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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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daß der bisherige Aufwand Englands für Marine und Landheer ausreiche,
sein ausgedehntes Besitztum und seinen Handelsverkehr auf der ganzen Welt¬
kugel zu decken. Die englische Herrschaft ist viel stärker angewachsen als
seine Flotte und Landstreitmacht, und inzwischen sind die europäischen Groß-
staaten in der Entwicklung ihrer Streitkrüfte England weit vorausgeeilt. Un¬
streitig hat das britische Reich uoch die Mittel, selbst große Katastrophen er¬
tragen zu können, und es würde wohl imstande sein, überall in deu fremden
Weltteilen, wo seiner Herrschaft Feinde gegenüberstehen, lediglich mit Waffen¬
gewalt und ohne irgend welche gütliche Vermittlung seine Autorität aufrecht
zu erhalten. Aber die Hauptgefahr liegt nicht in seinen außereuropäischen Be¬
sitzungen, sondern in seinem Stammlande selbst. Man braucht dabei nicht
einmal das Gespenst einer feindlichen Landung und der erdichteten "Schlacht
von Dorking" heraufzubeschwören, sondern nur in Betracht zu ziehen, daß die
Bevölkerung Englands für ihren Lebensunterhalt sehr wesentlich aus fremde
Zufuhren angewiesen ist. Würden diese auch nur für kurze Zeit abgeschnitten,
so müßten die Folgen davon sehr ernst werden. Außerdem entwickelt sich anch
im Innern Englands eine weitere Gefahr, von der gleich noch die Rede
sein soll.

Die Eigentümlichkeit des britischen Reichs mit seinen über den ganzen
Erdball verstreuten Kolonien, festen Plätzen und Hafenorten bringt es mit sich,
daß die eigentliche Verteidigung dieser Punkte nur durch die Flotte möglich
ist oder sich wenigstens darauf stützen muß, da sie die einzige Verbindung mit
dem Mutterlande vermittelt, also die Operationslinie bildet. Es ist also
einleuchtend, daß die britische Kriegsflotte denen der andern Kriegsmächte
überlegen sein muß. Nach Lage der Dinge ist sie berufen, die schwierigsten
Aufgaben zu lösen, die seit Menschengedenken Seeleuten und Seesoldaten je
gestellt werden könnten, denn sie müßte die Küsten Großbritanniens, die bri¬
tischen Besitzungen und den britischen Handel verteidigen und außerdem deu
Feind auf allen Meeren aufspüren. Freilich dürfte kein Reich mit einiger¬
maßen bedeutendem Handel überhaupt imstande sein, diesem Handel unter allen
Umständen genügenden Schutz angedeihen zu lassen. Das kann man auch von
England nicht verlangen, obgleich es die bei weitem stärkste und leistungs¬
fähigste Kreuzerflotte der Welt hat; es würde vollkommen genügen, wenn die
englische Flotte imstande wäre, die Lebensmittelzufuhr nach dem Mutterlande
zu sicherm Ob sie das in ihrer heutigen Verfassung kann, wird allgemein
als fraglich angenommen, wenn nicht gar geleugnet, denn mit der Ausdehnung
des britischen Weltreichs hat auch seine Verwundbarkeit zugenommen, und es
würden ihm, im Falle eines Krieges mit europäischen Mächten, die schwersten
Verluste in Aussicht stehen, während es seinen Gegnern, als die wir uns
Frankreich und Rußland zu denken haben, wenig anzuthun vermöchte, weil
deren Häfen und Küsten überall gut gesichert sind.


daß der bisherige Aufwand Englands für Marine und Landheer ausreiche,
sein ausgedehntes Besitztum und seinen Handelsverkehr auf der ganzen Welt¬
kugel zu decken. Die englische Herrschaft ist viel stärker angewachsen als
seine Flotte und Landstreitmacht, und inzwischen sind die europäischen Groß-
staaten in der Entwicklung ihrer Streitkrüfte England weit vorausgeeilt. Un¬
streitig hat das britische Reich uoch die Mittel, selbst große Katastrophen er¬
tragen zu können, und es würde wohl imstande sein, überall in deu fremden
Weltteilen, wo seiner Herrschaft Feinde gegenüberstehen, lediglich mit Waffen¬
gewalt und ohne irgend welche gütliche Vermittlung seine Autorität aufrecht
zu erhalten. Aber die Hauptgefahr liegt nicht in seinen außereuropäischen Be¬
sitzungen, sondern in seinem Stammlande selbst. Man braucht dabei nicht
einmal das Gespenst einer feindlichen Landung und der erdichteten „Schlacht
von Dorking" heraufzubeschwören, sondern nur in Betracht zu ziehen, daß die
Bevölkerung Englands für ihren Lebensunterhalt sehr wesentlich aus fremde
Zufuhren angewiesen ist. Würden diese auch nur für kurze Zeit abgeschnitten,
so müßten die Folgen davon sehr ernst werden. Außerdem entwickelt sich anch
im Innern Englands eine weitere Gefahr, von der gleich noch die Rede
sein soll.

Die Eigentümlichkeit des britischen Reichs mit seinen über den ganzen
Erdball verstreuten Kolonien, festen Plätzen und Hafenorten bringt es mit sich,
daß die eigentliche Verteidigung dieser Punkte nur durch die Flotte möglich
ist oder sich wenigstens darauf stützen muß, da sie die einzige Verbindung mit
dem Mutterlande vermittelt, also die Operationslinie bildet. Es ist also
einleuchtend, daß die britische Kriegsflotte denen der andern Kriegsmächte
überlegen sein muß. Nach Lage der Dinge ist sie berufen, die schwierigsten
Aufgaben zu lösen, die seit Menschengedenken Seeleuten und Seesoldaten je
gestellt werden könnten, denn sie müßte die Küsten Großbritanniens, die bri¬
tischen Besitzungen und den britischen Handel verteidigen und außerdem deu
Feind auf allen Meeren aufspüren. Freilich dürfte kein Reich mit einiger¬
maßen bedeutendem Handel überhaupt imstande sein, diesem Handel unter allen
Umständen genügenden Schutz angedeihen zu lassen. Das kann man auch von
England nicht verlangen, obgleich es die bei weitem stärkste und leistungs¬
fähigste Kreuzerflotte der Welt hat; es würde vollkommen genügen, wenn die
englische Flotte imstande wäre, die Lebensmittelzufuhr nach dem Mutterlande
zu sicherm Ob sie das in ihrer heutigen Verfassung kann, wird allgemein
als fraglich angenommen, wenn nicht gar geleugnet, denn mit der Ausdehnung
des britischen Weltreichs hat auch seine Verwundbarkeit zugenommen, und es
würden ihm, im Falle eines Krieges mit europäischen Mächten, die schwersten
Verluste in Aussicht stehen, während es seinen Gegnern, als die wir uns
Frankreich und Rußland zu denken haben, wenig anzuthun vermöchte, weil
deren Häfen und Küsten überall gut gesichert sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/158>, abgerufen am 24.07.2024.