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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und Lnglaud

herrscht. Schon 1891 schrieben die I'iinos: ..Keinesfalls kann es in England
bleiben, wie es heute ist, denn die Armee enthält schon jetzt einen hohen Pro¬
zentsatz von Unznfriednen, die für die Sozialdemokratie eine gute Bente bilden."
Während der letzten beiden Jahre ist es natürlich nicht besser geworden. Ja
wer sich die Mühe giebt, in Whitechapel und Westminster die Schänken zu
besuchen, in denen dnrch rote Schärpen gekennzeichnete Werber ihren Rekruten¬
fang betreiben, der bekommt eine Ahnung davon, ans welchen Elementen sich
die britische Armee zusammensetzt. Überall in der Welt, wo Ordnung und
öffentliche Sicherheit in Gefahr stehen, rechnet man auf das Heer, wem? sich
die Polizei ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigt. Johannes Scherr sagte schon
vor fünfzehn Jahre", die sich wieder vorbereitende internationale Revolution
werde an der preußischen Armee scheitern. Er hätte den an sich ganz richtigen
Satz erweitern und sagen können: an den Heeren der allgemeinen Wehrpflicht;
denn auch die französische republikanische Armee hat sich kürzlich zur Dämpfnng
der Pariser Straßenunruheu als sehr geeignet erwiesen, was bekanntlich bei
den königlichen und kaiserlichen Armeen alten Schlags in Frankreich nicht
immer der Fall war. In England, wo die Armee aus orduungsscheueu
und eigentumsfeindlichen Leuten hervorgeht, dürfte jeder Versuch in größerm
Maßstabe kläglich scheitern. Wir halten diese innere Gefahr für noch viel
dringender als jede äußere. Die großen Streiks der letzten Jahre reden eine
sehr beredte Sprache. Ohne eine grundsätzliche Änderung seines Heeresshstems
im Sinne der allgemeinen Wehrpflicht, die den Besitzenden einen maßgebenden
Einfluß in der Armee sichert, treibt England in schwere Katastrophen hinein,
die seinem nationalen Wirtschaftsleben und seiner Weltstellung die empfind¬
lichsten Wunden schlagen werden.

Einsichtige Leute in England sind sich denn auch dieser Lage vollkommen
bewußt. Niemand anders als der stark liberale Charles Dilke hat in seiner
Schrift Innen'litt "lvlongc; klar dargelegt, auf wie schwachen Füßen das britische
Weltreich steht, und daß ein kräftiger Anstoß genügen könnte, es seiner kost¬
barsten Vesitztitel zu berauben. Er ist nicht im geringsten in Zweifel dar¬
über, daß Flotte und Heer große Geldopfer erfordern werden, vielleicht aber
anch die ganze Wehrvcrfassnng ans neue Grundlagen gestellt werden muß, wenn
der heutige Besitzstand anfrecht erhalten werden soll. Aber er wie andre haben
bisher tauben Ohren gepredigt, obgleich viele tausende Nüssen, daß unter dem
Hader der Parteien die Weltstellung des Reiches von den ander" Nationen
überflügelt worden ist, weil die Quelle", mis de"e" Großbritannien seine Kraft
geschöpft hat, unsinnig ausgebeutet worden sind bis zum Versiegen, während
die nationale Wehrkraft von der Selbstüberschätzung vernachlässigt wurde.
Und dieser Hader der Parteien sucht noch heute seine Befriedigung über die
dringlichen Aufgaben hinweg, die vom Lande und für das Land erheischt werden.
Statt sich diese" zuzuweude", ereifert mau sich für und wider Homernle für


Europa und Lnglaud

herrscht. Schon 1891 schrieben die I'iinos: ..Keinesfalls kann es in England
bleiben, wie es heute ist, denn die Armee enthält schon jetzt einen hohen Pro¬
zentsatz von Unznfriednen, die für die Sozialdemokratie eine gute Bente bilden."
Während der letzten beiden Jahre ist es natürlich nicht besser geworden. Ja
wer sich die Mühe giebt, in Whitechapel und Westminster die Schänken zu
besuchen, in denen dnrch rote Schärpen gekennzeichnete Werber ihren Rekruten¬
fang betreiben, der bekommt eine Ahnung davon, ans welchen Elementen sich
die britische Armee zusammensetzt. Überall in der Welt, wo Ordnung und
öffentliche Sicherheit in Gefahr stehen, rechnet man auf das Heer, wem? sich
die Polizei ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigt. Johannes Scherr sagte schon
vor fünfzehn Jahre», die sich wieder vorbereitende internationale Revolution
werde an der preußischen Armee scheitern. Er hätte den an sich ganz richtigen
Satz erweitern und sagen können: an den Heeren der allgemeinen Wehrpflicht;
denn auch die französische republikanische Armee hat sich kürzlich zur Dämpfnng
der Pariser Straßenunruheu als sehr geeignet erwiesen, was bekanntlich bei
den königlichen und kaiserlichen Armeen alten Schlags in Frankreich nicht
immer der Fall war. In England, wo die Armee aus orduungsscheueu
und eigentumsfeindlichen Leuten hervorgeht, dürfte jeder Versuch in größerm
Maßstabe kläglich scheitern. Wir halten diese innere Gefahr für noch viel
dringender als jede äußere. Die großen Streiks der letzten Jahre reden eine
sehr beredte Sprache. Ohne eine grundsätzliche Änderung seines Heeresshstems
im Sinne der allgemeinen Wehrpflicht, die den Besitzenden einen maßgebenden
Einfluß in der Armee sichert, treibt England in schwere Katastrophen hinein,
die seinem nationalen Wirtschaftsleben und seiner Weltstellung die empfind¬
lichsten Wunden schlagen werden.

Einsichtige Leute in England sind sich denn auch dieser Lage vollkommen
bewußt. Niemand anders als der stark liberale Charles Dilke hat in seiner
Schrift Innen'litt «lvlongc; klar dargelegt, auf wie schwachen Füßen das britische
Weltreich steht, und daß ein kräftiger Anstoß genügen könnte, es seiner kost¬
barsten Vesitztitel zu berauben. Er ist nicht im geringsten in Zweifel dar¬
über, daß Flotte und Heer große Geldopfer erfordern werden, vielleicht aber
anch die ganze Wehrvcrfassnng ans neue Grundlagen gestellt werden muß, wenn
der heutige Besitzstand anfrecht erhalten werden soll. Aber er wie andre haben
bisher tauben Ohren gepredigt, obgleich viele tausende Nüssen, daß unter dem
Hader der Parteien die Weltstellung des Reiches von den ander» Nationen
überflügelt worden ist, weil die Quelle», mis de»e» Großbritannien seine Kraft
geschöpft hat, unsinnig ausgebeutet worden sind bis zum Versiegen, während
die nationale Wehrkraft von der Selbstüberschätzung vernachlässigt wurde.
Und dieser Hader der Parteien sucht noch heute seine Befriedigung über die
dringlichen Aufgaben hinweg, die vom Lande und für das Land erheischt werden.
Statt sich diese» zuzuweude», ereifert mau sich für und wider Homernle für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/167>, abgerufen am 25.07.2024.