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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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weder Kvmmunisnius noch Kapitalismus

und Franzosen wisse" es heute noch, daß ein wachsendes Volk seinen Boden
stetig vergrößern muß. Und zwar handelt es sich dabei keineswegs bloß um
die Sicherung der Nahrung, sondern mehr noch um die Gewinnung eines den
eignen Kräften angemessenen Spielraums und Wirkungskreises. Wo dieser
fehlt, da ist das Volk so gewiß zur Verkrüppelung verurteilt, wie eines jener
unglücklichen Kinder, die in barbarischen Zeiten durch Einschnürung zu Zwergen
gemacht und dann als Schaustücke an reiche Leute verkauft wurden. Nicht
jedes edle Volk hat den gewaltigen Expansionsdrang des römischen, aber nur
ein unedles oder verkommnes Volk könnte den Gedanken ertragen, für immer
auf einem Raume von 10000 Quadratmeilen eingepfercht zu bleiben, auch
wenn es weit über die fünfzigste Million hinauswachsen sollte. Welche
scheußlichen Lebensgewohnheiten sich aus solcher Zusammcnpferchung mit Not¬
wendigkeit ergeben, wissen wir von den Chinesen, sehen wir auch schon in den
Proletariervierteln der europäischen Großstädte. Und wie der Geist verkrüppelt,
das erfahren wir alle Tage auch in Gesellschaftsschichten, die hoch über dem
Proletariat liegen. Ein geistig arbeitender Mensch genügt vollständig, hundert
und mehr körperlich arbeitende mit Gedanken zu befruchten und zu leiten, und
fünfzig Industrie- und Transportarbeiter genügen im Zeitalter der Maschinen,
sich selbst, hundert bäuerliche Familien und deu einen geistigen Leiter mit den
zu einem zivilisirten Leben nötigen Kunsterzcuguisseu zu versorgen. Aber weil
die natürliche Grundlage der produktivsten und gesündesten aller körperlichen
Thätigkeiten zu klein geworden ist, darum wächst die Zahl der Industriearbeiter
immer mehr über die der Landwirte hinaus, darum müssen immer mehr un¬
nütze und schädliche Industrien erfunden werden, worin die Arbeiter an Leib
und Seele verkrüppeln, darum wuchern die geistigen Thätigkeiten weit über
das gesunde Maß hinaus und entstehen täglich neue geistige Thätigkeitszweige
nicht bloß untergeordneter, sondern schädlicher oder schändlicher Art: Spekn-
lautentum, verschiedne Kupplergewerbe, Reklame und Klatsch als besondre Er¬
werbszweige, Revolver- und Skandaljournalistik, politische Agitation als Brot¬
erwerb, kurzum ein ganzer Wald von Schinarvtzergcwächsen, die deu ohnehin
zu engen Volksboden überwuchern und deu verkümmernde" edeln Pflanzen
vollends Licht, L"se und Nahrung wegnehmen. Und indem die Zahl jener
"Verbrecher" immer größer wird, deren Hauptverbrechen -- nicht selten ist es
ihr einziges -- darin bestanden hat, in einer Zeit geboren zu werden, wo alle
Plätze besetzt waren, und von Eltern abzustammen, die ihnen keinen Platz er¬
werben konnten, weil also die Zahl dieser "Verbrecher" natürlicherweise be-


Aon den körperlich kräftig gebliebneu unter den Armen haben immer nicht wenige die Meere
befahren und fremde Länder bereisen, solchergestalt die Lust der Freiheit atmen, ihre Arme
rühren, ihre" Mutterwitz gebrauche", etwas wagen und gewinnen, durch Briefe und Geld¬
sendungen, bei der Rückkehr durch ihre eifrischeude Persönlichkeit den Sumpf des heimischen
Proletarierlcbcns mit Lebensmut, Hoffnung und Thatenlust in Bewegung setzen können.
weder Kvmmunisnius noch Kapitalismus

und Franzosen wisse» es heute noch, daß ein wachsendes Volk seinen Boden
stetig vergrößern muß. Und zwar handelt es sich dabei keineswegs bloß um
die Sicherung der Nahrung, sondern mehr noch um die Gewinnung eines den
eignen Kräften angemessenen Spielraums und Wirkungskreises. Wo dieser
fehlt, da ist das Volk so gewiß zur Verkrüppelung verurteilt, wie eines jener
unglücklichen Kinder, die in barbarischen Zeiten durch Einschnürung zu Zwergen
gemacht und dann als Schaustücke an reiche Leute verkauft wurden. Nicht
jedes edle Volk hat den gewaltigen Expansionsdrang des römischen, aber nur
ein unedles oder verkommnes Volk könnte den Gedanken ertragen, für immer
auf einem Raume von 10000 Quadratmeilen eingepfercht zu bleiben, auch
wenn es weit über die fünfzigste Million hinauswachsen sollte. Welche
scheußlichen Lebensgewohnheiten sich aus solcher Zusammcnpferchung mit Not¬
wendigkeit ergeben, wissen wir von den Chinesen, sehen wir auch schon in den
Proletariervierteln der europäischen Großstädte. Und wie der Geist verkrüppelt,
das erfahren wir alle Tage auch in Gesellschaftsschichten, die hoch über dem
Proletariat liegen. Ein geistig arbeitender Mensch genügt vollständig, hundert
und mehr körperlich arbeitende mit Gedanken zu befruchten und zu leiten, und
fünfzig Industrie- und Transportarbeiter genügen im Zeitalter der Maschinen,
sich selbst, hundert bäuerliche Familien und deu einen geistigen Leiter mit den
zu einem zivilisirten Leben nötigen Kunsterzcuguisseu zu versorgen. Aber weil
die natürliche Grundlage der produktivsten und gesündesten aller körperlichen
Thätigkeiten zu klein geworden ist, darum wächst die Zahl der Industriearbeiter
immer mehr über die der Landwirte hinaus, darum müssen immer mehr un¬
nütze und schädliche Industrien erfunden werden, worin die Arbeiter an Leib
und Seele verkrüppeln, darum wuchern die geistigen Thätigkeiten weit über
das gesunde Maß hinaus und entstehen täglich neue geistige Thätigkeitszweige
nicht bloß untergeordneter, sondern schädlicher oder schändlicher Art: Spekn-
lautentum, verschiedne Kupplergewerbe, Reklame und Klatsch als besondre Er¬
werbszweige, Revolver- und Skandaljournalistik, politische Agitation als Brot¬
erwerb, kurzum ein ganzer Wald von Schinarvtzergcwächsen, die deu ohnehin
zu engen Volksboden überwuchern und deu verkümmernde» edeln Pflanzen
vollends Licht, L»se und Nahrung wegnehmen. Und indem die Zahl jener
„Verbrecher" immer größer wird, deren Hauptverbrechen — nicht selten ist es
ihr einziges — darin bestanden hat, in einer Zeit geboren zu werden, wo alle
Plätze besetzt waren, und von Eltern abzustammen, die ihnen keinen Platz er¬
werben konnten, weil also die Zahl dieser „Verbrecher" natürlicherweise be-


Aon den körperlich kräftig gebliebneu unter den Armen haben immer nicht wenige die Meere
befahren und fremde Länder bereisen, solchergestalt die Lust der Freiheit atmen, ihre Arme
rühren, ihre» Mutterwitz gebrauche», etwas wagen und gewinnen, durch Briefe und Geld¬
sendungen, bei der Rückkehr durch ihre eifrischeude Persönlichkeit den Sumpf des heimischen
Proletarierlcbcns mit Lebensmut, Hoffnung und Thatenlust in Bewegung setzen können.
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[0176] weder Kvmmunisnius noch Kapitalismus und Franzosen wisse» es heute noch, daß ein wachsendes Volk seinen Boden stetig vergrößern muß. Und zwar handelt es sich dabei keineswegs bloß um die Sicherung der Nahrung, sondern mehr noch um die Gewinnung eines den eignen Kräften angemessenen Spielraums und Wirkungskreises. Wo dieser fehlt, da ist das Volk so gewiß zur Verkrüppelung verurteilt, wie eines jener unglücklichen Kinder, die in barbarischen Zeiten durch Einschnürung zu Zwergen gemacht und dann als Schaustücke an reiche Leute verkauft wurden. Nicht jedes edle Volk hat den gewaltigen Expansionsdrang des römischen, aber nur ein unedles oder verkommnes Volk könnte den Gedanken ertragen, für immer auf einem Raume von 10000 Quadratmeilen eingepfercht zu bleiben, auch wenn es weit über die fünfzigste Million hinauswachsen sollte. Welche scheußlichen Lebensgewohnheiten sich aus solcher Zusammcnpferchung mit Not¬ wendigkeit ergeben, wissen wir von den Chinesen, sehen wir auch schon in den Proletariervierteln der europäischen Großstädte. Und wie der Geist verkrüppelt, das erfahren wir alle Tage auch in Gesellschaftsschichten, die hoch über dem Proletariat liegen. Ein geistig arbeitender Mensch genügt vollständig, hundert und mehr körperlich arbeitende mit Gedanken zu befruchten und zu leiten, und fünfzig Industrie- und Transportarbeiter genügen im Zeitalter der Maschinen, sich selbst, hundert bäuerliche Familien und deu einen geistigen Leiter mit den zu einem zivilisirten Leben nötigen Kunsterzcuguisseu zu versorgen. Aber weil die natürliche Grundlage der produktivsten und gesündesten aller körperlichen Thätigkeiten zu klein geworden ist, darum wächst die Zahl der Industriearbeiter immer mehr über die der Landwirte hinaus, darum müssen immer mehr un¬ nütze und schädliche Industrien erfunden werden, worin die Arbeiter an Leib und Seele verkrüppeln, darum wuchern die geistigen Thätigkeiten weit über das gesunde Maß hinaus und entstehen täglich neue geistige Thätigkeitszweige nicht bloß untergeordneter, sondern schädlicher oder schändlicher Art: Spekn- lautentum, verschiedne Kupplergewerbe, Reklame und Klatsch als besondre Er¬ werbszweige, Revolver- und Skandaljournalistik, politische Agitation als Brot¬ erwerb, kurzum ein ganzer Wald von Schinarvtzergcwächsen, die deu ohnehin zu engen Volksboden überwuchern und deu verkümmernde» edeln Pflanzen vollends Licht, L»se und Nahrung wegnehmen. Und indem die Zahl jener „Verbrecher" immer größer wird, deren Hauptverbrechen — nicht selten ist es ihr einziges — darin bestanden hat, in einer Zeit geboren zu werden, wo alle Plätze besetzt waren, und von Eltern abzustammen, die ihnen keinen Platz er¬ werben konnten, weil also die Zahl dieser „Verbrecher" natürlicherweise be- Aon den körperlich kräftig gebliebneu unter den Armen haben immer nicht wenige die Meere befahren und fremde Länder bereisen, solchergestalt die Lust der Freiheit atmen, ihre Arme rühren, ihre» Mutterwitz gebrauche», etwas wagen und gewinnen, durch Briefe und Geld¬ sendungen, bei der Rückkehr durch ihre eifrischeude Persönlichkeit den Sumpf des heimischen Proletarierlcbcns mit Lebensmut, Hoffnung und Thatenlust in Bewegung setzen können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/176>, abgerufen am 04.07.2024.