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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gelo Ludwigs gesammelte Schriften

es tausend Nuancen giebt, in deren Mitte das absolute Ideal liegt. Der Tod
des Bruders wäre für tausend andre ein Glück gewesen, für Apollonius ist
es keins. Seine zu große Gewissenhaftigkeit ist nahe daran, ebenso sein Ver¬
derben zu werden, als die Gewissenlosigkeit das des Bruders wurde. Meine
Absicht war, zu zeigen, wie jeder Mensch seinen Himmel sich fertig mache, wie
seine Holle. Er hat sich zuletzt seinen Himmel geschmiedet, seinen. Sie und
ich beneiden ihn nicht um diesen Himmel, uns wäre er keiner, ihm ist er einer,
wie unser Himmel ihm keiner sein würde. Es galt eben die Darstellung eines
Hypochonderschicksals; die Schicksale beider Ende" der Menschheit sind im
Werke dargestellt, des Frivolen und des Ängstlicher. Das Ideal liegt in der
Mitte." Man hat ferner behauptet, der Charakter des Apollonius sei über¬
trieben; denn weil er gar zu genau nach den Gesetzen der Psychologie gezeichnet
sei, sei er eben verzeichnet und daher unnatürlich. Wer so spricht, bedenkt
nicht, daß Ludwig in Apollonius gerade einen übertrieben Gewissenhaften
schildern wollte, der zwar das Maß des Gewöhnlichen überschreitet, aber doch
genug Seitenstücke im Leben findet. In seinen Bemerkungen "Zum eignen
Schaffen" (Werke, Bd. K, S. 223) sagt er deutlich: "Meine Absicht war, das
typische Schicksal des Menschen, der zu viel Gewissen hat, darzustellen; das
zeigt neben seiner Zeichnung der Gegensatz seines Bruders, der das typische
Schicksal des Menschen, der zu wenig Gewissen hat, versinnlichen soll. Dann
die Wechselwirkung, wie der zu gewissenhaft angelegte den andern immer
schlimmer, dieser jenen immer ängstlicher macht. Es ist des Allzugewissen¬
haften, des gebornen sittlichen Hypvchondristen -- und solcher Menschen sind
mir genug vorgekommen, um sie als eine Gattung zu betrachten -- typisches
Schicksal, daß er gewissermaßen den Katzenjammer hat von den Räuschen, die
sich andre trinken." naturwahr sind die Gestalten Ludwigs durchweg. All¬
tagscharaktere hat er allerdings nicht geschaffen; wer daher die beschränkten
Maßstäbe des an: Wege liegenden an seine Gestalten anzulegen versucht, der
vergißt, daß Ludwig ein schöpferisches Genie, aber kein photographischer
Schilderer flacher "Wirklichkeit" war.

Den zweiten Band der neuen Ausgabe füllen Ludwigs übrige Erzählungen.
Voran stehen die köstlichen Humoresken "Die Heiterethei" und ihr Widerspiel,
"Aus dem Regen in die Traufe." Auch hierin tritt uns dasselbe souveräne
Erzählertalent mit demselben scharfen Auge für psychologische Feinheiten, der¬
selben sichern Charnkterzeichnung entgegen; nur mit dem Unterschiede, daß uns
hier statt der düstern, tragischen Hoheit des Dichters liebenswürdiger Humor
sonnig entgegenlenchtet. Aber auch im Humor zeigt sich Ludwig als Meister.
Wenn man dennoch dem ernsten Werke den Preis zuerkennen will, so wird man es
nur deshalb thun, weil dort nach der Wahl des Themas das schwerere und
tiefer greifende Problem vorlag. Der Humor Ludwigs hat mit dem modernen
sogenannten "Humoreskenhumor" nichts gemein, es ist der gesunde, oft derbe


Gelo Ludwigs gesammelte Schriften

es tausend Nuancen giebt, in deren Mitte das absolute Ideal liegt. Der Tod
des Bruders wäre für tausend andre ein Glück gewesen, für Apollonius ist
es keins. Seine zu große Gewissenhaftigkeit ist nahe daran, ebenso sein Ver¬
derben zu werden, als die Gewissenlosigkeit das des Bruders wurde. Meine
Absicht war, zu zeigen, wie jeder Mensch seinen Himmel sich fertig mache, wie
seine Holle. Er hat sich zuletzt seinen Himmel geschmiedet, seinen. Sie und
ich beneiden ihn nicht um diesen Himmel, uns wäre er keiner, ihm ist er einer,
wie unser Himmel ihm keiner sein würde. Es galt eben die Darstellung eines
Hypochonderschicksals; die Schicksale beider Ende» der Menschheit sind im
Werke dargestellt, des Frivolen und des Ängstlicher. Das Ideal liegt in der
Mitte." Man hat ferner behauptet, der Charakter des Apollonius sei über¬
trieben; denn weil er gar zu genau nach den Gesetzen der Psychologie gezeichnet
sei, sei er eben verzeichnet und daher unnatürlich. Wer so spricht, bedenkt
nicht, daß Ludwig in Apollonius gerade einen übertrieben Gewissenhaften
schildern wollte, der zwar das Maß des Gewöhnlichen überschreitet, aber doch
genug Seitenstücke im Leben findet. In seinen Bemerkungen „Zum eignen
Schaffen" (Werke, Bd. K, S. 223) sagt er deutlich: „Meine Absicht war, das
typische Schicksal des Menschen, der zu viel Gewissen hat, darzustellen; das
zeigt neben seiner Zeichnung der Gegensatz seines Bruders, der das typische
Schicksal des Menschen, der zu wenig Gewissen hat, versinnlichen soll. Dann
die Wechselwirkung, wie der zu gewissenhaft angelegte den andern immer
schlimmer, dieser jenen immer ängstlicher macht. Es ist des Allzugewissen¬
haften, des gebornen sittlichen Hypvchondristen — und solcher Menschen sind
mir genug vorgekommen, um sie als eine Gattung zu betrachten — typisches
Schicksal, daß er gewissermaßen den Katzenjammer hat von den Räuschen, die
sich andre trinken." naturwahr sind die Gestalten Ludwigs durchweg. All¬
tagscharaktere hat er allerdings nicht geschaffen; wer daher die beschränkten
Maßstäbe des an: Wege liegenden an seine Gestalten anzulegen versucht, der
vergißt, daß Ludwig ein schöpferisches Genie, aber kein photographischer
Schilderer flacher „Wirklichkeit" war.

Den zweiten Band der neuen Ausgabe füllen Ludwigs übrige Erzählungen.
Voran stehen die köstlichen Humoresken „Die Heiterethei" und ihr Widerspiel,
„Aus dem Regen in die Traufe." Auch hierin tritt uns dasselbe souveräne
Erzählertalent mit demselben scharfen Auge für psychologische Feinheiten, der¬
selben sichern Charnkterzeichnung entgegen; nur mit dem Unterschiede, daß uns
hier statt der düstern, tragischen Hoheit des Dichters liebenswürdiger Humor
sonnig entgegenlenchtet. Aber auch im Humor zeigt sich Ludwig als Meister.
Wenn man dennoch dem ernsten Werke den Preis zuerkennen will, so wird man es
nur deshalb thun, weil dort nach der Wahl des Themas das schwerere und
tiefer greifende Problem vorlag. Der Humor Ludwigs hat mit dem modernen
sogenannten „Humoreskenhumor" nichts gemein, es ist der gesunde, oft derbe


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[0188] Gelo Ludwigs gesammelte Schriften es tausend Nuancen giebt, in deren Mitte das absolute Ideal liegt. Der Tod des Bruders wäre für tausend andre ein Glück gewesen, für Apollonius ist es keins. Seine zu große Gewissenhaftigkeit ist nahe daran, ebenso sein Ver¬ derben zu werden, als die Gewissenlosigkeit das des Bruders wurde. Meine Absicht war, zu zeigen, wie jeder Mensch seinen Himmel sich fertig mache, wie seine Holle. Er hat sich zuletzt seinen Himmel geschmiedet, seinen. Sie und ich beneiden ihn nicht um diesen Himmel, uns wäre er keiner, ihm ist er einer, wie unser Himmel ihm keiner sein würde. Es galt eben die Darstellung eines Hypochonderschicksals; die Schicksale beider Ende» der Menschheit sind im Werke dargestellt, des Frivolen und des Ängstlicher. Das Ideal liegt in der Mitte." Man hat ferner behauptet, der Charakter des Apollonius sei über¬ trieben; denn weil er gar zu genau nach den Gesetzen der Psychologie gezeichnet sei, sei er eben verzeichnet und daher unnatürlich. Wer so spricht, bedenkt nicht, daß Ludwig in Apollonius gerade einen übertrieben Gewissenhaften schildern wollte, der zwar das Maß des Gewöhnlichen überschreitet, aber doch genug Seitenstücke im Leben findet. In seinen Bemerkungen „Zum eignen Schaffen" (Werke, Bd. K, S. 223) sagt er deutlich: „Meine Absicht war, das typische Schicksal des Menschen, der zu viel Gewissen hat, darzustellen; das zeigt neben seiner Zeichnung der Gegensatz seines Bruders, der das typische Schicksal des Menschen, der zu wenig Gewissen hat, versinnlichen soll. Dann die Wechselwirkung, wie der zu gewissenhaft angelegte den andern immer schlimmer, dieser jenen immer ängstlicher macht. Es ist des Allzugewissen¬ haften, des gebornen sittlichen Hypvchondristen — und solcher Menschen sind mir genug vorgekommen, um sie als eine Gattung zu betrachten — typisches Schicksal, daß er gewissermaßen den Katzenjammer hat von den Räuschen, die sich andre trinken." naturwahr sind die Gestalten Ludwigs durchweg. All¬ tagscharaktere hat er allerdings nicht geschaffen; wer daher die beschränkten Maßstäbe des an: Wege liegenden an seine Gestalten anzulegen versucht, der vergißt, daß Ludwig ein schöpferisches Genie, aber kein photographischer Schilderer flacher „Wirklichkeit" war. Den zweiten Band der neuen Ausgabe füllen Ludwigs übrige Erzählungen. Voran stehen die köstlichen Humoresken „Die Heiterethei" und ihr Widerspiel, „Aus dem Regen in die Traufe." Auch hierin tritt uns dasselbe souveräne Erzählertalent mit demselben scharfen Auge für psychologische Feinheiten, der¬ selben sichern Charnkterzeichnung entgegen; nur mit dem Unterschiede, daß uns hier statt der düstern, tragischen Hoheit des Dichters liebenswürdiger Humor sonnig entgegenlenchtet. Aber auch im Humor zeigt sich Ludwig als Meister. Wenn man dennoch dem ernsten Werke den Preis zuerkennen will, so wird man es nur deshalb thun, weil dort nach der Wahl des Themas das schwerere und tiefer greifende Problem vorlag. Der Humor Ludwigs hat mit dem modernen sogenannten „Humoreskenhumor" nichts gemein, es ist der gesunde, oft derbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/188>, abgerufen am 23.07.2024.