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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindrücke aus England

Weder Indien gegen die Russen noch Kanada gegen die Vereinigten Staaten
wird behaupten können, von der Gefahr eines französischen Einfalls ganz zu
schweigen. Daß die Zeiten vorüber sind, wo andre Nationen die Kastanien sür
Albion aus dem Feuer holten, leuchtet auch dem betrübten John Bull langsam
ein. Sicher besitzt aber Großbritannien noch Hunderttausende des schönsten
Soldatenmaterials. Wie lange es noch zögern darf, dieses Material mit Hilfe
der allgemeinen Wehrpflicht zu organisiren und zu diszipliniren, das zu be¬
urteilen ist seine Sache. Wenn die nationale Existenzfrage einst dringender
an England herantreten wird -- und sie wird ihm in seinen Kolonie" gestellt
werden, ohne die es buchstäblich am Hungertode sterben müßte --, so wird
alles darauf ankommen, ob es einen Staatsmann besitzen wird, der sein Volk
von der Notwendigkeit persönlicher Opfer zu überzeugen und es zu dem be¬
geisterten Entschlüsse, sie auch wirklich zu bringen, hinzureißen vermag. Die
kurzsichtige Demokratie, die heute am Nuder sitzt, sieht nicht darnach aus, als
ob dieser Staatsmann aus ihren Reihen geboren werden sollte. Hat man
aber die charaktervoller Gestalten der großen Staatsmänner bewundert, die in
herrlichen Statuen die Vorhalle des Parlamentsgebüudes schmücken, und sieht
man dann im Hause der Gemeinen (ich wohnte einer Sitzung bei) dieselben
männlichen Erscheinungen und Charakterköpfe vertreten, so kann man den Glauben
nicht aufgeben, daß diesem kernigen Volke auch künftig in der Stunde der Ge¬
fahr der rechte Mann nicht fehlen werde. Die Engländer wissen heute ganz
genau, warum sie uns um unsern Bismarck beneiden.

Wenn freilich der wirtschaftliche Niedergang, in dem sich, auch dem Auge
des Fremden erkennbar, heute England ebenso wie alle andern Nationen befindet,
von Dauer sein sollte, so kann ein großer Staatsmann auch für England
leicht zu spät kommen. Die körperliche und moralische Kraft der Nation ist
davon abhängig, daß sie imstande bleibt, ihre hohe Lebensführung nicht nur
in dem bisherigen Umfange aufrecht zu erhalten, sondern auch Millionen von
Proletariern noch daran teilnehmen zu lassen. Dies ist die nationale Be¬
deutung der schweren Lohnkämpfe, die die arbeitende Klasse Englands jetzt
eben in dem großen Kohlenstreik zu ihrer Verteidigung besteht, und die sie bei
bessern Konjunkturell auch angriffsweise weiter führen wird. Die Lohnfrage
läuft in England wie in allen Kulturländern praktisch heute noch darauf hinaus,
ob es den Arbeitern gelingen wird, von dem Unternehmergewinn soviel weg¬
sind auf den Arbeitslohn herüberzuziehen, daß sich überhaupt noch Unternehmer
zur Hingabe des Kapitals für produktive Zwecke und zur Leitung der Unter¬
nehmungen finden. Was aber dann, wenn sie sich nicht mehr finden werden?
Sollen dann Genossenschaften, soll der Staat, soll die Gesellschaft an ihre
Stelle treten? England scheint berufen, einst auch auf diese Fragen die erste
Antwort geben zu müssen. Auch der flüchtige Besucher gewinnt eine Vorstellung,
welch unsägliches Elend in England noch zu lindern ist. Mache einen Gang


Reiseeindrücke aus England

Weder Indien gegen die Russen noch Kanada gegen die Vereinigten Staaten
wird behaupten können, von der Gefahr eines französischen Einfalls ganz zu
schweigen. Daß die Zeiten vorüber sind, wo andre Nationen die Kastanien sür
Albion aus dem Feuer holten, leuchtet auch dem betrübten John Bull langsam
ein. Sicher besitzt aber Großbritannien noch Hunderttausende des schönsten
Soldatenmaterials. Wie lange es noch zögern darf, dieses Material mit Hilfe
der allgemeinen Wehrpflicht zu organisiren und zu diszipliniren, das zu be¬
urteilen ist seine Sache. Wenn die nationale Existenzfrage einst dringender
an England herantreten wird — und sie wird ihm in seinen Kolonie» gestellt
werden, ohne die es buchstäblich am Hungertode sterben müßte —, so wird
alles darauf ankommen, ob es einen Staatsmann besitzen wird, der sein Volk
von der Notwendigkeit persönlicher Opfer zu überzeugen und es zu dem be¬
geisterten Entschlüsse, sie auch wirklich zu bringen, hinzureißen vermag. Die
kurzsichtige Demokratie, die heute am Nuder sitzt, sieht nicht darnach aus, als
ob dieser Staatsmann aus ihren Reihen geboren werden sollte. Hat man
aber die charaktervoller Gestalten der großen Staatsmänner bewundert, die in
herrlichen Statuen die Vorhalle des Parlamentsgebüudes schmücken, und sieht
man dann im Hause der Gemeinen (ich wohnte einer Sitzung bei) dieselben
männlichen Erscheinungen und Charakterköpfe vertreten, so kann man den Glauben
nicht aufgeben, daß diesem kernigen Volke auch künftig in der Stunde der Ge¬
fahr der rechte Mann nicht fehlen werde. Die Engländer wissen heute ganz
genau, warum sie uns um unsern Bismarck beneiden.

Wenn freilich der wirtschaftliche Niedergang, in dem sich, auch dem Auge
des Fremden erkennbar, heute England ebenso wie alle andern Nationen befindet,
von Dauer sein sollte, so kann ein großer Staatsmann auch für England
leicht zu spät kommen. Die körperliche und moralische Kraft der Nation ist
davon abhängig, daß sie imstande bleibt, ihre hohe Lebensführung nicht nur
in dem bisherigen Umfange aufrecht zu erhalten, sondern auch Millionen von
Proletariern noch daran teilnehmen zu lassen. Dies ist die nationale Be¬
deutung der schweren Lohnkämpfe, die die arbeitende Klasse Englands jetzt
eben in dem großen Kohlenstreik zu ihrer Verteidigung besteht, und die sie bei
bessern Konjunkturell auch angriffsweise weiter führen wird. Die Lohnfrage
läuft in England wie in allen Kulturländern praktisch heute noch darauf hinaus,
ob es den Arbeitern gelingen wird, von dem Unternehmergewinn soviel weg¬
sind auf den Arbeitslohn herüberzuziehen, daß sich überhaupt noch Unternehmer
zur Hingabe des Kapitals für produktive Zwecke und zur Leitung der Unter¬
nehmungen finden. Was aber dann, wenn sie sich nicht mehr finden werden?
Sollen dann Genossenschaften, soll der Staat, soll die Gesellschaft an ihre
Stelle treten? England scheint berufen, einst auch auf diese Fragen die erste
Antwort geben zu müssen. Auch der flüchtige Besucher gewinnt eine Vorstellung,
welch unsägliches Elend in England noch zu lindern ist. Mache einen Gang


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[0238] Reiseeindrücke aus England Weder Indien gegen die Russen noch Kanada gegen die Vereinigten Staaten wird behaupten können, von der Gefahr eines französischen Einfalls ganz zu schweigen. Daß die Zeiten vorüber sind, wo andre Nationen die Kastanien sür Albion aus dem Feuer holten, leuchtet auch dem betrübten John Bull langsam ein. Sicher besitzt aber Großbritannien noch Hunderttausende des schönsten Soldatenmaterials. Wie lange es noch zögern darf, dieses Material mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht zu organisiren und zu diszipliniren, das zu be¬ urteilen ist seine Sache. Wenn die nationale Existenzfrage einst dringender an England herantreten wird — und sie wird ihm in seinen Kolonie» gestellt werden, ohne die es buchstäblich am Hungertode sterben müßte —, so wird alles darauf ankommen, ob es einen Staatsmann besitzen wird, der sein Volk von der Notwendigkeit persönlicher Opfer zu überzeugen und es zu dem be¬ geisterten Entschlüsse, sie auch wirklich zu bringen, hinzureißen vermag. Die kurzsichtige Demokratie, die heute am Nuder sitzt, sieht nicht darnach aus, als ob dieser Staatsmann aus ihren Reihen geboren werden sollte. Hat man aber die charaktervoller Gestalten der großen Staatsmänner bewundert, die in herrlichen Statuen die Vorhalle des Parlamentsgebüudes schmücken, und sieht man dann im Hause der Gemeinen (ich wohnte einer Sitzung bei) dieselben männlichen Erscheinungen und Charakterköpfe vertreten, so kann man den Glauben nicht aufgeben, daß diesem kernigen Volke auch künftig in der Stunde der Ge¬ fahr der rechte Mann nicht fehlen werde. Die Engländer wissen heute ganz genau, warum sie uns um unsern Bismarck beneiden. Wenn freilich der wirtschaftliche Niedergang, in dem sich, auch dem Auge des Fremden erkennbar, heute England ebenso wie alle andern Nationen befindet, von Dauer sein sollte, so kann ein großer Staatsmann auch für England leicht zu spät kommen. Die körperliche und moralische Kraft der Nation ist davon abhängig, daß sie imstande bleibt, ihre hohe Lebensführung nicht nur in dem bisherigen Umfange aufrecht zu erhalten, sondern auch Millionen von Proletariern noch daran teilnehmen zu lassen. Dies ist die nationale Be¬ deutung der schweren Lohnkämpfe, die die arbeitende Klasse Englands jetzt eben in dem großen Kohlenstreik zu ihrer Verteidigung besteht, und die sie bei bessern Konjunkturell auch angriffsweise weiter führen wird. Die Lohnfrage läuft in England wie in allen Kulturländern praktisch heute noch darauf hinaus, ob es den Arbeitern gelingen wird, von dem Unternehmergewinn soviel weg¬ sind auf den Arbeitslohn herüberzuziehen, daß sich überhaupt noch Unternehmer zur Hingabe des Kapitals für produktive Zwecke und zur Leitung der Unter¬ nehmungen finden. Was aber dann, wenn sie sich nicht mehr finden werden? Sollen dann Genossenschaften, soll der Staat, soll die Gesellschaft an ihre Stelle treten? England scheint berufen, einst auch auf diese Fragen die erste Antwort geben zu müssen. Auch der flüchtige Besucher gewinnt eine Vorstellung, welch unsägliches Elend in England noch zu lindern ist. Mache einen Gang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/238>, abgerufen am 25.08.2024.