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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbemegnng in Deutschland

schaffenden des Dichters und dem Wesen der Poesie als einer über jeden
Militarismus erhabnen Sache Hütte, so wäre hier ein schönes Ziel erreicht.

Am wenigsten hat sich die moderne Dichtung bisher um die rein ästhetische
Seite der Kunst verdient gemacht. Sie hat zwar versucht, eine neue Technik
zu schaffen, aber es kommt mir so vor, als ob diese ein Rückschritt wäre.
Neue Formen hat sie jedenfalls nicht zustande gebracht, nur die alten vielfach
aufgelöst. Auch hier war ihr Grundsatz: "Zur Wahrheit, zur Natur!", und
so verfiel sie auf die Theorie der getreuen Kopirung der Wirklichkeit. Be¬
kanntlich sagt aber schon der alte Dürer: "Wer die Kunst aus der Natur
herauszureißen versteht, der hat sie," und das Herausreißen will doch wohl
etwas mehr besagen als kopiren. Auch ist jetzt ziemlich allgemein anerkannt,
selbst von den Extremen, daß photographische Treue bei künstlerischer Thätigkeit
nicht zu erreichen ist, daß der Dichter die Dinge durch sein Temperament sieht,
und der Zuhörer oder Leser gleichfalls, daß also selbstverständlich alle Kunst
auf Erregung von Illusion beruht und ewig beruhen wird, es daher auf etwas
mehr oder weniger Illusion gar nicht ankommt. Ob die Leute z. B. in ab-
gebrochnen oder vollständige" Sätzen reden, ist für das Drama ziemlich gleich-
giltig; ist es doch sogar, wenn man Wagner glauben dürfte, gleichgiltig, ob
im Drama geredet oder gesungen wird. Auch der genanen Schilderung des
"Milieu" kann ich nicht die Bedeutung einräumen, die man ihm gewöhnlich
zuschreibt, ganz abgesehen von ihrer schon hervorgehvlmen Unmöglichkeit. Die
meisten Romanschriftsteller, Zola an der Spitze, berücksichtige!? in ihrem Streben
nach Genauigkeit nur das Nebeneinander der Menschen und Dinge, finden da¬
gegen das eigentliche Wesen, den Geist beider, das, was sie in ihrem Kreise be¬
deuten und dieser Kreis wieder im Weltganzen, nicht heraus. Die frühern große"
Dichter haben anch das Milieu gegeben -- ich erinnere nur an Don Quixote,
an Werther und Wilhelm Meister; sie haben aber nie vergessen, daß jede bedeu¬
tendere Natur deu "stumpfen Widerstand der Welt" zu überwinden strebt und
bis zu einem hohen Grade auch stets überwindet. Für das Genie ist die ganze
Welt Milieu. Will man ferner das Milieu in ganzer Breite bringen, so ist man
auf die Form des Romans allem angewiesen, und dieser ist sicherlich die Form
der Dichtung, die am wenigsten künstlerisch-krystallinische Gebilde von dauerndem
Wert zu schaffen gestattet. Höchstens kann man als extremer Naturalist noch
im Lesedrama etwas leisten, einem Dinge, das seinen eigentlichen Zweck ver¬
fehlt. Alle andern Gattungen müssen fallen, vor allem die Lyrik, die ihren
ursprünglich interjektioualen Charakter nie wird verleugnen können, deren Tod
die Breite ist, und die jedem echten Dichter nach wie vor unentbehrlich sein
wird, da er sich nur in ihr allseitig ausgeben kann. Das kurze Prosa-
ftimmuugsbild, das die Lyrik in unsern Tagen vielfach ersetzen muß, teilt alle
künstlerische!, Unzulänglichkeiten der Romanform. So wird denn der neuen
Richtung schwerlich etwas andres übrig bleiben, als sich mit den alten Formen


Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbemegnng in Deutschland

schaffenden des Dichters und dem Wesen der Poesie als einer über jeden
Militarismus erhabnen Sache Hütte, so wäre hier ein schönes Ziel erreicht.

Am wenigsten hat sich die moderne Dichtung bisher um die rein ästhetische
Seite der Kunst verdient gemacht. Sie hat zwar versucht, eine neue Technik
zu schaffen, aber es kommt mir so vor, als ob diese ein Rückschritt wäre.
Neue Formen hat sie jedenfalls nicht zustande gebracht, nur die alten vielfach
aufgelöst. Auch hier war ihr Grundsatz: „Zur Wahrheit, zur Natur!", und
so verfiel sie auf die Theorie der getreuen Kopirung der Wirklichkeit. Be¬
kanntlich sagt aber schon der alte Dürer: „Wer die Kunst aus der Natur
herauszureißen versteht, der hat sie," und das Herausreißen will doch wohl
etwas mehr besagen als kopiren. Auch ist jetzt ziemlich allgemein anerkannt,
selbst von den Extremen, daß photographische Treue bei künstlerischer Thätigkeit
nicht zu erreichen ist, daß der Dichter die Dinge durch sein Temperament sieht,
und der Zuhörer oder Leser gleichfalls, daß also selbstverständlich alle Kunst
auf Erregung von Illusion beruht und ewig beruhen wird, es daher auf etwas
mehr oder weniger Illusion gar nicht ankommt. Ob die Leute z. B. in ab-
gebrochnen oder vollständige» Sätzen reden, ist für das Drama ziemlich gleich-
giltig; ist es doch sogar, wenn man Wagner glauben dürfte, gleichgiltig, ob
im Drama geredet oder gesungen wird. Auch der genanen Schilderung des
„Milieu" kann ich nicht die Bedeutung einräumen, die man ihm gewöhnlich
zuschreibt, ganz abgesehen von ihrer schon hervorgehvlmen Unmöglichkeit. Die
meisten Romanschriftsteller, Zola an der Spitze, berücksichtige!? in ihrem Streben
nach Genauigkeit nur das Nebeneinander der Menschen und Dinge, finden da¬
gegen das eigentliche Wesen, den Geist beider, das, was sie in ihrem Kreise be¬
deuten und dieser Kreis wieder im Weltganzen, nicht heraus. Die frühern große»
Dichter haben anch das Milieu gegeben — ich erinnere nur an Don Quixote,
an Werther und Wilhelm Meister; sie haben aber nie vergessen, daß jede bedeu¬
tendere Natur deu „stumpfen Widerstand der Welt" zu überwinden strebt und
bis zu einem hohen Grade auch stets überwindet. Für das Genie ist die ganze
Welt Milieu. Will man ferner das Milieu in ganzer Breite bringen, so ist man
auf die Form des Romans allem angewiesen, und dieser ist sicherlich die Form
der Dichtung, die am wenigsten künstlerisch-krystallinische Gebilde von dauerndem
Wert zu schaffen gestattet. Höchstens kann man als extremer Naturalist noch
im Lesedrama etwas leisten, einem Dinge, das seinen eigentlichen Zweck ver¬
fehlt. Alle andern Gattungen müssen fallen, vor allem die Lyrik, die ihren
ursprünglich interjektioualen Charakter nie wird verleugnen können, deren Tod
die Breite ist, und die jedem echten Dichter nach wie vor unentbehrlich sein
wird, da er sich nur in ihr allseitig ausgeben kann. Das kurze Prosa-
ftimmuugsbild, das die Lyrik in unsern Tagen vielfach ersetzen muß, teilt alle
künstlerische!, Unzulänglichkeiten der Romanform. So wird denn der neuen
Richtung schwerlich etwas andres übrig bleiben, als sich mit den alten Formen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/144>, abgerufen am 25.08.2024.