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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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nahmen sich namentlich zu Anfang höchst ungeberdig und wollten selbst Goethe
zu den Toten werfen. Inzwischen dürften sie sich alle besonnen haben. Die
Alten ihrerseits sahen vielfach nur das Abstoßende der Bewegung, das wilde
Geberden des Mostes und die uicht zu verkennenden krankhaften Züge, sowie
die Ausländerei und schimpften auf die Revolutionäre im Schulmeistertem, der
bekanntlich von leidlich erwachsenen Leuten am schwersten ertragen wird. An¬
fänglich hatten die Alten noch das Gros des Publikums für sich, gegenwärtig
aber ist ein Zwischenzustand eingetreten: im Vordergrunde des Interesses der
die Litteraturmode mitmachenden Menge stehen jetzt eine Reihe Übergangs¬
talente -- Nomina 8rat ocliosa, --, die ihr Gebräu schicklich aus Altem und
Neuem bereiten. Dabei gewinnen aber die großen Dichter der verflossenen
Periode, vor allem Keller, Storm und Raabe, ja selbst frühere wie Hebbel
und Ludwig, stündig an Boden, während sich auch für die echten Talente
nnter den Neuen nach und nach künstlerisches Verständnis findet. Dieser
Zwischenzustand pflegt einzutreten, sobald der Strom der litterarischen Be¬
wegung ruhiger geworden ist und die Erkenntnis ihrer "Tendenzen" zuläßt.

Im Grunde sind die Tendenzen aller litterarischen Bewegungen dieselben,
ja es giebt eigentlich nur eine Tendenz, wenn auch bald diese, bald jene Seite
davon deutlicher hervortritt. Man strebt, um zunächst das gewöhnlichste Schlag-
wort zu nennen, vom Konventionellen zur Natur und Wahrheit (die intellek¬
tuelle Seite), vom Unsittlichen oder doch von der veralteten Moral zur wahren
Sittlichkeit (die ethische Seite), endlich von der niedern zur höhern dichterischen
Form (die ästhetische Seite). Auch die angewandten Mittel sind meist die¬
selben: der intellektuellen Tendenz dient die Erweiterung des Stoffgebiets,
die Aufnahme neuer Errungenschaften der Wissenschaft; der ethischen die un¬
mittelbare Einführung von Einzettendenzcn, das Konstrnireu oder doch bewußte
Herausarbeiten von Problemen neben einem bestimmten allgemeinen Wahrheits-
drange; der ästhetischen endlich die Versuche, eine neue Technik und neue leben-
umfaugeude Formen zu gewinnen. Selbst bei der harmlosesten aller Sturm¬
und Drangpcrivden, der Münchner, sind alle drei Tendenzen nachzuweisen, nur
daß die Einzeltendcnzen, in denen das junge Deutschland seine starke Seite ge¬
sucht hatte, verworfen wurden, während man andrerseits eifrig nach neuen
Stoffen ans dem bunten Volksleben, nach Nvvellenprvblemen, nach Bereiche¬
rung der (äußern) Form strebte. Das tief aufwühlende revolutionäre Element
fehlte jedoch. Um so stärker ist das bei der gegenwärtigen litterarischen Be¬
wegung vertreten.

Der Konventionalismus der siebziger und der beginnendem achtziger Jahre
hatte sich, in dem Bewußtsein seiner poetischen Schwäche, in den Begriffen
Sittlichkeit, Erhebung und Versöhnung außerordentlich starke Schutzwerke er¬
richtet, sodaß das revolutionäre Wesen der neuesten Dichtung wohl zu ver¬
stehen und zu entschuldigen ist. Wenn man nun freilich als das Ziel der


nahmen sich namentlich zu Anfang höchst ungeberdig und wollten selbst Goethe
zu den Toten werfen. Inzwischen dürften sie sich alle besonnen haben. Die
Alten ihrerseits sahen vielfach nur das Abstoßende der Bewegung, das wilde
Geberden des Mostes und die uicht zu verkennenden krankhaften Züge, sowie
die Ausländerei und schimpften auf die Revolutionäre im Schulmeistertem, der
bekanntlich von leidlich erwachsenen Leuten am schwersten ertragen wird. An¬
fänglich hatten die Alten noch das Gros des Publikums für sich, gegenwärtig
aber ist ein Zwischenzustand eingetreten: im Vordergrunde des Interesses der
die Litteraturmode mitmachenden Menge stehen jetzt eine Reihe Übergangs¬
talente — Nomina 8rat ocliosa, —, die ihr Gebräu schicklich aus Altem und
Neuem bereiten. Dabei gewinnen aber die großen Dichter der verflossenen
Periode, vor allem Keller, Storm und Raabe, ja selbst frühere wie Hebbel
und Ludwig, stündig an Boden, während sich auch für die echten Talente
nnter den Neuen nach und nach künstlerisches Verständnis findet. Dieser
Zwischenzustand pflegt einzutreten, sobald der Strom der litterarischen Be¬
wegung ruhiger geworden ist und die Erkenntnis ihrer „Tendenzen" zuläßt.

Im Grunde sind die Tendenzen aller litterarischen Bewegungen dieselben,
ja es giebt eigentlich nur eine Tendenz, wenn auch bald diese, bald jene Seite
davon deutlicher hervortritt. Man strebt, um zunächst das gewöhnlichste Schlag-
wort zu nennen, vom Konventionellen zur Natur und Wahrheit (die intellek¬
tuelle Seite), vom Unsittlichen oder doch von der veralteten Moral zur wahren
Sittlichkeit (die ethische Seite), endlich von der niedern zur höhern dichterischen
Form (die ästhetische Seite). Auch die angewandten Mittel sind meist die¬
selben: der intellektuellen Tendenz dient die Erweiterung des Stoffgebiets,
die Aufnahme neuer Errungenschaften der Wissenschaft; der ethischen die un¬
mittelbare Einführung von Einzettendenzcn, das Konstrnireu oder doch bewußte
Herausarbeiten von Problemen neben einem bestimmten allgemeinen Wahrheits-
drange; der ästhetischen endlich die Versuche, eine neue Technik und neue leben-
umfaugeude Formen zu gewinnen. Selbst bei der harmlosesten aller Sturm¬
und Drangpcrivden, der Münchner, sind alle drei Tendenzen nachzuweisen, nur
daß die Einzeltendcnzen, in denen das junge Deutschland seine starke Seite ge¬
sucht hatte, verworfen wurden, während man andrerseits eifrig nach neuen
Stoffen ans dem bunten Volksleben, nach Nvvellenprvblemen, nach Bereiche¬
rung der (äußern) Form strebte. Das tief aufwühlende revolutionäre Element
fehlte jedoch. Um so stärker ist das bei der gegenwärtigen litterarischen Be¬
wegung vertreten.

Der Konventionalismus der siebziger und der beginnendem achtziger Jahre
hatte sich, in dem Bewußtsein seiner poetischen Schwäche, in den Begriffen
Sittlichkeit, Erhebung und Versöhnung außerordentlich starke Schutzwerke er¬
richtet, sodaß das revolutionäre Wesen der neuesten Dichtung wohl zu ver¬
stehen und zu entschuldigen ist. Wenn man nun freilich als das Ziel der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/141>, abgerufen am 22.07.2024.