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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Mannschaften und Geld sind drüben hinreichend vorhanden, namentlich Mann¬
schaften könnten in vorzüglicher Güte beschafft werden. Aber es fehlt die
Teilnahme der Bevölkerung, die moderne Organisation, überhaupt die be¬
wegende Kraft, die vorhandnen Massen ihrem eigentlichen Zwecke, der Ver¬
teidigung des Besitzstandes des englischen Weltreichs, nutzbar zu machen. Der
Erforscher des Aralsees, Admiral Vutakofs, hat einmal den bemerkenswerten
Ausspruch gethan: "Die besten Panzerschiffe sind die, auf denen die meisten
eisernen Herzen schlagen." Wir bezweifeln, daß Großbritannien mit seinem
jetzigen Flottenshstcm die für den Krieg notwendige Anzahl solcher Panzer¬
schiffe aufbringen wird.

Der Rückgang des englischen Flottenwesens hat selbstverständlich seine
Wirkung ans die Großmachtstelluug Englands ausgeübt. Schon seit dem
Krimkriege hatten sich die militärischen Verhältnisse ans dem Festlande in einer
Weise entwickelt, die England von den Vorgängen auf den Schlachtfeldern
vollständig ausschloß, und es leitete seine Stellung als Macht nur noch von
dem Schwergewicht seiner Flotte her. Noch auf dem Berliner Kongreß stand
England damit ebenbürtig neben Nußland da. Lord Beaeonsfield hatte bei
Konstantinopel dem fast erschöpften Rußland die Flvttenmacht Englands ge¬
zeigt und Miene gemacht, als ob er die Mittel des Krieges anwenden würde,
wenn Nußland nicht von dem Sitz des Sultans zurückwiche. Seit jenem
großen Augenblick sind abermals fünfzehn Jahre vergangen, es sind große
militärische Reformen durchgeführt worden, nur die englische Flotte ist uicht
fortgeschritten. Heute ist Großbritannien thatsächlich schwächer als zur Zeit
des Krimkrieges, und seine Stimme findet im Rate der Volker nur ein kläg¬
liches Echo. Die Furcht vor der britischen Seemacht ist geschwunden, und der
alte Feind Englands, Frankreich, hält seine Kriegsflotte bereits der englischen
für gewachsen und hat gute Berechtigung dazu; denn was an Zahl abgehen
sollte, kann durch Bemannung, Ausrüstung, Organisation und Führung aus¬
geglichen werden. Dann bliebe England nur noch sein natürliches Verteidi-
guugsmittel, seine Jusellage. Doch auch diese für sich allein bietet unter den
gegenwärtigen Verhältnissen keinen unbedingten Schutz mehr; jedenfalls lügen
bei der Nähe Frankreichs nach einer Nberrnmplung oder gar Niederlage der
englischen Flotte die ungeschützten britischen Küsten offen für einen französischen
Einbruch da.

Selbst Lord Wvlseleh erklärte 1888 auf dem Jahresfeste des Nortli I.0M0U
liillu 01ub ausdrücklich, er gehöre zu jenen "einfältigen" Leuten, die einen
solchen Einfall in England für sehr wohl möglich hielten. In der That liegen
die Bedingungen für einen Einfall in England jetzt viel günstiger als zur
Zeit des ersten Napoleon. Die Dampfkraft würde es den Franzosen ermög¬
lichen, binnen kürzester Frist in ihren vorzüglichen Hä'feU an der Küste von
Dünkirchen bis Cherbourg bedeutende Truppenmassen zusammenzuziehen, die


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Mannschaften und Geld sind drüben hinreichend vorhanden, namentlich Mann¬
schaften könnten in vorzüglicher Güte beschafft werden. Aber es fehlt die
Teilnahme der Bevölkerung, die moderne Organisation, überhaupt die be¬
wegende Kraft, die vorhandnen Massen ihrem eigentlichen Zwecke, der Ver¬
teidigung des Besitzstandes des englischen Weltreichs, nutzbar zu machen. Der
Erforscher des Aralsees, Admiral Vutakofs, hat einmal den bemerkenswerten
Ausspruch gethan: „Die besten Panzerschiffe sind die, auf denen die meisten
eisernen Herzen schlagen." Wir bezweifeln, daß Großbritannien mit seinem
jetzigen Flottenshstcm die für den Krieg notwendige Anzahl solcher Panzer¬
schiffe aufbringen wird.

Der Rückgang des englischen Flottenwesens hat selbstverständlich seine
Wirkung ans die Großmachtstelluug Englands ausgeübt. Schon seit dem
Krimkriege hatten sich die militärischen Verhältnisse ans dem Festlande in einer
Weise entwickelt, die England von den Vorgängen auf den Schlachtfeldern
vollständig ausschloß, und es leitete seine Stellung als Macht nur noch von
dem Schwergewicht seiner Flotte her. Noch auf dem Berliner Kongreß stand
England damit ebenbürtig neben Nußland da. Lord Beaeonsfield hatte bei
Konstantinopel dem fast erschöpften Rußland die Flvttenmacht Englands ge¬
zeigt und Miene gemacht, als ob er die Mittel des Krieges anwenden würde,
wenn Nußland nicht von dem Sitz des Sultans zurückwiche. Seit jenem
großen Augenblick sind abermals fünfzehn Jahre vergangen, es sind große
militärische Reformen durchgeführt worden, nur die englische Flotte ist uicht
fortgeschritten. Heute ist Großbritannien thatsächlich schwächer als zur Zeit
des Krimkrieges, und seine Stimme findet im Rate der Volker nur ein kläg¬
liches Echo. Die Furcht vor der britischen Seemacht ist geschwunden, und der
alte Feind Englands, Frankreich, hält seine Kriegsflotte bereits der englischen
für gewachsen und hat gute Berechtigung dazu; denn was an Zahl abgehen
sollte, kann durch Bemannung, Ausrüstung, Organisation und Führung aus¬
geglichen werden. Dann bliebe England nur noch sein natürliches Verteidi-
guugsmittel, seine Jusellage. Doch auch diese für sich allein bietet unter den
gegenwärtigen Verhältnissen keinen unbedingten Schutz mehr; jedenfalls lügen
bei der Nähe Frankreichs nach einer Nberrnmplung oder gar Niederlage der
englischen Flotte die ungeschützten britischen Küsten offen für einen französischen
Einbruch da.

Selbst Lord Wvlseleh erklärte 1888 auf dem Jahresfeste des Nortli I.0M0U
liillu 01ub ausdrücklich, er gehöre zu jenen „einfältigen" Leuten, die einen
solchen Einfall in England für sehr wohl möglich hielten. In der That liegen
die Bedingungen für einen Einfall in England jetzt viel günstiger als zur
Zeit des ersten Napoleon. Die Dampfkraft würde es den Franzosen ermög¬
lichen, binnen kürzester Frist in ihren vorzüglichen Hä'feU an der Küste von
Dünkirchen bis Cherbourg bedeutende Truppenmassen zusammenzuziehen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/163>, abgerufen am 24.07.2024.