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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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ahmte von etwa zehntausend Besuchern, augenscheinlich überwiegend den ar¬
beitenden Klassen angehörig, gefüllt. Von einer Degeneration der Rasse war
aber unter den dort versammelte" Männern und Frauen sicher nichts zu be¬
merken. Der englische Arbeiter, wie ich ihn hier und anderwärts kennen lernte,
hält darauf, gleich dem Gentleman mit guten und derben Stoffen bekleidet zu
sein. Auch sah ich in den Läden, selbst der Vorstädte, keine Schundwaren
ausgelegt, nicht zum geringsten ein Verdienst der weit verbreiteten Konsum¬
vereine, die durch die Güte und Billigkeit ihrer direkt eingekauften Waren einen
heilsamen Druck auf die konkurrirenden Kleinhändler ausüben. Wiederholt
erblickte ich ein ihren Läden die Anpreisung: "Zu billigern als Kooperativ¬
preisen." Das jüdische Ramschgeschäft habe ich nur im Ostend von London
entdecken können. In Schottland, so wurde mir erzählt, soll die jüdische Ge¬
schäftspraxis schlechterdings keinen Boden finden.

Ich weiß wohl, daß man bei flüchtigem Aufenthalt in fremdem Lande
trotz aller Anfmerksamkeit doch nur die obenaufliegende und gewöhnlich nnr
die bessere Seite der Dinge zu sehen bekommt und sich vor voreiligen Schlu߬
folgerungen zu hüten hat. So habe ich während vier Wochen in ganz Eng¬
land und Schottland nur fünf betrunkene Männer, betrunkene Frauen über¬
haupt nicht gesehen, alle fünf übrigens an Sonnabend- und Sonntagnachmit-
tagen und Abenden. Der eine war allerdings in einem so fürchterlichen
Zustande, daß ich nicht begreifen kann, wie er sich in einem Winkel von kaum
45 Grad, aller Augenblicke zu Boden stürzend, die High Street in Edinburg
heranfbewegen konnte. Man ließ ihn übrigens ruhig weiter taumeln, gut¬
mütige Vorübergehende stülpten ihm immer wieder den herabgefallnen Hut
auf den Kopf. Die unerbittliche Statistik aber lehrt, daß in dem einen Jahre
1892 allem in Glasgow 500 betrunkene Frauen polizeilich aufgegriffen
worden sind! Um sich vorzustellen, wie entsetzlich das Laster der Trunkenheit
früher gewütet haben mag, muß man bedenken, daß heute die Temperenz-
bewegung in ganz Großbritannien und besonders im Norden auch unter den
untern Klassen außerordentlich weit verbreitet ist. Ich bin zu Hause ein
normaler Biertrinker. Das, was ich in England unter dem Namen Bier
vorgesetzt bekam, besonders aber der als Whisky verabreichte konzentrirte
Spiritus, trieben mich schon am dritten Tage ins Temperenzlager. Ich hätte
in den heißen Sommertagen dieses Jahres gefürchtet, plötzlich in einer Wein¬
geistflamme verzehrt zu werden, hätte ich auch nur den vierten Teil an Porter,
Stone, Ale und den zahlreichen Whiskies zu mir nehmen wollen, die z. B. ein
riesiger, stiernackiger Handlungsreisender, das echte Bild John Bulls, auf der
"Lady Martin" zwischen Portsmouth und Plymouth hinter die Binde goß.
^es habe mir dann, nachdem ich den ersten Widerwillen gegen den Parfüm¬
geschmack der nicht alkoholistischen Getränke überwunden hatte, bei Gingerbeer,
^einonade und sehr angenehm schmeckendem, wiewohl von der strengen Tem-


Areilzbuleu IV 1803 29

ahmte von etwa zehntausend Besuchern, augenscheinlich überwiegend den ar¬
beitenden Klassen angehörig, gefüllt. Von einer Degeneration der Rasse war
aber unter den dort versammelte» Männern und Frauen sicher nichts zu be¬
merken. Der englische Arbeiter, wie ich ihn hier und anderwärts kennen lernte,
hält darauf, gleich dem Gentleman mit guten und derben Stoffen bekleidet zu
sein. Auch sah ich in den Läden, selbst der Vorstädte, keine Schundwaren
ausgelegt, nicht zum geringsten ein Verdienst der weit verbreiteten Konsum¬
vereine, die durch die Güte und Billigkeit ihrer direkt eingekauften Waren einen
heilsamen Druck auf die konkurrirenden Kleinhändler ausüben. Wiederholt
erblickte ich ein ihren Läden die Anpreisung: „Zu billigern als Kooperativ¬
preisen." Das jüdische Ramschgeschäft habe ich nur im Ostend von London
entdecken können. In Schottland, so wurde mir erzählt, soll die jüdische Ge¬
schäftspraxis schlechterdings keinen Boden finden.

Ich weiß wohl, daß man bei flüchtigem Aufenthalt in fremdem Lande
trotz aller Anfmerksamkeit doch nur die obenaufliegende und gewöhnlich nnr
die bessere Seite der Dinge zu sehen bekommt und sich vor voreiligen Schlu߬
folgerungen zu hüten hat. So habe ich während vier Wochen in ganz Eng¬
land und Schottland nur fünf betrunkene Männer, betrunkene Frauen über¬
haupt nicht gesehen, alle fünf übrigens an Sonnabend- und Sonntagnachmit-
tagen und Abenden. Der eine war allerdings in einem so fürchterlichen
Zustande, daß ich nicht begreifen kann, wie er sich in einem Winkel von kaum
45 Grad, aller Augenblicke zu Boden stürzend, die High Street in Edinburg
heranfbewegen konnte. Man ließ ihn übrigens ruhig weiter taumeln, gut¬
mütige Vorübergehende stülpten ihm immer wieder den herabgefallnen Hut
auf den Kopf. Die unerbittliche Statistik aber lehrt, daß in dem einen Jahre
1892 allem in Glasgow 500 betrunkene Frauen polizeilich aufgegriffen
worden sind! Um sich vorzustellen, wie entsetzlich das Laster der Trunkenheit
früher gewütet haben mag, muß man bedenken, daß heute die Temperenz-
bewegung in ganz Großbritannien und besonders im Norden auch unter den
untern Klassen außerordentlich weit verbreitet ist. Ich bin zu Hause ein
normaler Biertrinker. Das, was ich in England unter dem Namen Bier
vorgesetzt bekam, besonders aber der als Whisky verabreichte konzentrirte
Spiritus, trieben mich schon am dritten Tage ins Temperenzlager. Ich hätte
in den heißen Sommertagen dieses Jahres gefürchtet, plötzlich in einer Wein¬
geistflamme verzehrt zu werden, hätte ich auch nur den vierten Teil an Porter,
Stone, Ale und den zahlreichen Whiskies zu mir nehmen wollen, die z. B. ein
riesiger, stiernackiger Handlungsreisender, das echte Bild John Bulls, auf der
"Lady Martin" zwischen Portsmouth und Plymouth hinter die Binde goß.
^es habe mir dann, nachdem ich den ersten Widerwillen gegen den Parfüm¬
geschmack der nicht alkoholistischen Getränke überwunden hatte, bei Gingerbeer,
^einonade und sehr angenehm schmeckendem, wiewohl von der strengen Tem-


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[0233] ahmte von etwa zehntausend Besuchern, augenscheinlich überwiegend den ar¬ beitenden Klassen angehörig, gefüllt. Von einer Degeneration der Rasse war aber unter den dort versammelte» Männern und Frauen sicher nichts zu be¬ merken. Der englische Arbeiter, wie ich ihn hier und anderwärts kennen lernte, hält darauf, gleich dem Gentleman mit guten und derben Stoffen bekleidet zu sein. Auch sah ich in den Läden, selbst der Vorstädte, keine Schundwaren ausgelegt, nicht zum geringsten ein Verdienst der weit verbreiteten Konsum¬ vereine, die durch die Güte und Billigkeit ihrer direkt eingekauften Waren einen heilsamen Druck auf die konkurrirenden Kleinhändler ausüben. Wiederholt erblickte ich ein ihren Läden die Anpreisung: „Zu billigern als Kooperativ¬ preisen." Das jüdische Ramschgeschäft habe ich nur im Ostend von London entdecken können. In Schottland, so wurde mir erzählt, soll die jüdische Ge¬ schäftspraxis schlechterdings keinen Boden finden. Ich weiß wohl, daß man bei flüchtigem Aufenthalt in fremdem Lande trotz aller Anfmerksamkeit doch nur die obenaufliegende und gewöhnlich nnr die bessere Seite der Dinge zu sehen bekommt und sich vor voreiligen Schlu߬ folgerungen zu hüten hat. So habe ich während vier Wochen in ganz Eng¬ land und Schottland nur fünf betrunkene Männer, betrunkene Frauen über¬ haupt nicht gesehen, alle fünf übrigens an Sonnabend- und Sonntagnachmit- tagen und Abenden. Der eine war allerdings in einem so fürchterlichen Zustande, daß ich nicht begreifen kann, wie er sich in einem Winkel von kaum 45 Grad, aller Augenblicke zu Boden stürzend, die High Street in Edinburg heranfbewegen konnte. Man ließ ihn übrigens ruhig weiter taumeln, gut¬ mütige Vorübergehende stülpten ihm immer wieder den herabgefallnen Hut auf den Kopf. Die unerbittliche Statistik aber lehrt, daß in dem einen Jahre 1892 allem in Glasgow 500 betrunkene Frauen polizeilich aufgegriffen worden sind! Um sich vorzustellen, wie entsetzlich das Laster der Trunkenheit früher gewütet haben mag, muß man bedenken, daß heute die Temperenz- bewegung in ganz Großbritannien und besonders im Norden auch unter den untern Klassen außerordentlich weit verbreitet ist. Ich bin zu Hause ein normaler Biertrinker. Das, was ich in England unter dem Namen Bier vorgesetzt bekam, besonders aber der als Whisky verabreichte konzentrirte Spiritus, trieben mich schon am dritten Tage ins Temperenzlager. Ich hätte in den heißen Sommertagen dieses Jahres gefürchtet, plötzlich in einer Wein¬ geistflamme verzehrt zu werden, hätte ich auch nur den vierten Teil an Porter, Stone, Ale und den zahlreichen Whiskies zu mir nehmen wollen, die z. B. ein riesiger, stiernackiger Handlungsreisender, das echte Bild John Bulls, auf der "Lady Martin" zwischen Portsmouth und Plymouth hinter die Binde goß. ^es habe mir dann, nachdem ich den ersten Widerwillen gegen den Parfüm¬ geschmack der nicht alkoholistischen Getränke überwunden hatte, bei Gingerbeer, ^einonade und sehr angenehm schmeckendem, wiewohl von der strengen Tem- Areilzbuleu IV 1803 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/233>, abgerufen am 22.07.2024.