Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschland und das Mttelmeer

trachtet Rußland heute umgekehrt das Mittelmeer nur als den Schau¬
platz, auf dem es seine wiedergewonnene Kraft vor der Welt zeigt. Die
Entstehung zweier neuen Staaten am Schwarzen Meer, Rumäniens und Bul¬
gariens, beeinträchtigt einstweilen gar nicht die Thatsache, daß das Werk des
Pariser Friedens von 1856 nicht mehr besteht, daß die Türkei noch viel
mehr als vor dem Krimkriege von der Gnade Rußlands abhängt. Rumänien
hat zwar eine glänzende Entwicklung hinter sich, die vor dreißig Jahren nie¬
mand zu hoffen wagte, und scheint bei seiner Lage, Größe und Bodenreichtum
zu einer hervorragenden Stellung berufen; aber die schwankenden Geschicke des
viel überschätzten Griechenlands mahnen von allzu kühnen und sichern Er¬
wartungen ab. In seinem Streben, sich im östlichen Mittelmeer auszubreiten,
findet sich Rußland nur durch die Türkei und England gehemmt. Rußlands
Einfluß im Mittelmeer ist durch den Suezkanal gestiegen, dessen es für den
gesteigerten Verkehr mit Ostasien bedarf, er wurde unter den Griechen durch
die bulgarisch-griechischen Kirchen- und Schulstreitigkeiten erhöht, er ist auch
wirtschaftlich im Wachsen durch die Zunahme der russischen Schiffahrt, die
durch die Steigerung der Produktion in den Pontischen Gestadeländern, be¬
sonders in Kaukasien, in rasch zunehmendem Maße genährt wird. Zu den
alten Beziehungen zu den Orthodoxen unter türkischer Herrschaft sind über
Jerusalem sogar Anknüpfungen mit den Monophysiten in Abessinien und
Ägypten versucht worden, die den Eindruck machen, als ob Rußland die hohe
Stelle gewinnen wolle, die sonst als erste aller europäischen Christenmächte
Griechenland in der politischen Schätzung der Abessinier einnahm.

Keine Großmacht hat so wenig in Mittelmeerangclegenheiten von sich
reden gemacht, wie Österreich/Ungarn, und es ist doch die einzige, die seit
Abukir eine große Seeschlacht auf offnem Mittelmeere rühmlichst gewonnen
hat. Sein Trieft hat sich unter Schwankungen entwickelt, aber eine rasch auf¬
strebende Handelsstadt, Fiume, hat sich neben ihr glänzend aufgeschwungen,
und das neugewonnene Bosnien und Herzegowina, sowie das vergrößerte
Montenegro begünstigen als Hinterländer die dalmatinischen Häfen, vor allen
Spalato und Cattaro. Der österreichisch-ungarische Llohd ist trotz steigender
Wettbewerbung, zu der auch russische Linien im Ägeischen Meer in neuerer
Zeit beigetragen haben, immer noch die erste Dampfergesellschaft im östlichen
Mittelmeer. In Novibazar ist Österreich-Ungarn gegen das Ägeische Meer
hin vorgerückt und wird unter allen Umständen einen großen Teil des Hinter¬
landverkehrs von Salonichi beherrschen. Die Türken schreiben den Öster¬
reichern Absichten auf Albanien zu und wittern hinter der Zurückhaltung des
großen Nachbarstaats, der sich meisterhaft unfühlbar zu machen weiß, fast
noch übleres als hinter dem brutalen Auftreten der Russen. Thatsächlich
sind seit dem Einmarsch nach Bosnien die Österreicher die verdächtigsten Leute
unter dem Halbmond. Die Italiener, die durch Scutari und Durazzo an Ve-


Deutschland und das Mttelmeer

trachtet Rußland heute umgekehrt das Mittelmeer nur als den Schau¬
platz, auf dem es seine wiedergewonnene Kraft vor der Welt zeigt. Die
Entstehung zweier neuen Staaten am Schwarzen Meer, Rumäniens und Bul¬
gariens, beeinträchtigt einstweilen gar nicht die Thatsache, daß das Werk des
Pariser Friedens von 1856 nicht mehr besteht, daß die Türkei noch viel
mehr als vor dem Krimkriege von der Gnade Rußlands abhängt. Rumänien
hat zwar eine glänzende Entwicklung hinter sich, die vor dreißig Jahren nie¬
mand zu hoffen wagte, und scheint bei seiner Lage, Größe und Bodenreichtum
zu einer hervorragenden Stellung berufen; aber die schwankenden Geschicke des
viel überschätzten Griechenlands mahnen von allzu kühnen und sichern Er¬
wartungen ab. In seinem Streben, sich im östlichen Mittelmeer auszubreiten,
findet sich Rußland nur durch die Türkei und England gehemmt. Rußlands
Einfluß im Mittelmeer ist durch den Suezkanal gestiegen, dessen es für den
gesteigerten Verkehr mit Ostasien bedarf, er wurde unter den Griechen durch
die bulgarisch-griechischen Kirchen- und Schulstreitigkeiten erhöht, er ist auch
wirtschaftlich im Wachsen durch die Zunahme der russischen Schiffahrt, die
durch die Steigerung der Produktion in den Pontischen Gestadeländern, be¬
sonders in Kaukasien, in rasch zunehmendem Maße genährt wird. Zu den
alten Beziehungen zu den Orthodoxen unter türkischer Herrschaft sind über
Jerusalem sogar Anknüpfungen mit den Monophysiten in Abessinien und
Ägypten versucht worden, die den Eindruck machen, als ob Rußland die hohe
Stelle gewinnen wolle, die sonst als erste aller europäischen Christenmächte
Griechenland in der politischen Schätzung der Abessinier einnahm.

Keine Großmacht hat so wenig in Mittelmeerangclegenheiten von sich
reden gemacht, wie Österreich/Ungarn, und es ist doch die einzige, die seit
Abukir eine große Seeschlacht auf offnem Mittelmeere rühmlichst gewonnen
hat. Sein Trieft hat sich unter Schwankungen entwickelt, aber eine rasch auf¬
strebende Handelsstadt, Fiume, hat sich neben ihr glänzend aufgeschwungen,
und das neugewonnene Bosnien und Herzegowina, sowie das vergrößerte
Montenegro begünstigen als Hinterländer die dalmatinischen Häfen, vor allen
Spalato und Cattaro. Der österreichisch-ungarische Llohd ist trotz steigender
Wettbewerbung, zu der auch russische Linien im Ägeischen Meer in neuerer
Zeit beigetragen haben, immer noch die erste Dampfergesellschaft im östlichen
Mittelmeer. In Novibazar ist Österreich-Ungarn gegen das Ägeische Meer
hin vorgerückt und wird unter allen Umständen einen großen Teil des Hinter¬
landverkehrs von Salonichi beherrschen. Die Türken schreiben den Öster¬
reichern Absichten auf Albanien zu und wittern hinter der Zurückhaltung des
großen Nachbarstaats, der sich meisterhaft unfühlbar zu machen weiß, fast
noch übleres als hinter dem brutalen Auftreten der Russen. Thatsächlich
sind seit dem Einmarsch nach Bosnien die Österreicher die verdächtigsten Leute
unter dem Halbmond. Die Italiener, die durch Scutari und Durazzo an Ve-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215934"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschland und das Mttelmeer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_560" prev="#ID_559"> trachtet Rußland heute umgekehrt das Mittelmeer nur als den Schau¬<lb/>
platz, auf dem es seine wiedergewonnene Kraft vor der Welt zeigt. Die<lb/>
Entstehung zweier neuen Staaten am Schwarzen Meer, Rumäniens und Bul¬<lb/>
gariens, beeinträchtigt einstweilen gar nicht die Thatsache, daß das Werk des<lb/>
Pariser Friedens von 1856 nicht mehr besteht, daß die Türkei noch viel<lb/>
mehr als vor dem Krimkriege von der Gnade Rußlands abhängt. Rumänien<lb/>
hat zwar eine glänzende Entwicklung hinter sich, die vor dreißig Jahren nie¬<lb/>
mand zu hoffen wagte, und scheint bei seiner Lage, Größe und Bodenreichtum<lb/>
zu einer hervorragenden Stellung berufen; aber die schwankenden Geschicke des<lb/>
viel überschätzten Griechenlands mahnen von allzu kühnen und sichern Er¬<lb/>
wartungen ab. In seinem Streben, sich im östlichen Mittelmeer auszubreiten,<lb/>
findet sich Rußland nur durch die Türkei und England gehemmt. Rußlands<lb/>
Einfluß im Mittelmeer ist durch den Suezkanal gestiegen, dessen es für den<lb/>
gesteigerten Verkehr mit Ostasien bedarf, er wurde unter den Griechen durch<lb/>
die bulgarisch-griechischen Kirchen- und Schulstreitigkeiten erhöht, er ist auch<lb/>
wirtschaftlich im Wachsen durch die Zunahme der russischen Schiffahrt, die<lb/>
durch die Steigerung der Produktion in den Pontischen Gestadeländern, be¬<lb/>
sonders in Kaukasien, in rasch zunehmendem Maße genährt wird. Zu den<lb/>
alten Beziehungen zu den Orthodoxen unter türkischer Herrschaft sind über<lb/>
Jerusalem sogar Anknüpfungen mit den Monophysiten in Abessinien und<lb/>
Ägypten versucht worden, die den Eindruck machen, als ob Rußland die hohe<lb/>
Stelle gewinnen wolle, die sonst als erste aller europäischen Christenmächte<lb/>
Griechenland in der politischen Schätzung der Abessinier einnahm.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_561" next="#ID_562"> Keine Großmacht hat so wenig in Mittelmeerangclegenheiten von sich<lb/>
reden gemacht, wie Österreich/Ungarn, und es ist doch die einzige, die seit<lb/>
Abukir eine große Seeschlacht auf offnem Mittelmeere rühmlichst gewonnen<lb/>
hat. Sein Trieft hat sich unter Schwankungen entwickelt, aber eine rasch auf¬<lb/>
strebende Handelsstadt, Fiume, hat sich neben ihr glänzend aufgeschwungen,<lb/>
und das neugewonnene Bosnien und Herzegowina, sowie das vergrößerte<lb/>
Montenegro begünstigen als Hinterländer die dalmatinischen Häfen, vor allen<lb/>
Spalato und Cattaro. Der österreichisch-ungarische Llohd ist trotz steigender<lb/>
Wettbewerbung, zu der auch russische Linien im Ägeischen Meer in neuerer<lb/>
Zeit beigetragen haben, immer noch die erste Dampfergesellschaft im östlichen<lb/>
Mittelmeer. In Novibazar ist Österreich-Ungarn gegen das Ägeische Meer<lb/>
hin vorgerückt und wird unter allen Umständen einen großen Teil des Hinter¬<lb/>
landverkehrs von Salonichi beherrschen. Die Türken schreiben den Öster¬<lb/>
reichern Absichten auf Albanien zu und wittern hinter der Zurückhaltung des<lb/>
großen Nachbarstaats, der sich meisterhaft unfühlbar zu machen weiß, fast<lb/>
noch übleres als hinter dem brutalen Auftreten der Russen. Thatsächlich<lb/>
sind seit dem Einmarsch nach Bosnien die Österreicher die verdächtigsten Leute<lb/>
unter dem Halbmond. Die Italiener, die durch Scutari und Durazzo an Ve-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] Deutschland und das Mttelmeer trachtet Rußland heute umgekehrt das Mittelmeer nur als den Schau¬ platz, auf dem es seine wiedergewonnene Kraft vor der Welt zeigt. Die Entstehung zweier neuen Staaten am Schwarzen Meer, Rumäniens und Bul¬ gariens, beeinträchtigt einstweilen gar nicht die Thatsache, daß das Werk des Pariser Friedens von 1856 nicht mehr besteht, daß die Türkei noch viel mehr als vor dem Krimkriege von der Gnade Rußlands abhängt. Rumänien hat zwar eine glänzende Entwicklung hinter sich, die vor dreißig Jahren nie¬ mand zu hoffen wagte, und scheint bei seiner Lage, Größe und Bodenreichtum zu einer hervorragenden Stellung berufen; aber die schwankenden Geschicke des viel überschätzten Griechenlands mahnen von allzu kühnen und sichern Er¬ wartungen ab. In seinem Streben, sich im östlichen Mittelmeer auszubreiten, findet sich Rußland nur durch die Türkei und England gehemmt. Rußlands Einfluß im Mittelmeer ist durch den Suezkanal gestiegen, dessen es für den gesteigerten Verkehr mit Ostasien bedarf, er wurde unter den Griechen durch die bulgarisch-griechischen Kirchen- und Schulstreitigkeiten erhöht, er ist auch wirtschaftlich im Wachsen durch die Zunahme der russischen Schiffahrt, die durch die Steigerung der Produktion in den Pontischen Gestadeländern, be¬ sonders in Kaukasien, in rasch zunehmendem Maße genährt wird. Zu den alten Beziehungen zu den Orthodoxen unter türkischer Herrschaft sind über Jerusalem sogar Anknüpfungen mit den Monophysiten in Abessinien und Ägypten versucht worden, die den Eindruck machen, als ob Rußland die hohe Stelle gewinnen wolle, die sonst als erste aller europäischen Christenmächte Griechenland in der politischen Schätzung der Abessinier einnahm. Keine Großmacht hat so wenig in Mittelmeerangclegenheiten von sich reden gemacht, wie Österreich/Ungarn, und es ist doch die einzige, die seit Abukir eine große Seeschlacht auf offnem Mittelmeere rühmlichst gewonnen hat. Sein Trieft hat sich unter Schwankungen entwickelt, aber eine rasch auf¬ strebende Handelsstadt, Fiume, hat sich neben ihr glänzend aufgeschwungen, und das neugewonnene Bosnien und Herzegowina, sowie das vergrößerte Montenegro begünstigen als Hinterländer die dalmatinischen Häfen, vor allen Spalato und Cattaro. Der österreichisch-ungarische Llohd ist trotz steigender Wettbewerbung, zu der auch russische Linien im Ägeischen Meer in neuerer Zeit beigetragen haben, immer noch die erste Dampfergesellschaft im östlichen Mittelmeer. In Novibazar ist Österreich-Ungarn gegen das Ägeische Meer hin vorgerückt und wird unter allen Umständen einen großen Teil des Hinter¬ landverkehrs von Salonichi beherrschen. Die Türken schreiben den Öster¬ reichern Absichten auf Albanien zu und wittern hinter der Zurückhaltung des großen Nachbarstaats, der sich meisterhaft unfühlbar zu machen weiß, fast noch übleres als hinter dem brutalen Auftreten der Russen. Thatsächlich sind seit dem Einmarsch nach Bosnien die Österreicher die verdächtigsten Leute unter dem Halbmond. Die Italiener, die durch Scutari und Durazzo an Ve-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/210>, abgerufen am 22.07.2024.