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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und England

gegen den Dreibund, mit der Hauptspitze gegen Deutschland, begonnen werden
würde. Davon ist bisher nichts zu bemerken gewesen; wohl aber hat der
Zweibnnd eine Spitze gezeigt, doch diese war unverwandt gegen England ge¬
richtet. Nach einander in Konstantinopel, in China, in Ägypten und neuerdings
in Siam haben Rußland und Frankreich gemeinsam England ihren Übeln Willen
bewiesen, und in Frankreich schien zuletzt aller Haß gegen Deutschland ge¬
schwunden zu sein. Während noch zur Zeit der Kämpfe in Dahomey die
französische Presse voller Beschuldigungen gegen Deutschland war, das Waffen
und Führer geliefert haben sollte, hörte man während der siamesischen Streitig¬
keiten kein Wort mehr davon. Auch den begeisterten Empfang des Kaisers und
die Anwesenheit des Kronprinzen von Italien im Elsaß schluckt man hinunter,
die ganze nationale Abneigung der Franzosen richtet sich mit aller Schärfe gegen
England und ist gepaart mit einer tiefen Verachtung der britischen Macht.
Es liegen keine Anzeichen dasür vor, daß dies in Zukunft wieder anders werden
sollte. Im Interesse Rußlands läge auch kaum eine solche Änderung, denn
es hat den lebhaftesten Wunsch, England gedemütigt zu sehen, und im Zwei¬
bund ist das Zarenreich die schiebende, Frankreich die geschobne Macht. Wir
fürchten, daß für England die Lage in den nächsten Jahren sehr ernst werden
wird, denn es wird nirgends Unterstützung finden, auch nicht beim Dreibund.
Für die Festlandsmnchte bedeutet der Eintritt der russischen Flotte ins Mittel¬
meer nur eine Ausgleichung der maritimen Machtverhältnisse und eine be¬
rechtigte Schwächling der englischen Vorherrschaft, die ihre Rücksichtslosigkeit
gegenüber dem übrigen Europa zuletzt bei der Besetzung von Ägypten gezeigt
hat. Der Dreibund hat keine Veranlassung -- anch Italien nicht und am
wenigsten Deutschland --, Frankreich in den Weg zu treten, wenn es seine
berechtigte Machtstellung und seine Beziehungen zu Rußland für die Sicher¬
stellung seiner Interessen im Mittelmeer verwendet. Auch bei größern politischen
Nackenschlägen für England wird der Dreibund zu Gunsten eines unzuver¬
lässigen und vhniilächtigeu Staatswesens keinen Mann und kein Schiff in Gefahr
bringen. Für einen Verbündeten Englands könnte die Rechnung auf dessen
militärische Kräfte leicht sehr trügerisch ausfallen, abgesehen davon, daß ihn
die leider oft bewiesene "punische Treue" der britischen Politik plötzlich genan
so im Stiche lassen könnte, wie Napoleon III. 1862 in Mexiko. In Deutsch¬
land würden freilich die liberalen Doktrinäre bei einer Gefahr Englands
-- ähnlich wie 1886 wegen Bulgariens -- gewaltig ins Zeug gehen und
bereit erscheinen, Gut und Blut für das "parlamentarische Musterland" zum
Opfer zu bringen, aber die große Mehrzahl der Nation wird der Vergangen¬
heit eingedenk sein und die Rolle Englands während der deutsch-dänischen
Verwicklung, wie die klägliche Zwitterstellung, die das britische Reich mit der
"wohlwollenden" Neutralität gegen uns während des deutsch-französischen
Krieges einnahm, in Betracht ziehen, ebenso die kleinliche Bosheit, mit der die


Gi'cüzbvten IV 18W L1
Europa und England

gegen den Dreibund, mit der Hauptspitze gegen Deutschland, begonnen werden
würde. Davon ist bisher nichts zu bemerken gewesen; wohl aber hat der
Zweibnnd eine Spitze gezeigt, doch diese war unverwandt gegen England ge¬
richtet. Nach einander in Konstantinopel, in China, in Ägypten und neuerdings
in Siam haben Rußland und Frankreich gemeinsam England ihren Übeln Willen
bewiesen, und in Frankreich schien zuletzt aller Haß gegen Deutschland ge¬
schwunden zu sein. Während noch zur Zeit der Kämpfe in Dahomey die
französische Presse voller Beschuldigungen gegen Deutschland war, das Waffen
und Führer geliefert haben sollte, hörte man während der siamesischen Streitig¬
keiten kein Wort mehr davon. Auch den begeisterten Empfang des Kaisers und
die Anwesenheit des Kronprinzen von Italien im Elsaß schluckt man hinunter,
die ganze nationale Abneigung der Franzosen richtet sich mit aller Schärfe gegen
England und ist gepaart mit einer tiefen Verachtung der britischen Macht.
Es liegen keine Anzeichen dasür vor, daß dies in Zukunft wieder anders werden
sollte. Im Interesse Rußlands läge auch kaum eine solche Änderung, denn
es hat den lebhaftesten Wunsch, England gedemütigt zu sehen, und im Zwei¬
bund ist das Zarenreich die schiebende, Frankreich die geschobne Macht. Wir
fürchten, daß für England die Lage in den nächsten Jahren sehr ernst werden
wird, denn es wird nirgends Unterstützung finden, auch nicht beim Dreibund.
Für die Festlandsmnchte bedeutet der Eintritt der russischen Flotte ins Mittel¬
meer nur eine Ausgleichung der maritimen Machtverhältnisse und eine be¬
rechtigte Schwächling der englischen Vorherrschaft, die ihre Rücksichtslosigkeit
gegenüber dem übrigen Europa zuletzt bei der Besetzung von Ägypten gezeigt
hat. Der Dreibund hat keine Veranlassung — anch Italien nicht und am
wenigsten Deutschland —, Frankreich in den Weg zu treten, wenn es seine
berechtigte Machtstellung und seine Beziehungen zu Rußland für die Sicher¬
stellung seiner Interessen im Mittelmeer verwendet. Auch bei größern politischen
Nackenschlägen für England wird der Dreibund zu Gunsten eines unzuver¬
lässigen und vhniilächtigeu Staatswesens keinen Mann und kein Schiff in Gefahr
bringen. Für einen Verbündeten Englands könnte die Rechnung auf dessen
militärische Kräfte leicht sehr trügerisch ausfallen, abgesehen davon, daß ihn
die leider oft bewiesene „punische Treue" der britischen Politik plötzlich genan
so im Stiche lassen könnte, wie Napoleon III. 1862 in Mexiko. In Deutsch¬
land würden freilich die liberalen Doktrinäre bei einer Gefahr Englands
— ähnlich wie 1886 wegen Bulgariens — gewaltig ins Zeug gehen und
bereit erscheinen, Gut und Blut für das „parlamentarische Musterland" zum
Opfer zu bringen, aber die große Mehrzahl der Nation wird der Vergangen¬
heit eingedenk sein und die Rolle Englands während der deutsch-dänischen
Verwicklung, wie die klägliche Zwitterstellung, die das britische Reich mit der
„wohlwollenden" Neutralität gegen uns während des deutsch-französischen
Krieges einnahm, in Betracht ziehen, ebenso die kleinliche Bosheit, mit der die


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[0169] Europa und England gegen den Dreibund, mit der Hauptspitze gegen Deutschland, begonnen werden würde. Davon ist bisher nichts zu bemerken gewesen; wohl aber hat der Zweibnnd eine Spitze gezeigt, doch diese war unverwandt gegen England ge¬ richtet. Nach einander in Konstantinopel, in China, in Ägypten und neuerdings in Siam haben Rußland und Frankreich gemeinsam England ihren Übeln Willen bewiesen, und in Frankreich schien zuletzt aller Haß gegen Deutschland ge¬ schwunden zu sein. Während noch zur Zeit der Kämpfe in Dahomey die französische Presse voller Beschuldigungen gegen Deutschland war, das Waffen und Führer geliefert haben sollte, hörte man während der siamesischen Streitig¬ keiten kein Wort mehr davon. Auch den begeisterten Empfang des Kaisers und die Anwesenheit des Kronprinzen von Italien im Elsaß schluckt man hinunter, die ganze nationale Abneigung der Franzosen richtet sich mit aller Schärfe gegen England und ist gepaart mit einer tiefen Verachtung der britischen Macht. Es liegen keine Anzeichen dasür vor, daß dies in Zukunft wieder anders werden sollte. Im Interesse Rußlands läge auch kaum eine solche Änderung, denn es hat den lebhaftesten Wunsch, England gedemütigt zu sehen, und im Zwei¬ bund ist das Zarenreich die schiebende, Frankreich die geschobne Macht. Wir fürchten, daß für England die Lage in den nächsten Jahren sehr ernst werden wird, denn es wird nirgends Unterstützung finden, auch nicht beim Dreibund. Für die Festlandsmnchte bedeutet der Eintritt der russischen Flotte ins Mittel¬ meer nur eine Ausgleichung der maritimen Machtverhältnisse und eine be¬ rechtigte Schwächling der englischen Vorherrschaft, die ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber dem übrigen Europa zuletzt bei der Besetzung von Ägypten gezeigt hat. Der Dreibund hat keine Veranlassung — anch Italien nicht und am wenigsten Deutschland —, Frankreich in den Weg zu treten, wenn es seine berechtigte Machtstellung und seine Beziehungen zu Rußland für die Sicher¬ stellung seiner Interessen im Mittelmeer verwendet. Auch bei größern politischen Nackenschlägen für England wird der Dreibund zu Gunsten eines unzuver¬ lässigen und vhniilächtigeu Staatswesens keinen Mann und kein Schiff in Gefahr bringen. Für einen Verbündeten Englands könnte die Rechnung auf dessen militärische Kräfte leicht sehr trügerisch ausfallen, abgesehen davon, daß ihn die leider oft bewiesene „punische Treue" der britischen Politik plötzlich genan so im Stiche lassen könnte, wie Napoleon III. 1862 in Mexiko. In Deutsch¬ land würden freilich die liberalen Doktrinäre bei einer Gefahr Englands — ähnlich wie 1886 wegen Bulgariens — gewaltig ins Zeug gehen und bereit erscheinen, Gut und Blut für das „parlamentarische Musterland" zum Opfer zu bringen, aber die große Mehrzahl der Nation wird der Vergangen¬ heit eingedenk sein und die Rolle Englands während der deutsch-dänischen Verwicklung, wie die klägliche Zwitterstellung, die das britische Reich mit der „wohlwollenden" Neutralität gegen uns während des deutsch-französischen Krieges einnahm, in Betracht ziehen, ebenso die kleinliche Bosheit, mit der die Gi'cüzbvten IV 18W L1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/169>, abgerufen am 25.07.2024.