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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Oeutschland

entbehren können, da doch die engen Verhältnisse des sozialen Stücks gründ¬
liche Ausschöpfung großer Probleme, die freie Bewegung gewaltiger Charaktere,
die immer und ewig dasein werden, nicht gestatten. Schon die Lehre von der
Vererbung fordert das historische Stück. Daß man den Geist der Zeit auch
in diesem, ohne ästhetisch zu fehlen, hinreichend zeigen kann, beweist Shake¬
speare, beweist sogar, und für unsern Fall vielleicht noch besser, die klassische
Tragödie der Franzosen. Hat diese ihre zeitliche und nationale Aufgabe trotz
ihrer meist antiken Stoffe etwa nicht erfüllt? Man kann billig bezweifeln,
daß unsre neuesten sozialen Dramen in zweihundert Jahren noch so lesbar
sein werden, wie heute die Tragödien Nacines.

Auch auf ethischem Gebiete hat sich die moderne Dichtung revolutionär
genug geberdet: es ist geradezu behauptet worden, daß unsre gesamte Sitten¬
lehre veraltet, unsre praktische Moral von Grund aus verderbt sei. Es hat
keinen Zweck, hier von den Fragezeichen Ibsens, den Lehren Nietzsches und
Tolstois ausführlicher zu reden, noch weniger, sich mit dem Sozialismus und
andern warmempfohlenen Heilmitteln für die entartete Menschheit zu befassen.
Sicherlich hat die moderne Dichtung recht gethan, den Fragen, die die Zeit
bewegen, kühn ins Antlitz zu blicken, anstatt sich, wie man es noch vor kürzern
liebte, ins alte Äghpten oder auf einen stillen Waldfleck oder gar in die
Schänke zur minnigen Maid zu flüchten; ich glaube auch behaupten zu können,
daß es sehr vielen unsrer jungen Schriftsteller mit der Aufdeckung und wo¬
möglich Ausrottung der sozialen Übel bittrer Ernst gewesen ist. Aber die
Lösung der Rätsel der modernen Sphinx wird den Dichtern schwerlich ge¬
lingen, ihre Tendenzwerke werden spurlos vergehen wie die des jungen Deutsch¬
lands, ihre Romane und Dramen mit ihren gemachten Problemen -- sie sind
sehr zahlreich -- werden verlacht werden. Und die neue Sittlichkeit? Viel¬
leicht behält der Dichter von Anno 1844 Recht, der da sagt: "Der Mensch
dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld giebt, neue und un¬
erhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vor-
handnen, er will, daß sie sich auf nichts als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit,
die identisch sind, stützen und also den äußern Haken, an dem sie bis jetzt
zum Teil befestigt waren, gegen den innern Schwerpunkt, aus dem sie sich
vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen." Und weiter: "Wir sollen im
Ästhetischen wie im Sittlichen nach meiner Überzeugung nicht das elfte Ge¬
bot erfinden, sondern die zehn vorhandnen erfüllen." Jedenfalls ist man
-- um wieder auf unser eigentliches Thema zurückzukommen -- bei der neuesten
Litteraturentwicklung vielfach gewahr geworden, daß die Kunst doch ein ernstes
Ding, kein Spiel zu Zwecken der Unterhaltung oder der sogenannten Erhebung
(zu halb sinnlichem Dusel nämlich), wenn auch durchaus "sreie" Thätigkeit ist.
Wenn diese Anschauung nnn die herrschende würde, jeder Dichter in Zukunft
den notwendigen Kunsternst, das Publikum ein bischen Ahnung von der Be-


Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Oeutschland

entbehren können, da doch die engen Verhältnisse des sozialen Stücks gründ¬
liche Ausschöpfung großer Probleme, die freie Bewegung gewaltiger Charaktere,
die immer und ewig dasein werden, nicht gestatten. Schon die Lehre von der
Vererbung fordert das historische Stück. Daß man den Geist der Zeit auch
in diesem, ohne ästhetisch zu fehlen, hinreichend zeigen kann, beweist Shake¬
speare, beweist sogar, und für unsern Fall vielleicht noch besser, die klassische
Tragödie der Franzosen. Hat diese ihre zeitliche und nationale Aufgabe trotz
ihrer meist antiken Stoffe etwa nicht erfüllt? Man kann billig bezweifeln,
daß unsre neuesten sozialen Dramen in zweihundert Jahren noch so lesbar
sein werden, wie heute die Tragödien Nacines.

Auch auf ethischem Gebiete hat sich die moderne Dichtung revolutionär
genug geberdet: es ist geradezu behauptet worden, daß unsre gesamte Sitten¬
lehre veraltet, unsre praktische Moral von Grund aus verderbt sei. Es hat
keinen Zweck, hier von den Fragezeichen Ibsens, den Lehren Nietzsches und
Tolstois ausführlicher zu reden, noch weniger, sich mit dem Sozialismus und
andern warmempfohlenen Heilmitteln für die entartete Menschheit zu befassen.
Sicherlich hat die moderne Dichtung recht gethan, den Fragen, die die Zeit
bewegen, kühn ins Antlitz zu blicken, anstatt sich, wie man es noch vor kürzern
liebte, ins alte Äghpten oder auf einen stillen Waldfleck oder gar in die
Schänke zur minnigen Maid zu flüchten; ich glaube auch behaupten zu können,
daß es sehr vielen unsrer jungen Schriftsteller mit der Aufdeckung und wo¬
möglich Ausrottung der sozialen Übel bittrer Ernst gewesen ist. Aber die
Lösung der Rätsel der modernen Sphinx wird den Dichtern schwerlich ge¬
lingen, ihre Tendenzwerke werden spurlos vergehen wie die des jungen Deutsch¬
lands, ihre Romane und Dramen mit ihren gemachten Problemen -- sie sind
sehr zahlreich — werden verlacht werden. Und die neue Sittlichkeit? Viel¬
leicht behält der Dichter von Anno 1844 Recht, der da sagt: „Der Mensch
dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld giebt, neue und un¬
erhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vor-
handnen, er will, daß sie sich auf nichts als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit,
die identisch sind, stützen und also den äußern Haken, an dem sie bis jetzt
zum Teil befestigt waren, gegen den innern Schwerpunkt, aus dem sie sich
vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen." Und weiter: „Wir sollen im
Ästhetischen wie im Sittlichen nach meiner Überzeugung nicht das elfte Ge¬
bot erfinden, sondern die zehn vorhandnen erfüllen." Jedenfalls ist man
— um wieder auf unser eigentliches Thema zurückzukommen — bei der neuesten
Litteraturentwicklung vielfach gewahr geworden, daß die Kunst doch ein ernstes
Ding, kein Spiel zu Zwecken der Unterhaltung oder der sogenannten Erhebung
(zu halb sinnlichem Dusel nämlich), wenn auch durchaus „sreie" Thätigkeit ist.
Wenn diese Anschauung nnn die herrschende würde, jeder Dichter in Zukunft
den notwendigen Kunsternst, das Publikum ein bischen Ahnung von der Be-


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[0143] Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Oeutschland entbehren können, da doch die engen Verhältnisse des sozialen Stücks gründ¬ liche Ausschöpfung großer Probleme, die freie Bewegung gewaltiger Charaktere, die immer und ewig dasein werden, nicht gestatten. Schon die Lehre von der Vererbung fordert das historische Stück. Daß man den Geist der Zeit auch in diesem, ohne ästhetisch zu fehlen, hinreichend zeigen kann, beweist Shake¬ speare, beweist sogar, und für unsern Fall vielleicht noch besser, die klassische Tragödie der Franzosen. Hat diese ihre zeitliche und nationale Aufgabe trotz ihrer meist antiken Stoffe etwa nicht erfüllt? Man kann billig bezweifeln, daß unsre neuesten sozialen Dramen in zweihundert Jahren noch so lesbar sein werden, wie heute die Tragödien Nacines. Auch auf ethischem Gebiete hat sich die moderne Dichtung revolutionär genug geberdet: es ist geradezu behauptet worden, daß unsre gesamte Sitten¬ lehre veraltet, unsre praktische Moral von Grund aus verderbt sei. Es hat keinen Zweck, hier von den Fragezeichen Ibsens, den Lehren Nietzsches und Tolstois ausführlicher zu reden, noch weniger, sich mit dem Sozialismus und andern warmempfohlenen Heilmitteln für die entartete Menschheit zu befassen. Sicherlich hat die moderne Dichtung recht gethan, den Fragen, die die Zeit bewegen, kühn ins Antlitz zu blicken, anstatt sich, wie man es noch vor kürzern liebte, ins alte Äghpten oder auf einen stillen Waldfleck oder gar in die Schänke zur minnigen Maid zu flüchten; ich glaube auch behaupten zu können, daß es sehr vielen unsrer jungen Schriftsteller mit der Aufdeckung und wo¬ möglich Ausrottung der sozialen Übel bittrer Ernst gewesen ist. Aber die Lösung der Rätsel der modernen Sphinx wird den Dichtern schwerlich ge¬ lingen, ihre Tendenzwerke werden spurlos vergehen wie die des jungen Deutsch¬ lands, ihre Romane und Dramen mit ihren gemachten Problemen -- sie sind sehr zahlreich — werden verlacht werden. Und die neue Sittlichkeit? Viel¬ leicht behält der Dichter von Anno 1844 Recht, der da sagt: „Der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld giebt, neue und un¬ erhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vor- handnen, er will, daß sie sich auf nichts als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußern Haken, an dem sie bis jetzt zum Teil befestigt waren, gegen den innern Schwerpunkt, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen." Und weiter: „Wir sollen im Ästhetischen wie im Sittlichen nach meiner Überzeugung nicht das elfte Ge¬ bot erfinden, sondern die zehn vorhandnen erfüllen." Jedenfalls ist man — um wieder auf unser eigentliches Thema zurückzukommen — bei der neuesten Litteraturentwicklung vielfach gewahr geworden, daß die Kunst doch ein ernstes Ding, kein Spiel zu Zwecken der Unterhaltung oder der sogenannten Erhebung (zu halb sinnlichem Dusel nämlich), wenn auch durchaus „sreie" Thätigkeit ist. Wenn diese Anschauung nnn die herrschende würde, jeder Dichter in Zukunft den notwendigen Kunsternst, das Publikum ein bischen Ahnung von der Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/143>, abgerufen am 22.07.2024.