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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und England

Freund Englands, der Militärschriftsteller Major O. Wachs, berechnet die
gesamte in- und ausländische Armee Großbritanniens ("Die Weltstellung
Englands" von Otto Wachs, 188"!) kaum auf 300000 kriegsbrauchbare
Mannschaften. Für unsre Ausführungen kommt nur das stehende Heer in
England in Betracht, das wenig mehr als 100000 Mann beträgt, von denen
aber unter allen Umständen die unabkömmliche Besetzung Irlands, 30000
Mann, abzurechnen sind. Der englische Soldat wird nun nicht, wie der
Vnterlandsverteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, von dein Gefühl des Pa¬
triotismus und der Ehre beherrscht. Aber er wird schöner bekleidet, besser
bezahlt und besser ernährt, als der irgend einer andern Nation, die regulären
Truppen der Vereinigten Staaten ausgenommen; dabei giebt es wenig Dienst,
und das siud alles Dinge, die einen Reiz für Leute haben, denen ein faules
Leben erstrebenswert erscheint. Es ist selbstverständlich, daß dabei der Leib
gesund und kräftig aussieht, das System mag mich gut sein, schöne Parade-
trnppen heranzuziehen; ob sie sich aber in einem Feldzuge gegen die euro¬
päischen Truppen bewähren würde", bezweifeln einsichtsvolle Kreise in England
selbst. Für our girlt^ut soläior ist der Soldatenstand nur ein Gewerbe; er
betrachtet sich auch gar nicht als Vaterlandsverteidiger, sondern fühlt sich als
Untergebner eines Privatunternehmers: der jeweilig herrschenden Partei. Wird
ihm der Dienst zu viel, oder fällt ein hartes Wort des Vorgesetzten, so wird
gestreikt; der Infanterist weigert sich zum Dienst zu gehen, und der Reiter
zerschneidet über Nacht Sattel und Riemenzeug, damit der Dienst unmöglich
wird. Die Offiziere stehen dem Soldaten gänzlich fern, und die Unteroffiziere
streiken mit oder drücken wenigstens bei solchen Vorgängen ein Ange zu. Be¬
merkenswert und für die gesamte englische Auffassung des Militärwesens be¬
zeichnend ist es, daß sich die große Menge des Volkes bei solchen Meutereien
stets auf die Seite der Soldaten stellt. Als vor einigen Jahren die Garde¬
grenadiere wegen offner Empörung zu der gelinden Strafe eines einjäh¬
rigen Kolonialdienstes auf Bermuda verurteilt wurden, schrieben selbst Zei¬
tungen, die auf dem Standpunkte der Ordnnugsparteicu stehen, in deu teil¬
nahmsvollsten Ausdrücken über die harte Bestrafung der bravo KroniMors.
Im übrigen aber sieht dort der steuerzahlende Bürger -- geradeso wie im
außerpreußischen Deutschland und Österreich zu den Zeiten des Loskanfs und
der Stellvertretung - auf den Soldaten als einen unnötigen Freßsack und
einen Menschen zweiter Klasse herab. Es besteht nicht der geringste gemüt¬
liche Zusammenhang zwischen Volk und Militär, selbst "Heldenthaten" des
englischen Söldners vermögen dem britischen Bürger keine Teilnahme abzu¬
gewinnen. Die Sammlungen für die in Not geratenen noch lebenden Helden
des Neiterangriffs bei Balaelawa am 23. September 1854 erreichten nur
2100 Lstrl., dabei ist Tennysons Gedicht, das die Aufopferung der leichten
Brigade besingt, jedem englischen Schulknaben bekannt. Allerdings hat das


Europa und England

Freund Englands, der Militärschriftsteller Major O. Wachs, berechnet die
gesamte in- und ausländische Armee Großbritanniens („Die Weltstellung
Englands" von Otto Wachs, 188«!) kaum auf 300000 kriegsbrauchbare
Mannschaften. Für unsre Ausführungen kommt nur das stehende Heer in
England in Betracht, das wenig mehr als 100000 Mann beträgt, von denen
aber unter allen Umständen die unabkömmliche Besetzung Irlands, 30000
Mann, abzurechnen sind. Der englische Soldat wird nun nicht, wie der
Vnterlandsverteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, von dein Gefühl des Pa¬
triotismus und der Ehre beherrscht. Aber er wird schöner bekleidet, besser
bezahlt und besser ernährt, als der irgend einer andern Nation, die regulären
Truppen der Vereinigten Staaten ausgenommen; dabei giebt es wenig Dienst,
und das siud alles Dinge, die einen Reiz für Leute haben, denen ein faules
Leben erstrebenswert erscheint. Es ist selbstverständlich, daß dabei der Leib
gesund und kräftig aussieht, das System mag mich gut sein, schöne Parade-
trnppen heranzuziehen; ob sie sich aber in einem Feldzuge gegen die euro¬
päischen Truppen bewähren würde», bezweifeln einsichtsvolle Kreise in England
selbst. Für our girlt^ut soläior ist der Soldatenstand nur ein Gewerbe; er
betrachtet sich auch gar nicht als Vaterlandsverteidiger, sondern fühlt sich als
Untergebner eines Privatunternehmers: der jeweilig herrschenden Partei. Wird
ihm der Dienst zu viel, oder fällt ein hartes Wort des Vorgesetzten, so wird
gestreikt; der Infanterist weigert sich zum Dienst zu gehen, und der Reiter
zerschneidet über Nacht Sattel und Riemenzeug, damit der Dienst unmöglich
wird. Die Offiziere stehen dem Soldaten gänzlich fern, und die Unteroffiziere
streiken mit oder drücken wenigstens bei solchen Vorgängen ein Ange zu. Be¬
merkenswert und für die gesamte englische Auffassung des Militärwesens be¬
zeichnend ist es, daß sich die große Menge des Volkes bei solchen Meutereien
stets auf die Seite der Soldaten stellt. Als vor einigen Jahren die Garde¬
grenadiere wegen offner Empörung zu der gelinden Strafe eines einjäh¬
rigen Kolonialdienstes auf Bermuda verurteilt wurden, schrieben selbst Zei¬
tungen, die auf dem Standpunkte der Ordnnugsparteicu stehen, in deu teil¬
nahmsvollsten Ausdrücken über die harte Bestrafung der bravo KroniMors.
Im übrigen aber sieht dort der steuerzahlende Bürger — geradeso wie im
außerpreußischen Deutschland und Österreich zu den Zeiten des Loskanfs und
der Stellvertretung - auf den Soldaten als einen unnötigen Freßsack und
einen Menschen zweiter Klasse herab. Es besteht nicht der geringste gemüt¬
liche Zusammenhang zwischen Volk und Militär, selbst „Heldenthaten" des
englischen Söldners vermögen dem britischen Bürger keine Teilnahme abzu¬
gewinnen. Die Sammlungen für die in Not geratenen noch lebenden Helden
des Neiterangriffs bei Balaelawa am 23. September 1854 erreichten nur
2100 Lstrl., dabei ist Tennysons Gedicht, das die Aufopferung der leichten
Brigade besingt, jedem englischen Schulknaben bekannt. Allerdings hat das


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[0165] Europa und England Freund Englands, der Militärschriftsteller Major O. Wachs, berechnet die gesamte in- und ausländische Armee Großbritanniens („Die Weltstellung Englands" von Otto Wachs, 188«!) kaum auf 300000 kriegsbrauchbare Mannschaften. Für unsre Ausführungen kommt nur das stehende Heer in England in Betracht, das wenig mehr als 100000 Mann beträgt, von denen aber unter allen Umständen die unabkömmliche Besetzung Irlands, 30000 Mann, abzurechnen sind. Der englische Soldat wird nun nicht, wie der Vnterlandsverteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, von dein Gefühl des Pa¬ triotismus und der Ehre beherrscht. Aber er wird schöner bekleidet, besser bezahlt und besser ernährt, als der irgend einer andern Nation, die regulären Truppen der Vereinigten Staaten ausgenommen; dabei giebt es wenig Dienst, und das siud alles Dinge, die einen Reiz für Leute haben, denen ein faules Leben erstrebenswert erscheint. Es ist selbstverständlich, daß dabei der Leib gesund und kräftig aussieht, das System mag mich gut sein, schöne Parade- trnppen heranzuziehen; ob sie sich aber in einem Feldzuge gegen die euro¬ päischen Truppen bewähren würde», bezweifeln einsichtsvolle Kreise in England selbst. Für our girlt^ut soläior ist der Soldatenstand nur ein Gewerbe; er betrachtet sich auch gar nicht als Vaterlandsverteidiger, sondern fühlt sich als Untergebner eines Privatunternehmers: der jeweilig herrschenden Partei. Wird ihm der Dienst zu viel, oder fällt ein hartes Wort des Vorgesetzten, so wird gestreikt; der Infanterist weigert sich zum Dienst zu gehen, und der Reiter zerschneidet über Nacht Sattel und Riemenzeug, damit der Dienst unmöglich wird. Die Offiziere stehen dem Soldaten gänzlich fern, und die Unteroffiziere streiken mit oder drücken wenigstens bei solchen Vorgängen ein Ange zu. Be¬ merkenswert und für die gesamte englische Auffassung des Militärwesens be¬ zeichnend ist es, daß sich die große Menge des Volkes bei solchen Meutereien stets auf die Seite der Soldaten stellt. Als vor einigen Jahren die Garde¬ grenadiere wegen offner Empörung zu der gelinden Strafe eines einjäh¬ rigen Kolonialdienstes auf Bermuda verurteilt wurden, schrieben selbst Zei¬ tungen, die auf dem Standpunkte der Ordnnugsparteicu stehen, in deu teil¬ nahmsvollsten Ausdrücken über die harte Bestrafung der bravo KroniMors. Im übrigen aber sieht dort der steuerzahlende Bürger — geradeso wie im außerpreußischen Deutschland und Österreich zu den Zeiten des Loskanfs und der Stellvertretung - auf den Soldaten als einen unnötigen Freßsack und einen Menschen zweiter Klasse herab. Es besteht nicht der geringste gemüt¬ liche Zusammenhang zwischen Volk und Militär, selbst „Heldenthaten" des englischen Söldners vermögen dem britischen Bürger keine Teilnahme abzu¬ gewinnen. Die Sammlungen für die in Not geratenen noch lebenden Helden des Neiterangriffs bei Balaelawa am 23. September 1854 erreichten nur 2100 Lstrl., dabei ist Tennysons Gedicht, das die Aufopferung der leichten Brigade besingt, jedem englischen Schulknaben bekannt. Allerdings hat das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/165>, abgerufen am 25.07.2024.