Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland

zu behelfen, was ja freilich nicht ausschließt, daß sich diese doch nach und
nach nach bestimmten Richtungen umbilden. Dazu gehören aber, wie uns die
Litteraturgeschichte lehrt, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte. Den technischen
Bestrebungen im einzelnen kann man wohl den Wert zuschreiben, daß sie auch
in Zukunft dem Konventionalismus entgegenarbeiten werden. Daß unsre
Sprache, in malerischer Beziehung, gewonnen hat, daß sie dank den Be¬
mühungen der neuen Schule jetzt ein Instrument ist, das zur Wiedergabe der
feinsten Natur- und Stimmungsbilder, des Lokalkolorits im verwegensten Sinne
des Wortes besser geeignet ist als früher, wird sich schwerlich bestreiten lassen.
Ähnliche Fortschritte wurden aber auch früher gemacht, ohne viel Aufhebens
davon zu machen, es fehlt auch auf diesem Gebiete nicht an Ausschreitungen,
die niemand loben kaun, und die Fortschritte sind zum Teil erkauft durch
höchst bedenkliche Rückschritte in der grammatischen Sicherheit und der Rein¬
heit des Stils. Im übrigen hat die Tendenz auf rein ästhetischem Gebiete
am allerwenigsten zu bedeuten; das Genie, das Talent machens, und der Nest
ist -- Nachahmung.

Außer den bis jetzt behandelten Tendenzen der modernen Litteratur hat
man noch eine zu betrachten, die sie gewissermaßen zusammenfaßt und in eine
bestimmte Beleuchtung rückt: die nationale. Es ist in den letzten Jahren un¬
endlich viel darüber geredet und geschrieben worden, daß uns im Grunde noch
die nationale Dichtung fehle, und manche Leute sind nur deshalb Feinde des
jüngsten Deutschlands, weil sie es so lange auf den Bahnen der Allsländer
gesehen haben. Ich muß nun gestehen, daß ich eine Möglichkeit, der Dichtung
nationale Ziele vorzuschreiben, schlechterdings nicht sehe, so fest ich auch vou
der Notwendigkeit nationaler Jndividualisirungen der Menschheit überzeugt
bin, und so gern ich eine nationaldentsche Mischung von Eigenschaften an¬
erkenne. Das bewußte Streben nach "deutscher" Poesie ist auch überflüssig,
ja im Hinblick auf eine bestimmte vaterländische Dichtung unsrer Tage sogar
schädlich. Man kann wohl bestimmte Schulreformen ius Auge fassen, mau
kann die Jugend in echt deutschem Geiste erziehen, aber man kann ans das
dichterische Schaffen seiner Zeit anch nicht den geringsten unmittelbaren Ein¬
fluß gewinnen, und darum handelt sichs hier. Jede Art von Dichtung, die
wir bisher gehabt haben, war national, die Gelehrtenpvesie zu Opitzens Zeit
so gut wie Goethes antilisirende, Schillers "Jungfrau" so gut wie Hebbels
"Judith"; selbst Heine ist doch etwas mehr als ein in deutscher Sprache
dichtender Jude, eben weil er ein Dichter war. Natürlich wird sich auch der
Dichter von einer stärker werdenden nationalen Strömung beeinflussen lasse",
aber es wird ihn andrerseits auch nichts hindern, die Welt einmal mit den
Augen des Franzosen oder des Engländers anzusehen -- der Dramatiker z. B.
hat das oft geradezu nötig -- und die aus fremden Ländern kommenden
geistigen Einflüsse auf sich wirken zu lassen. In der Gesamtheit seines Wesens


Grenzboten IV 1893 18
Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland

zu behelfen, was ja freilich nicht ausschließt, daß sich diese doch nach und
nach nach bestimmten Richtungen umbilden. Dazu gehören aber, wie uns die
Litteraturgeschichte lehrt, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte. Den technischen
Bestrebungen im einzelnen kann man wohl den Wert zuschreiben, daß sie auch
in Zukunft dem Konventionalismus entgegenarbeiten werden. Daß unsre
Sprache, in malerischer Beziehung, gewonnen hat, daß sie dank den Be¬
mühungen der neuen Schule jetzt ein Instrument ist, das zur Wiedergabe der
feinsten Natur- und Stimmungsbilder, des Lokalkolorits im verwegensten Sinne
des Wortes besser geeignet ist als früher, wird sich schwerlich bestreiten lassen.
Ähnliche Fortschritte wurden aber auch früher gemacht, ohne viel Aufhebens
davon zu machen, es fehlt auch auf diesem Gebiete nicht an Ausschreitungen,
die niemand loben kaun, und die Fortschritte sind zum Teil erkauft durch
höchst bedenkliche Rückschritte in der grammatischen Sicherheit und der Rein¬
heit des Stils. Im übrigen hat die Tendenz auf rein ästhetischem Gebiete
am allerwenigsten zu bedeuten; das Genie, das Talent machens, und der Nest
ist — Nachahmung.

Außer den bis jetzt behandelten Tendenzen der modernen Litteratur hat
man noch eine zu betrachten, die sie gewissermaßen zusammenfaßt und in eine
bestimmte Beleuchtung rückt: die nationale. Es ist in den letzten Jahren un¬
endlich viel darüber geredet und geschrieben worden, daß uns im Grunde noch
die nationale Dichtung fehle, und manche Leute sind nur deshalb Feinde des
jüngsten Deutschlands, weil sie es so lange auf den Bahnen der Allsländer
gesehen haben. Ich muß nun gestehen, daß ich eine Möglichkeit, der Dichtung
nationale Ziele vorzuschreiben, schlechterdings nicht sehe, so fest ich auch vou
der Notwendigkeit nationaler Jndividualisirungen der Menschheit überzeugt
bin, und so gern ich eine nationaldentsche Mischung von Eigenschaften an¬
erkenne. Das bewußte Streben nach „deutscher" Poesie ist auch überflüssig,
ja im Hinblick auf eine bestimmte vaterländische Dichtung unsrer Tage sogar
schädlich. Man kann wohl bestimmte Schulreformen ius Auge fassen, mau
kann die Jugend in echt deutschem Geiste erziehen, aber man kann ans das
dichterische Schaffen seiner Zeit anch nicht den geringsten unmittelbaren Ein¬
fluß gewinnen, und darum handelt sichs hier. Jede Art von Dichtung, die
wir bisher gehabt haben, war national, die Gelehrtenpvesie zu Opitzens Zeit
so gut wie Goethes antilisirende, Schillers „Jungfrau" so gut wie Hebbels
„Judith"; selbst Heine ist doch etwas mehr als ein in deutscher Sprache
dichtender Jude, eben weil er ein Dichter war. Natürlich wird sich auch der
Dichter von einer stärker werdenden nationalen Strömung beeinflussen lasse»,
aber es wird ihn andrerseits auch nichts hindern, die Welt einmal mit den
Augen des Franzosen oder des Engländers anzusehen — der Dramatiker z. B.
hat das oft geradezu nötig — und die aus fremden Ländern kommenden
geistigen Einflüsse auf sich wirken zu lassen. In der Gesamtheit seines Wesens


Grenzboten IV 1893 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215869"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_386" prev="#ID_385"> zu behelfen, was ja freilich nicht ausschließt, daß sich diese doch nach und<lb/>
nach nach bestimmten Richtungen umbilden. Dazu gehören aber, wie uns die<lb/>
Litteraturgeschichte lehrt, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte. Den technischen<lb/>
Bestrebungen im einzelnen kann man wohl den Wert zuschreiben, daß sie auch<lb/>
in Zukunft dem Konventionalismus entgegenarbeiten werden. Daß unsre<lb/>
Sprache, in malerischer Beziehung, gewonnen hat, daß sie dank den Be¬<lb/>
mühungen der neuen Schule jetzt ein Instrument ist, das zur Wiedergabe der<lb/>
feinsten Natur- und Stimmungsbilder, des Lokalkolorits im verwegensten Sinne<lb/>
des Wortes besser geeignet ist als früher, wird sich schwerlich bestreiten lassen.<lb/>
Ähnliche Fortschritte wurden aber auch früher gemacht, ohne viel Aufhebens<lb/>
davon zu machen, es fehlt auch auf diesem Gebiete nicht an Ausschreitungen,<lb/>
die niemand loben kaun, und die Fortschritte sind zum Teil erkauft durch<lb/>
höchst bedenkliche Rückschritte in der grammatischen Sicherheit und der Rein¬<lb/>
heit des Stils. Im übrigen hat die Tendenz auf rein ästhetischem Gebiete<lb/>
am allerwenigsten zu bedeuten; das Genie, das Talent machens, und der Nest<lb/>
ist &#x2014; Nachahmung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_387" next="#ID_388"> Außer den bis jetzt behandelten Tendenzen der modernen Litteratur hat<lb/>
man noch eine zu betrachten, die sie gewissermaßen zusammenfaßt und in eine<lb/>
bestimmte Beleuchtung rückt: die nationale. Es ist in den letzten Jahren un¬<lb/>
endlich viel darüber geredet und geschrieben worden, daß uns im Grunde noch<lb/>
die nationale Dichtung fehle, und manche Leute sind nur deshalb Feinde des<lb/>
jüngsten Deutschlands, weil sie es so lange auf den Bahnen der Allsländer<lb/>
gesehen haben. Ich muß nun gestehen, daß ich eine Möglichkeit, der Dichtung<lb/>
nationale Ziele vorzuschreiben, schlechterdings nicht sehe, so fest ich auch vou<lb/>
der Notwendigkeit nationaler Jndividualisirungen der Menschheit überzeugt<lb/>
bin, und so gern ich eine nationaldentsche Mischung von Eigenschaften an¬<lb/>
erkenne. Das bewußte Streben nach &#x201E;deutscher" Poesie ist auch überflüssig,<lb/>
ja im Hinblick auf eine bestimmte vaterländische Dichtung unsrer Tage sogar<lb/>
schädlich. Man kann wohl bestimmte Schulreformen ius Auge fassen, mau<lb/>
kann die Jugend in echt deutschem Geiste erziehen, aber man kann ans das<lb/>
dichterische Schaffen seiner Zeit anch nicht den geringsten unmittelbaren Ein¬<lb/>
fluß gewinnen, und darum handelt sichs hier. Jede Art von Dichtung, die<lb/>
wir bisher gehabt haben, war national, die Gelehrtenpvesie zu Opitzens Zeit<lb/>
so gut wie Goethes antilisirende, Schillers &#x201E;Jungfrau" so gut wie Hebbels<lb/>
&#x201E;Judith"; selbst Heine ist doch etwas mehr als ein in deutscher Sprache<lb/>
dichtender Jude, eben weil er ein Dichter war. Natürlich wird sich auch der<lb/>
Dichter von einer stärker werdenden nationalen Strömung beeinflussen lasse»,<lb/>
aber es wird ihn andrerseits auch nichts hindern, die Welt einmal mit den<lb/>
Augen des Franzosen oder des Engländers anzusehen &#x2014; der Dramatiker z. B.<lb/>
hat das oft geradezu nötig &#x2014; und die aus fremden Ländern kommenden<lb/>
geistigen Einflüsse auf sich wirken zu lassen. In der Gesamtheit seines Wesens</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1893 18</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0145] Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland zu behelfen, was ja freilich nicht ausschließt, daß sich diese doch nach und nach nach bestimmten Richtungen umbilden. Dazu gehören aber, wie uns die Litteraturgeschichte lehrt, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte. Den technischen Bestrebungen im einzelnen kann man wohl den Wert zuschreiben, daß sie auch in Zukunft dem Konventionalismus entgegenarbeiten werden. Daß unsre Sprache, in malerischer Beziehung, gewonnen hat, daß sie dank den Be¬ mühungen der neuen Schule jetzt ein Instrument ist, das zur Wiedergabe der feinsten Natur- und Stimmungsbilder, des Lokalkolorits im verwegensten Sinne des Wortes besser geeignet ist als früher, wird sich schwerlich bestreiten lassen. Ähnliche Fortschritte wurden aber auch früher gemacht, ohne viel Aufhebens davon zu machen, es fehlt auch auf diesem Gebiete nicht an Ausschreitungen, die niemand loben kaun, und die Fortschritte sind zum Teil erkauft durch höchst bedenkliche Rückschritte in der grammatischen Sicherheit und der Rein¬ heit des Stils. Im übrigen hat die Tendenz auf rein ästhetischem Gebiete am allerwenigsten zu bedeuten; das Genie, das Talent machens, und der Nest ist — Nachahmung. Außer den bis jetzt behandelten Tendenzen der modernen Litteratur hat man noch eine zu betrachten, die sie gewissermaßen zusammenfaßt und in eine bestimmte Beleuchtung rückt: die nationale. Es ist in den letzten Jahren un¬ endlich viel darüber geredet und geschrieben worden, daß uns im Grunde noch die nationale Dichtung fehle, und manche Leute sind nur deshalb Feinde des jüngsten Deutschlands, weil sie es so lange auf den Bahnen der Allsländer gesehen haben. Ich muß nun gestehen, daß ich eine Möglichkeit, der Dichtung nationale Ziele vorzuschreiben, schlechterdings nicht sehe, so fest ich auch vou der Notwendigkeit nationaler Jndividualisirungen der Menschheit überzeugt bin, und so gern ich eine nationaldentsche Mischung von Eigenschaften an¬ erkenne. Das bewußte Streben nach „deutscher" Poesie ist auch überflüssig, ja im Hinblick auf eine bestimmte vaterländische Dichtung unsrer Tage sogar schädlich. Man kann wohl bestimmte Schulreformen ius Auge fassen, mau kann die Jugend in echt deutschem Geiste erziehen, aber man kann ans das dichterische Schaffen seiner Zeit anch nicht den geringsten unmittelbaren Ein¬ fluß gewinnen, und darum handelt sichs hier. Jede Art von Dichtung, die wir bisher gehabt haben, war national, die Gelehrtenpvesie zu Opitzens Zeit so gut wie Goethes antilisirende, Schillers „Jungfrau" so gut wie Hebbels „Judith"; selbst Heine ist doch etwas mehr als ein in deutscher Sprache dichtender Jude, eben weil er ein Dichter war. Natürlich wird sich auch der Dichter von einer stärker werdenden nationalen Strömung beeinflussen lasse», aber es wird ihn andrerseits auch nichts hindern, die Welt einmal mit den Augen des Franzosen oder des Engländers anzusehen — der Dramatiker z. B. hat das oft geradezu nötig — und die aus fremden Ländern kommenden geistigen Einflüsse auf sich wirken zu lassen. In der Gesamtheit seines Wesens Grenzboten IV 1893 18

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/145
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/145>, abgerufen am 25.08.2024.