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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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neben Torso -- nichts Ganzes, nichts Vollendetes, nnr eine Trümmerwerk¬
statt, die freilich überall deutlich die Spuren eines hohen Künstlerwillens und
heißer Arbeit zeigt! Da steht vor dem sinnenden Betrachter in der Mitte hoch¬
ragend das gewaltige Bild der "Agnes Bernauerin," achtmal neu begonnen
und achtmal liegen gelassen, eine Jugendliebe des Dichters, die schon die Ge¬
danken des feurigen Jünglings mit derselben dämonischen Kraft fesselte, wie
sie später noch die des Märtyrers ans dein Sterbelager beherrschte. Drei halb¬
fertige Ausführungen liegen vor, von denen zwei, "Agnes Bernauerin" und
"Der Engel von Augsburg," hier Aufnahme gefunden haben, wundersame Zeug¬
nisse des tiefen deutschen Gemütslebens, wie der unerschöpflichen Phantasie
des Dichters. Da steht ferner die markige Figur des großen Preußeuköuigs,
den Ludwig in der verzweifelte" Lage während des siebenjährigen Krieges dar¬
stelle" wollte, ein Entwurf, über dessen geheimsten Zusammenhang mit Ludwigs
eignem Seelenleben u"S das Lebensbild (Bd. I , S. 183) überraschenden Auf¬
schluß gewährt. Von dem volkstümlichen Charakter dieses groß gedachten Ent¬
wurfs zeugt nur das erhaltene kräftige Vorspiel "Die Torgauer Heide," el"
Stück voll warme" geschichtlichen Lebens, das ebenbürtig neben Schillers "Lager"
steht. Dann folgt die zarte, vom Sagenduft umwobne Gestalt der Legenden-
Heldin Genoveva, weiter Maria Stuart, die dramatische Aphrodite, die schon
so manches Künstlers Begeisterung geweckt hat, Alfred der Große, Marino
Falieri, Tiberius Gracchus -- kurz, Gestalt drängt sich an Gestalt, alle von der
Phantasiekraft auch des kranken Dichters zeugend. Aber gerade dieser Band
voll genialer Fragmente weckt auch aufs neue die Klage, daß einem Dichter
von solcher Art und Anlage, einem Geiste zugleich von kuustfrcudiger Bildner-
lust und sittlichem Ernst erfüllt, keine ungehemmtere Entfaltung, kein Genuß des
eignen Lebenswerkes gegönnt war. Unfruchtbare Klage! Und doch drängt sie
sich dem Leser dieser dramatischen Fragmente unwiderstehlich ans!

Die beiden letzten Bände der Grnnowschen Ausgabe enthalte" Ludwigs
Studien und kritische Schriften, von denen ein Teil unter dem Titel "Shake-
spcarestudien" schon durch Moritz Heydrich in den Nachlaßschriften veröffentlicht
worden war. Hier erscheinen sie in völlig veränderter Anordnung, in starker
Erweiterung und ohne Zweifel auch in wesentlich verbesserter Gestalt. Den
"Shakespearestudieu" und den ihnen verwandten "Dramaturgischen Apho¬
rismen" folgen Gedanken "Zur Ethik, Ästhetik und Litteratur" und die hier
zum erstenmale veröffentlichten, reichen und höchst interessanten "Nomaustndieu."
An die kritischen Schriften im engern Sinne schließen sich die wertvollen
Tagebuchblätter "Zum eignen Schaffen" (darunter der Plan zu der tragischen
Historie "Leben und Tod Albrechts von Waldstein") und einige Gespräche
des Dichters mit Joseph Lewinskh, seinem treuen Verehrer, endlich eine kleine
Auswahl von Briefen, hauptsächlich an Eduard Devrient, Berthold Auerbach
und Julian Schmidt, aus den Jahren 1845 bis 186^. Als Einleitung zu


neben Torso — nichts Ganzes, nichts Vollendetes, nnr eine Trümmerwerk¬
statt, die freilich überall deutlich die Spuren eines hohen Künstlerwillens und
heißer Arbeit zeigt! Da steht vor dem sinnenden Betrachter in der Mitte hoch¬
ragend das gewaltige Bild der „Agnes Bernauerin," achtmal neu begonnen
und achtmal liegen gelassen, eine Jugendliebe des Dichters, die schon die Ge¬
danken des feurigen Jünglings mit derselben dämonischen Kraft fesselte, wie
sie später noch die des Märtyrers ans dein Sterbelager beherrschte. Drei halb¬
fertige Ausführungen liegen vor, von denen zwei, „Agnes Bernauerin" und
„Der Engel von Augsburg," hier Aufnahme gefunden haben, wundersame Zeug¬
nisse des tiefen deutschen Gemütslebens, wie der unerschöpflichen Phantasie
des Dichters. Da steht ferner die markige Figur des großen Preußeuköuigs,
den Ludwig in der verzweifelte» Lage während des siebenjährigen Krieges dar¬
stelle» wollte, ein Entwurf, über dessen geheimsten Zusammenhang mit Ludwigs
eignem Seelenleben u»S das Lebensbild (Bd. I , S. 183) überraschenden Auf¬
schluß gewährt. Von dem volkstümlichen Charakter dieses groß gedachten Ent¬
wurfs zeugt nur das erhaltene kräftige Vorspiel „Die Torgauer Heide," el»
Stück voll warme» geschichtlichen Lebens, das ebenbürtig neben Schillers „Lager"
steht. Dann folgt die zarte, vom Sagenduft umwobne Gestalt der Legenden-
Heldin Genoveva, weiter Maria Stuart, die dramatische Aphrodite, die schon
so manches Künstlers Begeisterung geweckt hat, Alfred der Große, Marino
Falieri, Tiberius Gracchus — kurz, Gestalt drängt sich an Gestalt, alle von der
Phantasiekraft auch des kranken Dichters zeugend. Aber gerade dieser Band
voll genialer Fragmente weckt auch aufs neue die Klage, daß einem Dichter
von solcher Art und Anlage, einem Geiste zugleich von kuustfrcudiger Bildner-
lust und sittlichem Ernst erfüllt, keine ungehemmtere Entfaltung, kein Genuß des
eignen Lebenswerkes gegönnt war. Unfruchtbare Klage! Und doch drängt sie
sich dem Leser dieser dramatischen Fragmente unwiderstehlich ans!

Die beiden letzten Bände der Grnnowschen Ausgabe enthalte« Ludwigs
Studien und kritische Schriften, von denen ein Teil unter dem Titel „Shake-
spcarestudien" schon durch Moritz Heydrich in den Nachlaßschriften veröffentlicht
worden war. Hier erscheinen sie in völlig veränderter Anordnung, in starker
Erweiterung und ohne Zweifel auch in wesentlich verbesserter Gestalt. Den
„Shakespearestudieu" und den ihnen verwandten „Dramaturgischen Apho¬
rismen" folgen Gedanken „Zur Ethik, Ästhetik und Litteratur" und die hier
zum erstenmale veröffentlichten, reichen und höchst interessanten „Nomaustndieu."
An die kritischen Schriften im engern Sinne schließen sich die wertvollen
Tagebuchblätter „Zum eignen Schaffen" (darunter der Plan zu der tragischen
Historie „Leben und Tod Albrechts von Waldstein") und einige Gespräche
des Dichters mit Joseph Lewinskh, seinem treuen Verehrer, endlich eine kleine
Auswahl von Briefen, hauptsächlich an Eduard Devrient, Berthold Auerbach
und Julian Schmidt, aus den Jahren 1845 bis 186^. Als Einleitung zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/192>, abgerufen am 22.07.2024.