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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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lichen Hauses überall, auch von einfachen Arbeitern, mit großer Achtung habe
sprechen hören. Daß eine freiwillige Loyalität mehr wert ist, als eine wider¬
willige, nur vom Strafrichter erzwungne, ist gewiß. Freilich, wie tief die
englische Loyalität geht, habe ich nicht ergründen können. Das 6va 8g.of eilf
Husön bildete überall die letzte Nummer der Konzertprvgramme, es ertönte
an schönen Sommerabenden ans den Piers und wurde auf dem Schiff von
Ladies und Gentlemen kräftig gesungen, bevor man das Nachtlager in den
Kabinen aufsuchte. Ich kauu mir aber ein nahes persönliches Verhältnis des
Unterthanen zu einem Monarchen, der kaum den Schatten von politischer Macht
besitzt, eigentlich uicht vorstellen, und es schien mir, als wäre die Huldigung an
das Staatsoberhaupt mehr dein Staate selbst, dem Vaterlande gewidmet. Un¬
zweifelhaft besitzen die Engländer noch ein schönes altes Erbe an Vaterlands¬
liebe, Staats- und Gesetzlichkeitssinn. Ob aber der Staatsgedanke noch mächtig
genug ist, sie zu Opfern nicht bloß an Gut, sondern auch an Blut zu be¬
geistern, wenn es gilt, Englands Weltstellung zu behaupten, wird eine vielleicht
recht nahe Zukunft lehren. Ein wohlunterrichteter und weitblickender Fabrikant
in Bristol klagte mir, daß die untern Klassen Englands ganz außer Zusammen¬
hang mit dem Staate gekommen seien. Ein Arbeiter, der nicht rauche und
keine Spirituosen trinke, trage, da er von direkten Steuern ganz befreit ist,
thatsächlich nicht einen Perus zu deu öffentlichen Lasten bei. Seine Inter¬
essen seien unter Führung der Gewerkvereine ausschließlich darauf gerichtet,
seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, und zwar nur die des eignen Gewerbes,
unbekümmert um das Los der Draußenstehenden, unbekümmert auch um das
Schicksal Englands.

Zwei Wahrnehmungen machen es trotzdem dem fremden Beobachter wenig
wahrscheinlich, daß der Stern Englands endgiltig im Niedergange begriffen sei.
Erstens die stark empfundnen, in steter lebendiger Erinnerung erhaltenen Über¬
lieferungen einer großen Vergangenheit, sodann die robuste körperliche und
geistige Gesundheit des britischen Volkes, das Volk als Ganzes betrachtet.

Die Westminsterabtei, die große nationale Ehrenstätte in London, ist oft
genug beschrieben worden. Ich habe sie wiederholt besucht und fand sie jedesmal
gedrängt voll Menschen, die offenbar mit tiefern Empfindungen als denen bloßer
Neugier an den Grabdenkmälern ihrer großen Herrscher, Helden, Staatsmänner,
Denker und Dichter standen. Die Westminsterhalle, der Schauplatz aller großen
politischen Begebenheiten der englischen Geschichte, ragt mit ihren acht Jahr¬
hunderten westlich, der Tower mit seiner noch ältern, düstern und blutigen
Vergangenheit östlich mitten in das moderne London hinein. Am Strande von
Portsmonth stehen die großen Tage der englischen Flotte verzeichnet, dem
Dvckyard gegenüber ankert die Victory, Nelsons Flaggschiff vor Trafalgar, die
Hoc, der schönste Teil von Plymouth, ist der Erinnerung an Franz Brake
gewidmet, alle Provinzialstädte feiern das Andenken ihrer großen, vielleicht


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lichen Hauses überall, auch von einfachen Arbeitern, mit großer Achtung habe
sprechen hören. Daß eine freiwillige Loyalität mehr wert ist, als eine wider¬
willige, nur vom Strafrichter erzwungne, ist gewiß. Freilich, wie tief die
englische Loyalität geht, habe ich nicht ergründen können. Das 6va 8g.of eilf
Husön bildete überall die letzte Nummer der Konzertprvgramme, es ertönte
an schönen Sommerabenden ans den Piers und wurde auf dem Schiff von
Ladies und Gentlemen kräftig gesungen, bevor man das Nachtlager in den
Kabinen aufsuchte. Ich kauu mir aber ein nahes persönliches Verhältnis des
Unterthanen zu einem Monarchen, der kaum den Schatten von politischer Macht
besitzt, eigentlich uicht vorstellen, und es schien mir, als wäre die Huldigung an
das Staatsoberhaupt mehr dein Staate selbst, dem Vaterlande gewidmet. Un¬
zweifelhaft besitzen die Engländer noch ein schönes altes Erbe an Vaterlands¬
liebe, Staats- und Gesetzlichkeitssinn. Ob aber der Staatsgedanke noch mächtig
genug ist, sie zu Opfern nicht bloß an Gut, sondern auch an Blut zu be¬
geistern, wenn es gilt, Englands Weltstellung zu behaupten, wird eine vielleicht
recht nahe Zukunft lehren. Ein wohlunterrichteter und weitblickender Fabrikant
in Bristol klagte mir, daß die untern Klassen Englands ganz außer Zusammen¬
hang mit dem Staate gekommen seien. Ein Arbeiter, der nicht rauche und
keine Spirituosen trinke, trage, da er von direkten Steuern ganz befreit ist,
thatsächlich nicht einen Perus zu deu öffentlichen Lasten bei. Seine Inter¬
essen seien unter Führung der Gewerkvereine ausschließlich darauf gerichtet,
seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, und zwar nur die des eignen Gewerbes,
unbekümmert um das Los der Draußenstehenden, unbekümmert auch um das
Schicksal Englands.

Zwei Wahrnehmungen machen es trotzdem dem fremden Beobachter wenig
wahrscheinlich, daß der Stern Englands endgiltig im Niedergange begriffen sei.
Erstens die stark empfundnen, in steter lebendiger Erinnerung erhaltenen Über¬
lieferungen einer großen Vergangenheit, sodann die robuste körperliche und
geistige Gesundheit des britischen Volkes, das Volk als Ganzes betrachtet.

Die Westminsterabtei, die große nationale Ehrenstätte in London, ist oft
genug beschrieben worden. Ich habe sie wiederholt besucht und fand sie jedesmal
gedrängt voll Menschen, die offenbar mit tiefern Empfindungen als denen bloßer
Neugier an den Grabdenkmälern ihrer großen Herrscher, Helden, Staatsmänner,
Denker und Dichter standen. Die Westminsterhalle, der Schauplatz aller großen
politischen Begebenheiten der englischen Geschichte, ragt mit ihren acht Jahr¬
hunderten westlich, der Tower mit seiner noch ältern, düstern und blutigen
Vergangenheit östlich mitten in das moderne London hinein. Am Strande von
Portsmonth stehen die großen Tage der englischen Flotte verzeichnet, dem
Dvckyard gegenüber ankert die Victory, Nelsons Flaggschiff vor Trafalgar, die
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gewidmet, alle Provinzialstädte feiern das Andenken ihrer großen, vielleicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/231>, abgerufen am 22.07.2024.