Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Europa und England

englische Politik die deutschen Kolonialbestrcbuugcn so lange heimlich hemmte,
bis Fürst Bismarck dem Lord Granville gegenüber eine nicht mißzuverstehende
Sprache führen ließ. Nach den letzten französischen Kammerwahlen, nach denen
weder die Monarchisten, noch die Bvulciugisten, ja kaum die Radikalen mehr
zu fürchten, die wahren Republikaner aber "unter sich" sind, wird wieder eine
Periode anheben, wo sich die einzelnen republikanischen Gruppen gegenseitig
die Ministersitze abjagen und das Volk, dadurch beunruhigt, wieder nach einem
"Manu" Umblick hält, der nun gerade kein Boulanger wieder zu sein braucht,
von dem man aber hofft, daß er dem Lande endlich Ruhe bringen werde.
Ohne Aufregung der nationalen Eitelkeit geht es dabei natürlich nicht ab, aber
bei allen, die emporkommen wollen, wird dann die Erwägung eine Rolle spielen,
ob es nicht zweckmüßig sein würde, die Marschallstäbe jenseit des Kanals zu
holen, da jenseit des Rheins keine mehr zu haben sind. Der "treue Freund"
Rußland würde solchem Vorhaben allen erdenklichen Vorschub leisten, da ihm
ein Stoß in den Kern der britischen Macht überall die Arme frei macht.

Man kann dagegen die reichen Hilfsquellen Englands anführen, die Lord
Beaconsfield einmal als "praktisch unerschöpflich" bezeichnete. Unstreitig sind
sie größer als zu Anfang dieses Jahrhunderts, aber es fragt sich, ob das
Land die Zeit haben wird, in einem großen Kampfe diese Hilfsquellen recht¬
zeitig zu entwickeln. Die ganze Kriegskunst hat sich von Grund aus geändert,
Eisenbahnen, Telegraphen, Hinterlader und Masfenbewaffnnng haben es
möglich gemacht, die Geschicke eines Staates in wenigen Wochen zu entscheiden.
Lehrreich ist dafür das Schicksal Frankreichs. Sein rascher Aufschwung nach 1871
gestattet um dem Vorhandensein seiner reichen Hilfsquellen keinen Zweifel, und
dennoch hatte es sich mich sechsmonatigem Ringen für besiegt erklären müsse".
Hilfsquellen, die nicht für den Kampf organisirt sind, haben für moderne
Kriege keinen Wert, und das schnöde Wort Cvbdcns: l^aureis, M1IinA8 auel
psuoc; fre tue böse uatimml "Ki'-mo- hat zwar in England viele Gläubige
gefunden, dürfte sich aber in gleicher Weise verderblich erweisen, wie die übrigen
Manchesterthevrien. Aber derartige Anschauungen sind der Hauptgrund, wa¬
rum sich der Engländer so hartnäckig gegen die Einführung festländischer
Heereseinrichtungen und namentlich der allgemeinen Wehrpflicht sträubt, und
doch würde diese allein dem "Vereinigten Königreich" sichern Schutz gewähren
und würde auch die solideste Grundlage für die Verteidigung Indiens bilden.
Um die für diese beiden Ausgaben nötigen Mannschaften nach dein heutigen
System anzuwerben, dürften auch die "unerschöpflichen" Hilfsquellen Englands
nicht ausreichen.

Zur Zeit des deutsch-französischen Krieges stieg in' vielen edeldenkender
Männern Großbritanniens, wie Carlyle u. s. w,, das volle Verständnis für
Wert und Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht auf. Samuel Smith von
Liverpool bemerkte 1871 in einer Flugschrift: "Die Heeresverfassung bewirkt


Europa und England

englische Politik die deutschen Kolonialbestrcbuugcn so lange heimlich hemmte,
bis Fürst Bismarck dem Lord Granville gegenüber eine nicht mißzuverstehende
Sprache führen ließ. Nach den letzten französischen Kammerwahlen, nach denen
weder die Monarchisten, noch die Bvulciugisten, ja kaum die Radikalen mehr
zu fürchten, die wahren Republikaner aber „unter sich" sind, wird wieder eine
Periode anheben, wo sich die einzelnen republikanischen Gruppen gegenseitig
die Ministersitze abjagen und das Volk, dadurch beunruhigt, wieder nach einem
„Manu" Umblick hält, der nun gerade kein Boulanger wieder zu sein braucht,
von dem man aber hofft, daß er dem Lande endlich Ruhe bringen werde.
Ohne Aufregung der nationalen Eitelkeit geht es dabei natürlich nicht ab, aber
bei allen, die emporkommen wollen, wird dann die Erwägung eine Rolle spielen,
ob es nicht zweckmüßig sein würde, die Marschallstäbe jenseit des Kanals zu
holen, da jenseit des Rheins keine mehr zu haben sind. Der „treue Freund"
Rußland würde solchem Vorhaben allen erdenklichen Vorschub leisten, da ihm
ein Stoß in den Kern der britischen Macht überall die Arme frei macht.

Man kann dagegen die reichen Hilfsquellen Englands anführen, die Lord
Beaconsfield einmal als „praktisch unerschöpflich" bezeichnete. Unstreitig sind
sie größer als zu Anfang dieses Jahrhunderts, aber es fragt sich, ob das
Land die Zeit haben wird, in einem großen Kampfe diese Hilfsquellen recht¬
zeitig zu entwickeln. Die ganze Kriegskunst hat sich von Grund aus geändert,
Eisenbahnen, Telegraphen, Hinterlader und Masfenbewaffnnng haben es
möglich gemacht, die Geschicke eines Staates in wenigen Wochen zu entscheiden.
Lehrreich ist dafür das Schicksal Frankreichs. Sein rascher Aufschwung nach 1871
gestattet um dem Vorhandensein seiner reichen Hilfsquellen keinen Zweifel, und
dennoch hatte es sich mich sechsmonatigem Ringen für besiegt erklären müsse».
Hilfsquellen, die nicht für den Kampf organisirt sind, haben für moderne
Kriege keinen Wert, und das schnöde Wort Cvbdcns: l^aureis, M1IinA8 auel
psuoc; fre tue böse uatimml «Ki'-mo- hat zwar in England viele Gläubige
gefunden, dürfte sich aber in gleicher Weise verderblich erweisen, wie die übrigen
Manchesterthevrien. Aber derartige Anschauungen sind der Hauptgrund, wa¬
rum sich der Engländer so hartnäckig gegen die Einführung festländischer
Heereseinrichtungen und namentlich der allgemeinen Wehrpflicht sträubt, und
doch würde diese allein dem „Vereinigten Königreich" sichern Schutz gewähren
und würde auch die solideste Grundlage für die Verteidigung Indiens bilden.
Um die für diese beiden Ausgaben nötigen Mannschaften nach dein heutigen
System anzuwerben, dürften auch die „unerschöpflichen" Hilfsquellen Englands
nicht ausreichen.

Zur Zeit des deutsch-französischen Krieges stieg in' vielen edeldenkender
Männern Großbritanniens, wie Carlyle u. s. w,, das volle Verständnis für
Wert und Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht auf. Samuel Smith von
Liverpool bemerkte 1871 in einer Flugschrift: „Die Heeresverfassung bewirkt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215894"/>
          <fw type="header" place="top"> Europa und England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_449" prev="#ID_448"> englische Politik die deutschen Kolonialbestrcbuugcn so lange heimlich hemmte,<lb/>
bis Fürst Bismarck dem Lord Granville gegenüber eine nicht mißzuverstehende<lb/>
Sprache führen ließ. Nach den letzten französischen Kammerwahlen, nach denen<lb/>
weder die Monarchisten, noch die Bvulciugisten, ja kaum die Radikalen mehr<lb/>
zu fürchten, die wahren Republikaner aber &#x201E;unter sich" sind, wird wieder eine<lb/>
Periode anheben, wo sich die einzelnen republikanischen Gruppen gegenseitig<lb/>
die Ministersitze abjagen und das Volk, dadurch beunruhigt, wieder nach einem<lb/>
&#x201E;Manu" Umblick hält, der nun gerade kein Boulanger wieder zu sein braucht,<lb/>
von dem man aber hofft, daß er dem Lande endlich Ruhe bringen werde.<lb/>
Ohne Aufregung der nationalen Eitelkeit geht es dabei natürlich nicht ab, aber<lb/>
bei allen, die emporkommen wollen, wird dann die Erwägung eine Rolle spielen,<lb/>
ob es nicht zweckmüßig sein würde, die Marschallstäbe jenseit des Kanals zu<lb/>
holen, da jenseit des Rheins keine mehr zu haben sind. Der &#x201E;treue Freund"<lb/>
Rußland würde solchem Vorhaben allen erdenklichen Vorschub leisten, da ihm<lb/>
ein Stoß in den Kern der britischen Macht überall die Arme frei macht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_450"> Man kann dagegen die reichen Hilfsquellen Englands anführen, die Lord<lb/>
Beaconsfield einmal als &#x201E;praktisch unerschöpflich" bezeichnete. Unstreitig sind<lb/>
sie größer als zu Anfang dieses Jahrhunderts, aber es fragt sich, ob das<lb/>
Land die Zeit haben wird, in einem großen Kampfe diese Hilfsquellen recht¬<lb/>
zeitig zu entwickeln. Die ganze Kriegskunst hat sich von Grund aus geändert,<lb/>
Eisenbahnen, Telegraphen, Hinterlader und Masfenbewaffnnng haben es<lb/>
möglich gemacht, die Geschicke eines Staates in wenigen Wochen zu entscheiden.<lb/>
Lehrreich ist dafür das Schicksal Frankreichs. Sein rascher Aufschwung nach 1871<lb/>
gestattet um dem Vorhandensein seiner reichen Hilfsquellen keinen Zweifel, und<lb/>
dennoch hatte es sich mich sechsmonatigem Ringen für besiegt erklären müsse».<lb/>
Hilfsquellen, die nicht für den Kampf organisirt sind, haben für moderne<lb/>
Kriege keinen Wert, und das schnöde Wort Cvbdcns: l^aureis, M1IinA8 auel<lb/>
psuoc; fre tue böse uatimml «Ki'-mo- hat zwar in England viele Gläubige<lb/>
gefunden, dürfte sich aber in gleicher Weise verderblich erweisen, wie die übrigen<lb/>
Manchesterthevrien. Aber derartige Anschauungen sind der Hauptgrund, wa¬<lb/>
rum sich der Engländer so hartnäckig gegen die Einführung festländischer<lb/>
Heereseinrichtungen und namentlich der allgemeinen Wehrpflicht sträubt, und<lb/>
doch würde diese allein dem &#x201E;Vereinigten Königreich" sichern Schutz gewähren<lb/>
und würde auch die solideste Grundlage für die Verteidigung Indiens bilden.<lb/>
Um die für diese beiden Ausgaben nötigen Mannschaften nach dein heutigen<lb/>
System anzuwerben, dürften auch die &#x201E;unerschöpflichen" Hilfsquellen Englands<lb/>
nicht ausreichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_451" next="#ID_452"> Zur Zeit des deutsch-französischen Krieges stieg in' vielen edeldenkender<lb/>
Männern Großbritanniens, wie Carlyle u. s. w,, das volle Verständnis für<lb/>
Wert und Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht auf. Samuel Smith von<lb/>
Liverpool bemerkte 1871 in einer Flugschrift: &#x201E;Die Heeresverfassung bewirkt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] Europa und England englische Politik die deutschen Kolonialbestrcbuugcn so lange heimlich hemmte, bis Fürst Bismarck dem Lord Granville gegenüber eine nicht mißzuverstehende Sprache führen ließ. Nach den letzten französischen Kammerwahlen, nach denen weder die Monarchisten, noch die Bvulciugisten, ja kaum die Radikalen mehr zu fürchten, die wahren Republikaner aber „unter sich" sind, wird wieder eine Periode anheben, wo sich die einzelnen republikanischen Gruppen gegenseitig die Ministersitze abjagen und das Volk, dadurch beunruhigt, wieder nach einem „Manu" Umblick hält, der nun gerade kein Boulanger wieder zu sein braucht, von dem man aber hofft, daß er dem Lande endlich Ruhe bringen werde. Ohne Aufregung der nationalen Eitelkeit geht es dabei natürlich nicht ab, aber bei allen, die emporkommen wollen, wird dann die Erwägung eine Rolle spielen, ob es nicht zweckmüßig sein würde, die Marschallstäbe jenseit des Kanals zu holen, da jenseit des Rheins keine mehr zu haben sind. Der „treue Freund" Rußland würde solchem Vorhaben allen erdenklichen Vorschub leisten, da ihm ein Stoß in den Kern der britischen Macht überall die Arme frei macht. Man kann dagegen die reichen Hilfsquellen Englands anführen, die Lord Beaconsfield einmal als „praktisch unerschöpflich" bezeichnete. Unstreitig sind sie größer als zu Anfang dieses Jahrhunderts, aber es fragt sich, ob das Land die Zeit haben wird, in einem großen Kampfe diese Hilfsquellen recht¬ zeitig zu entwickeln. Die ganze Kriegskunst hat sich von Grund aus geändert, Eisenbahnen, Telegraphen, Hinterlader und Masfenbewaffnnng haben es möglich gemacht, die Geschicke eines Staates in wenigen Wochen zu entscheiden. Lehrreich ist dafür das Schicksal Frankreichs. Sein rascher Aufschwung nach 1871 gestattet um dem Vorhandensein seiner reichen Hilfsquellen keinen Zweifel, und dennoch hatte es sich mich sechsmonatigem Ringen für besiegt erklären müsse». Hilfsquellen, die nicht für den Kampf organisirt sind, haben für moderne Kriege keinen Wert, und das schnöde Wort Cvbdcns: l^aureis, M1IinA8 auel psuoc; fre tue böse uatimml «Ki'-mo- hat zwar in England viele Gläubige gefunden, dürfte sich aber in gleicher Weise verderblich erweisen, wie die übrigen Manchesterthevrien. Aber derartige Anschauungen sind der Hauptgrund, wa¬ rum sich der Engländer so hartnäckig gegen die Einführung festländischer Heereseinrichtungen und namentlich der allgemeinen Wehrpflicht sträubt, und doch würde diese allein dem „Vereinigten Königreich" sichern Schutz gewähren und würde auch die solideste Grundlage für die Verteidigung Indiens bilden. Um die für diese beiden Ausgaben nötigen Mannschaften nach dein heutigen System anzuwerben, dürften auch die „unerschöpflichen" Hilfsquellen Englands nicht ausreichen. Zur Zeit des deutsch-französischen Krieges stieg in' vielen edeldenkender Männern Großbritanniens, wie Carlyle u. s. w,, das volle Verständnis für Wert und Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht auf. Samuel Smith von Liverpool bemerkte 1871 in einer Flugschrift: „Die Heeresverfassung bewirkt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/170>, abgerufen am 25.07.2024.