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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und England

mich Wieder seinen guten Grund. Denn geht es zum Dienst nach auswärts,
so reißt immer ein Teil der Tapfer,? vor dem Einschiffen aus. Die Deser¬
tionen im britischen Heere betragen überhaupt jährlich etwa vier Prozent und
nehmen von Jahr zu Jahr zu. Dabei geht die Rekrutirung nach Güte und
Menge immer mehr zurück, ebenso wie bei der Marine; man wirbt zu tau¬
fenden junge Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren an, die noch gar nicht
dienstfähig siud. In der klagte vor zwei Jahren Arnold Förster:
"Mit Ausnahme der in den Lagern von Nldershot und Curragh zusammeu-
gezvgueu Kontingente und der Garde in London giebt es keine Truppenabtei-
lung im Vereinigten Königreich, die zahlreich genug wäre, daß ein Offizier
die Handhabung von Massen lernen könnte. Ich kenne ein Bataillon, das
zehn Jahre laug keine Übung mit allen drei Waffen mitgemacht hat n. s. w.,"
und er schließt: "Die Aufrechterhaltung des soldatischen Geistes ist natürlich
nnter solche" Umständen unmöglich. In der ganzen in England stehenden
Armee werden weder Offiziere noch Mannschaften im Frieden für den Krieg
ausgebildet." Thatsache ist es auch, daß Manöver abgesagt werden, wenn
das Wetter neblig oder regnerisch ist. In Wirklichkeit steht die britische Armee
zum Teil nur auf dem Papier. Die Kadres siud unvollständig, die Mann¬
schaft unvollkommen ausgebildet, das Pferdematcrial ungenügend, die Bewaff¬
nung mangelhaft, Disziplin und Leitung lassen viel zu wünschen übrig. Die
Organisation der Mobilmachung ist äußerst schwerfällig, und die notwendige
Anzahl von kriegsbereiten Pferden wird man schwerlich auftreiben können. Wie
sich diese Landesverteidiger gegenüber einem gekanteten französischen stärkern
Truppenteil benehmen würden, ist schwer vorauszusagen. Möglich ist, daß
sie streiken, aber in jedem Falle würden sie in so geringer Anzahl zur Stelle
sein, daß ein militärischer Erfolg für sie ausgeschlossen erscheint. Dann wären
noch die Vvluuteers übrig. Diese bestehen ans sehr braven Leuten, sind
leidlich einexerziert und überragen die Linie unstreitig an gutem Willen und
bedeutend an Vaterlandsliebe. Man darf sie ungefähr mit den Gainbettaschen
Neubildungen von 1870 vergleichen, doch stehen sie diesen darin bedeutend
nach, daß ihnen kriegsgeübte Offiziere und höhere Führer abgehen, während
die französische luvvo on ni!i.8"<z namentlich mit Führern recht gut Versehen
war. Die englische Armee bildet aber keine Truppenführer ans, denn ihre
besten Generale haben nie mehr Truppen ans einmal unter sich gehabt, als
eine deutsche Division auf Kriegsstärke beträgt.

Doch wir wollen die Gefahr von außen nicht so hoch anschlagen, als die
von innen drohende. Die lange in der deutschen Presse genährte Fabel, daß
die englischen Gewerkvereine das beste Schutzmittel gegen die Svzialdemokrntie
bildeten, hat sich längst als gänzlich haltlos erwiesen. Mit raschen Schritten
ist die Herrschaft ver Sozialdemokratie über die englische Arbeiterschaft vor¬
geschritten, und die Armee ist vollständig von sozialdemokratischen Ideen be-


Europa und England

mich Wieder seinen guten Grund. Denn geht es zum Dienst nach auswärts,
so reißt immer ein Teil der Tapfer,? vor dem Einschiffen aus. Die Deser¬
tionen im britischen Heere betragen überhaupt jährlich etwa vier Prozent und
nehmen von Jahr zu Jahr zu. Dabei geht die Rekrutirung nach Güte und
Menge immer mehr zurück, ebenso wie bei der Marine; man wirbt zu tau¬
fenden junge Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren an, die noch gar nicht
dienstfähig siud. In der klagte vor zwei Jahren Arnold Förster:
„Mit Ausnahme der in den Lagern von Nldershot und Curragh zusammeu-
gezvgueu Kontingente und der Garde in London giebt es keine Truppenabtei-
lung im Vereinigten Königreich, die zahlreich genug wäre, daß ein Offizier
die Handhabung von Massen lernen könnte. Ich kenne ein Bataillon, das
zehn Jahre laug keine Übung mit allen drei Waffen mitgemacht hat n. s. w.,"
und er schließt: „Die Aufrechterhaltung des soldatischen Geistes ist natürlich
nnter solche» Umständen unmöglich. In der ganzen in England stehenden
Armee werden weder Offiziere noch Mannschaften im Frieden für den Krieg
ausgebildet." Thatsache ist es auch, daß Manöver abgesagt werden, wenn
das Wetter neblig oder regnerisch ist. In Wirklichkeit steht die britische Armee
zum Teil nur auf dem Papier. Die Kadres siud unvollständig, die Mann¬
schaft unvollkommen ausgebildet, das Pferdematcrial ungenügend, die Bewaff¬
nung mangelhaft, Disziplin und Leitung lassen viel zu wünschen übrig. Die
Organisation der Mobilmachung ist äußerst schwerfällig, und die notwendige
Anzahl von kriegsbereiten Pferden wird man schwerlich auftreiben können. Wie
sich diese Landesverteidiger gegenüber einem gekanteten französischen stärkern
Truppenteil benehmen würden, ist schwer vorauszusagen. Möglich ist, daß
sie streiken, aber in jedem Falle würden sie in so geringer Anzahl zur Stelle
sein, daß ein militärischer Erfolg für sie ausgeschlossen erscheint. Dann wären
noch die Vvluuteers übrig. Diese bestehen ans sehr braven Leuten, sind
leidlich einexerziert und überragen die Linie unstreitig an gutem Willen und
bedeutend an Vaterlandsliebe. Man darf sie ungefähr mit den Gainbettaschen
Neubildungen von 1870 vergleichen, doch stehen sie diesen darin bedeutend
nach, daß ihnen kriegsgeübte Offiziere und höhere Führer abgehen, während
die französische luvvo on ni!i.8«<z namentlich mit Führern recht gut Versehen
war. Die englische Armee bildet aber keine Truppenführer ans, denn ihre
besten Generale haben nie mehr Truppen ans einmal unter sich gehabt, als
eine deutsche Division auf Kriegsstärke beträgt.

Doch wir wollen die Gefahr von außen nicht so hoch anschlagen, als die
von innen drohende. Die lange in der deutschen Presse genährte Fabel, daß
die englischen Gewerkvereine das beste Schutzmittel gegen die Svzialdemokrntie
bildeten, hat sich längst als gänzlich haltlos erwiesen. Mit raschen Schritten
ist die Herrschaft ver Sozialdemokratie über die englische Arbeiterschaft vor¬
geschritten, und die Armee ist vollständig von sozialdemokratischen Ideen be-


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[0166] Europa und England mich Wieder seinen guten Grund. Denn geht es zum Dienst nach auswärts, so reißt immer ein Teil der Tapfer,? vor dem Einschiffen aus. Die Deser¬ tionen im britischen Heere betragen überhaupt jährlich etwa vier Prozent und nehmen von Jahr zu Jahr zu. Dabei geht die Rekrutirung nach Güte und Menge immer mehr zurück, ebenso wie bei der Marine; man wirbt zu tau¬ fenden junge Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren an, die noch gar nicht dienstfähig siud. In der klagte vor zwei Jahren Arnold Förster: „Mit Ausnahme der in den Lagern von Nldershot und Curragh zusammeu- gezvgueu Kontingente und der Garde in London giebt es keine Truppenabtei- lung im Vereinigten Königreich, die zahlreich genug wäre, daß ein Offizier die Handhabung von Massen lernen könnte. Ich kenne ein Bataillon, das zehn Jahre laug keine Übung mit allen drei Waffen mitgemacht hat n. s. w.," und er schließt: „Die Aufrechterhaltung des soldatischen Geistes ist natürlich nnter solche» Umständen unmöglich. In der ganzen in England stehenden Armee werden weder Offiziere noch Mannschaften im Frieden für den Krieg ausgebildet." Thatsache ist es auch, daß Manöver abgesagt werden, wenn das Wetter neblig oder regnerisch ist. In Wirklichkeit steht die britische Armee zum Teil nur auf dem Papier. Die Kadres siud unvollständig, die Mann¬ schaft unvollkommen ausgebildet, das Pferdematcrial ungenügend, die Bewaff¬ nung mangelhaft, Disziplin und Leitung lassen viel zu wünschen übrig. Die Organisation der Mobilmachung ist äußerst schwerfällig, und die notwendige Anzahl von kriegsbereiten Pferden wird man schwerlich auftreiben können. Wie sich diese Landesverteidiger gegenüber einem gekanteten französischen stärkern Truppenteil benehmen würden, ist schwer vorauszusagen. Möglich ist, daß sie streiken, aber in jedem Falle würden sie in so geringer Anzahl zur Stelle sein, daß ein militärischer Erfolg für sie ausgeschlossen erscheint. Dann wären noch die Vvluuteers übrig. Diese bestehen ans sehr braven Leuten, sind leidlich einexerziert und überragen die Linie unstreitig an gutem Willen und bedeutend an Vaterlandsliebe. Man darf sie ungefähr mit den Gainbettaschen Neubildungen von 1870 vergleichen, doch stehen sie diesen darin bedeutend nach, daß ihnen kriegsgeübte Offiziere und höhere Führer abgehen, während die französische luvvo on ni!i.8«<z namentlich mit Führern recht gut Versehen war. Die englische Armee bildet aber keine Truppenführer ans, denn ihre besten Generale haben nie mehr Truppen ans einmal unter sich gehabt, als eine deutsche Division auf Kriegsstärke beträgt. Doch wir wollen die Gefahr von außen nicht so hoch anschlagen, als die von innen drohende. Die lange in der deutschen Presse genährte Fabel, daß die englischen Gewerkvereine das beste Schutzmittel gegen die Svzialdemokrntie bildeten, hat sich längst als gänzlich haltlos erwiesen. Mit raschen Schritten ist die Herrschaft ver Sozialdemokratie über die englische Arbeiterschaft vor¬ geschritten, und die Armee ist vollständig von sozialdemokratischen Ideen be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/166>, abgerufen am 25.07.2024.