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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindriicke aus England

sicher sein darf, von der andern Seite nie mißbraucht zu werden, oder eine
sehr feste weibliche Tugend vorauszusetzen. Wie es unter der Oberfläche aus¬
sieht, weiß ich nicht. Es machte mich aber doch stutzig, in den großen Tages¬
blättern die stehenden Ankündigungen von Londoner Detektivbüreans zu lesen,
die sich unter der Spitzmarke vivoros zur Überwachung verdächtiger Ehegatten
erbieten. Wie dem auch sein möge, es ist jedenfalls ein Gewinn, daß sich
das Laster in England wenigstens nicht so öffentlich breit zu machen wagt,
wie heute in den deutschen Großstädten.

Am fremdesten wird immer den Deutschen numuteu, was er jenseit des
Kanals von den öffentlichen Äußerungen des religiösen Lebens zu sehen be¬
kommt. Zwar fand ich es einen schönen Gebrauch, daß der Gast fast in allen
Hotels die heilige Schrift, vielleicht auch noch einige Andachtsbücher auf dem
Kaminsims seines Schlafzimmers vorfindet. Mit einigem Staunen gewahrte
ich aber, wie am Strande von Southsea zwei hübsche, 1-z.cIMKö angezogne
Damen, begleitet von einem jungen Gentleman, mitten unter den dort ge¬
lagerten Badegästen, Bootsleuten, Hökerweibern ein Harmonium aufschlugen,
einige Hymnen sangen und sich mit stillem Gruß wieder entfernten. Oder
wie in dem Seebad Jlfraeombe an einem mit Blumen geschmückten Felsen,
aus denen in Blumen die Worte: LsIiM, oometli! hervorleuchteten, ein
Kindergottesdienst vor einer Schar hübscher und modisch bekleideter Babies
gehalten wurde. Im Hintergrund waren zugleich ein halbes Dutzend photo-
graphische Apparate in Thätigkeit, um die wirklich reizende Gruppe aufzu-
nehmen. Unweit davon stand der Reisewagen der betreffenden Missions¬
gesellschaft, an unsre Jahrinarktswagen erinnernd. Seine Hintere Wand war
herabgeschlagen und diente als Auslegetisch für zu verknusende Traktätchen.
Am Süden wie im Norden, auf der Insel Wight und in Edinburg waren
des Sonntags nachmittags und abends auf den Piers, an den Promenaden
und auf den Straßen überall größere und kleine Konventikel versammelt, die
sich Predigen ließen und mit oder ohne Harmonium geistliche Lieder sangen.
Die Prediger waren, nach dem Anzug zu schließen, einfache Arbeiter, Hand¬
lungsdiener, aber auch Gentlemen in den feinsten Mvdeanzügen, ebenso die
Sänger vorwiegend Frauenzimmer von der Arbeiterfrau bis zur elegantesten
Lady. Auch die Zuhörer setzten sich aus allen Gesellschaftsklassen zusammen.
Ich beobachtete namentlich an den ernsten Gesichtern der Schotten, wie sie
mit Aufmerksamkeit, wenn nicht mit wahrer Andacht den zur Buße mahnenden
Vortrügen der sonderbaren Straßenheiligen folgten. Natürlich fehlte auch die
Heilsarmee unter ihrem blauroten Banner mit den roten Westen ihrer Offiziere
und den abscheulichen, tief herabhängenden, mit roten Schleifen verzierten
Hüten ihrer gläubigen Frauen nicht. Eindringlicher als ihr Kapitän hat einst
"und Tetzel seinen Zuhörern nicht vorstellen können, wie viel besser sie daran
Meer, sich mit einem Schilling, einer halben, ja einer ganzen Krone Ovation


Reiseeindriicke aus England

sicher sein darf, von der andern Seite nie mißbraucht zu werden, oder eine
sehr feste weibliche Tugend vorauszusetzen. Wie es unter der Oberfläche aus¬
sieht, weiß ich nicht. Es machte mich aber doch stutzig, in den großen Tages¬
blättern die stehenden Ankündigungen von Londoner Detektivbüreans zu lesen,
die sich unter der Spitzmarke vivoros zur Überwachung verdächtiger Ehegatten
erbieten. Wie dem auch sein möge, es ist jedenfalls ein Gewinn, daß sich
das Laster in England wenigstens nicht so öffentlich breit zu machen wagt,
wie heute in den deutschen Großstädten.

Am fremdesten wird immer den Deutschen numuteu, was er jenseit des
Kanals von den öffentlichen Äußerungen des religiösen Lebens zu sehen be¬
kommt. Zwar fand ich es einen schönen Gebrauch, daß der Gast fast in allen
Hotels die heilige Schrift, vielleicht auch noch einige Andachtsbücher auf dem
Kaminsims seines Schlafzimmers vorfindet. Mit einigem Staunen gewahrte
ich aber, wie am Strande von Southsea zwei hübsche, 1-z.cIMKö angezogne
Damen, begleitet von einem jungen Gentleman, mitten unter den dort ge¬
lagerten Badegästen, Bootsleuten, Hökerweibern ein Harmonium aufschlugen,
einige Hymnen sangen und sich mit stillem Gruß wieder entfernten. Oder
wie in dem Seebad Jlfraeombe an einem mit Blumen geschmückten Felsen,
aus denen in Blumen die Worte: LsIiM, oometli! hervorleuchteten, ein
Kindergottesdienst vor einer Schar hübscher und modisch bekleideter Babies
gehalten wurde. Im Hintergrund waren zugleich ein halbes Dutzend photo-
graphische Apparate in Thätigkeit, um die wirklich reizende Gruppe aufzu-
nehmen. Unweit davon stand der Reisewagen der betreffenden Missions¬
gesellschaft, an unsre Jahrinarktswagen erinnernd. Seine Hintere Wand war
herabgeschlagen und diente als Auslegetisch für zu verknusende Traktätchen.
Am Süden wie im Norden, auf der Insel Wight und in Edinburg waren
des Sonntags nachmittags und abends auf den Piers, an den Promenaden
und auf den Straßen überall größere und kleine Konventikel versammelt, die
sich Predigen ließen und mit oder ohne Harmonium geistliche Lieder sangen.
Die Prediger waren, nach dem Anzug zu schließen, einfache Arbeiter, Hand¬
lungsdiener, aber auch Gentlemen in den feinsten Mvdeanzügen, ebenso die
Sänger vorwiegend Frauenzimmer von der Arbeiterfrau bis zur elegantesten
Lady. Auch die Zuhörer setzten sich aus allen Gesellschaftsklassen zusammen.
Ich beobachtete namentlich an den ernsten Gesichtern der Schotten, wie sie
mit Aufmerksamkeit, wenn nicht mit wahrer Andacht den zur Buße mahnenden
Vortrügen der sonderbaren Straßenheiligen folgten. Natürlich fehlte auch die
Heilsarmee unter ihrem blauroten Banner mit den roten Westen ihrer Offiziere
und den abscheulichen, tief herabhängenden, mit roten Schleifen verzierten
Hüten ihrer gläubigen Frauen nicht. Eindringlicher als ihr Kapitän hat einst
"und Tetzel seinen Zuhörern nicht vorstellen können, wie viel besser sie daran
Meer, sich mit einem Schilling, einer halben, ja einer ganzen Krone Ovation


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[0235] Reiseeindriicke aus England sicher sein darf, von der andern Seite nie mißbraucht zu werden, oder eine sehr feste weibliche Tugend vorauszusetzen. Wie es unter der Oberfläche aus¬ sieht, weiß ich nicht. Es machte mich aber doch stutzig, in den großen Tages¬ blättern die stehenden Ankündigungen von Londoner Detektivbüreans zu lesen, die sich unter der Spitzmarke vivoros zur Überwachung verdächtiger Ehegatten erbieten. Wie dem auch sein möge, es ist jedenfalls ein Gewinn, daß sich das Laster in England wenigstens nicht so öffentlich breit zu machen wagt, wie heute in den deutschen Großstädten. Am fremdesten wird immer den Deutschen numuteu, was er jenseit des Kanals von den öffentlichen Äußerungen des religiösen Lebens zu sehen be¬ kommt. Zwar fand ich es einen schönen Gebrauch, daß der Gast fast in allen Hotels die heilige Schrift, vielleicht auch noch einige Andachtsbücher auf dem Kaminsims seines Schlafzimmers vorfindet. Mit einigem Staunen gewahrte ich aber, wie am Strande von Southsea zwei hübsche, 1-z.cIMKö angezogne Damen, begleitet von einem jungen Gentleman, mitten unter den dort ge¬ lagerten Badegästen, Bootsleuten, Hökerweibern ein Harmonium aufschlugen, einige Hymnen sangen und sich mit stillem Gruß wieder entfernten. Oder wie in dem Seebad Jlfraeombe an einem mit Blumen geschmückten Felsen, aus denen in Blumen die Worte: LsIiM, oometli! hervorleuchteten, ein Kindergottesdienst vor einer Schar hübscher und modisch bekleideter Babies gehalten wurde. Im Hintergrund waren zugleich ein halbes Dutzend photo- graphische Apparate in Thätigkeit, um die wirklich reizende Gruppe aufzu- nehmen. Unweit davon stand der Reisewagen der betreffenden Missions¬ gesellschaft, an unsre Jahrinarktswagen erinnernd. Seine Hintere Wand war herabgeschlagen und diente als Auslegetisch für zu verknusende Traktätchen. Am Süden wie im Norden, auf der Insel Wight und in Edinburg waren des Sonntags nachmittags und abends auf den Piers, an den Promenaden und auf den Straßen überall größere und kleine Konventikel versammelt, die sich Predigen ließen und mit oder ohne Harmonium geistliche Lieder sangen. Die Prediger waren, nach dem Anzug zu schließen, einfache Arbeiter, Hand¬ lungsdiener, aber auch Gentlemen in den feinsten Mvdeanzügen, ebenso die Sänger vorwiegend Frauenzimmer von der Arbeiterfrau bis zur elegantesten Lady. Auch die Zuhörer setzten sich aus allen Gesellschaftsklassen zusammen. Ich beobachtete namentlich an den ernsten Gesichtern der Schotten, wie sie mit Aufmerksamkeit, wenn nicht mit wahrer Andacht den zur Buße mahnenden Vortrügen der sonderbaren Straßenheiligen folgten. Natürlich fehlte auch die Heilsarmee unter ihrem blauroten Banner mit den roten Westen ihrer Offiziere und den abscheulichen, tief herabhängenden, mit roten Schleifen verzierten Hüten ihrer gläubigen Frauen nicht. Eindringlicher als ihr Kapitän hat einst "und Tetzel seinen Zuhörern nicht vorstellen können, wie viel besser sie daran Meer, sich mit einem Schilling, einer halben, ja einer ganzen Krone Ovation

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/235>, abgerufen am 22.07.2024.