vorteile des direkten Einkaufs. Dabei empfängt
der technische Leiter des Riesennnternehmens einen Gehalt, der den eines
kleinen Beamten nicht übersteigt.

Und doch haben sich weder die Privatwohlthütigkeit, noch die in großen
Vereinigungen organisirte Gesellschaft, allen voran die Hochkirche, noch die ge¬
waltigen, eignen Anstrengungen der arbeitenden Klassen bis jetzt der ungeheuern
Aufgabe gewachsen gezeigt, die Sünden kaum eines halben Jahrhunderts wieder
gut zu machen. Was Wunder, daß auch in England der Ruf nach Staats¬
hilfe lauter und lauter ertönt, und daß der Sozialismus selbst unter den Ge¬
werkvereinen, bis vor kurzem noch seinen stärksten Widersachern, ungeahnte Fort-


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[0239] Reiseeindrücke aus England auf London Bridge und schaue die in den Nischen herumlungernden und hungernden Jammergestalten, lies an den Polizeilokalen in Whitechapel die Tafeln, an denen das unheimliche et6g,et tormä angeschlagen steht, oder gehe in die vornehmen Parks des Westends, wo dicht neben den Karossen der Aristo¬ kratie fragwürdige Schläfer auf dem Rasen ausgestreckt liegen! Ich sah in Liverpool am Sonntag Nachmittag auf dem von wohlgekleideter Menschen angefüllten Pierhead einige so grauenhaft zerlumpte und zerfetzte irische Ge¬ stalten, wie man sie in Deutschland selbst auf der Heerstraße nicht finden wird. In Manchester waren die Bänke auf dem schönen grünen Platz vor der Jn- firmary, an denen der gewaltige Tagesverkehr vorüberflutete, mit Arbeitslosen jeden Alters und jeden Geschlechts angefüllt, die ein Heim überhaupt nicht zu kennen schienen. Ich kann das bleiche, grell von der Sonne beschienene Gesicht eines in ein schmutziges Tuch gehüllten Weibes nicht vergessen, das, den Kopf weit hinten über den Rücksitz gelehnt, wie eine Tote schlief. Es giebt auch keine gefällige Polizei, die solche unästhetische Anblicke dem bessern Publikum zu verhüllen suchte. Der Engländer geht, wie ich genau beobachtet habe, daran nicht stumpfsinnig vorüber. Er sieht es wohl, und vielleicht erklärt das täglich vor ihm stehende Mene Tekel die ungeheure Wohlthätigkeit, die im großen wie im kleinen in England geübt wird und einen der schönsten natio¬ nalen Züge bildet. Allerorten sieht man Kranken- und Waisenhäuser, Wohl- thätigkeits- und Volksbildungsanstalten aller Art mit der Aufschrift: Nur durch freiwillige Beiträge erhalten. Besonders schön ist der Volkspalast im Ostend von London. Ich fand seine Räume und Anlagen, namentlich aber auch, trotz des schönen Sommerabends, den mustergilig eingerichteten Lesesaal dicht von Männern, Frauen und Mädchen angefüllt. Ein schönes Beispiel davon, was die Selbsthilfe in England zustande bringt, gab mir der Besuch des großartigen Warmhauses der Wholesale Society, des Verbandes der englischen Konsum¬ vereine in Manchester. Die gewaltigen Lagerräume machen ein ganzes Straßen¬ viertel aus, der Kontorsaal war von etwa zweihundert Schreibern gefüllt. Die Gesellschaft läßt sechs eigne Seedampfer laufen, machte im Jahre 1892 einen Wareunmsatz von 9300904 Pfund Sterling und sicherte 824149 Mitgliedern d. h. Haushaltungen die Vorteile des direkten Einkaufs. Dabei empfängt der technische Leiter des Riesennnternehmens einen Gehalt, der den eines kleinen Beamten nicht übersteigt. Und doch haben sich weder die Privatwohlthütigkeit, noch die in großen Vereinigungen organisirte Gesellschaft, allen voran die Hochkirche, noch die ge¬ waltigen, eignen Anstrengungen der arbeitenden Klassen bis jetzt der ungeheuern Aufgabe gewachsen gezeigt, die Sünden kaum eines halben Jahrhunderts wieder gut zu machen. Was Wunder, daß auch in England der Ruf nach Staats¬ hilfe lauter und lauter ertönt, und daß der Sozialismus selbst unter den Ge¬ werkvereinen, bis vor kurzem noch seinen stärksten Widersachern, ungeahnte Fort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/239>, abgerufen am 02.10.2024.