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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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thätigte. Jede neue Periode brachte dann, wie es sich von selbst versteht, die
Reaktion auf die vorhergehende. Die Stürmer und Dränger von 1770 wollten
über Klopstock, vor allein aber über Wieland und Lessing hinaus, in deren
Dichtung antike und französische Elemente immer noch stark vertreten waren,
mit einem Wort, über die Gesellschaftspoesie des achtzehnten Jahrhunderts,
die Romantik über die aus dem Sturm und Drang erwachsene, aber teilweise
den alten Idealen untreu gewordne klassische Dichtung, das junge Deutschland
wieder über die entartete und verweichlichte Romantik, die Münchner und was
mit ihnen zusammenhängt, über die halb und halb publizistischen Tendenzen
der Jungdeutschen. Man hat, wie mir scheinen will, dem Zustande der deutschen
Litteratur um 1860 bisher noch viel zu wenig Anfmerksamkeit gewidmet; er
bezeichnete unbedingt eine Höhe der Entwicklung. Noch lebten die beiden großen
Vertreter des realistischen Charakterdramas der Deutschen, Hebbel und Otto
Ludwig, aber sie standen, wie die Genies fast immer, völlig einsam; es hatten
sich ferner aus jungdeutschen Anfängen manche hervorragende Talente zu be¬
deutendem Schaffen erhoben, so Gutzkow und Freytag, aber an der Spitze der
litterarischen Bewegung befanden sich nicht mehr diese, sondern die Münchner,
die nicht Publizisten, sondern Künstler sein wollten und etwas wie ein dichte¬
risches Standesbewußtsein schufen, das sich, wie gesagt, auch äußerlich zeigte.
Neue Bahnen schlugen sie, die glücklichen Erben der klassischen Dichtung und
formgewandten Eklektiker, freilich nicht ein, aber sie brachten die poetische Kultur
Deutschlands auf ihre Höhe und -- wurden natürlich konventionell. So kamen
auch die Spezialitäten auf; Scheffel, der mit den Münchnern sehr eng zu¬
sammenhängt, Heyse, Storm, selbst Keller und Raabe sind Spezialisten. Und
endlich Pflegte man in Deutschland nur noch drei Spezialitäten: den archäo¬
logischen Roman, die episch-lyrische Dichtung ü. 1^ Trompeter von Säckingen
und die sogenannte Vutzcnscheibenlyrik. Die Mehrzahl der deutschen Dichter
gab vor, vielleicht in einem gewissen Zusammenhange mit jenem dichterischen
Standesbewußtsein der Münchner, Spielmann und Vagant zu sein. Da kam,
zum Teil durch starke ausländische Einflüsse, die neue Reaktion; das jüngste
Deutschland, die "Moderne" trat auf, und um das Jahr 1890 errang sie ihre
ersten Erfolge.

Heute kann kein Zweifel mehr sein, daß, wie immer, die Jungen auf der
ganzen Linie gesiegt Habens?); ebenso wenig aber, daß die Litteratur der Alten
damit keineswegs tot ist, wie es sich die Jungen einreden. Jedes neuauf¬
tauchende bedeutendere Talent pflegt anzunehmen, daß mit ihm eine neue Zeit
beginne, und auf der andern Seite sieht das über den Höhepunkt seiner Ent¬
wicklung hinaus gelangte in dem Neuen nur das Hereinbrechen einer neuen
Barbarei. Das ist immer so gewesen und wird immer so sein. Da der Kon¬
ventionalismus diesmal sehr groß geworden war, so zeigte sich auch der Sturm
und Drang, der ihn ablöste, ziemlich gewaltthätiger Natur, die Jungen be-


thätigte. Jede neue Periode brachte dann, wie es sich von selbst versteht, die
Reaktion auf die vorhergehende. Die Stürmer und Dränger von 1770 wollten
über Klopstock, vor allein aber über Wieland und Lessing hinaus, in deren
Dichtung antike und französische Elemente immer noch stark vertreten waren,
mit einem Wort, über die Gesellschaftspoesie des achtzehnten Jahrhunderts,
die Romantik über die aus dem Sturm und Drang erwachsene, aber teilweise
den alten Idealen untreu gewordne klassische Dichtung, das junge Deutschland
wieder über die entartete und verweichlichte Romantik, die Münchner und was
mit ihnen zusammenhängt, über die halb und halb publizistischen Tendenzen
der Jungdeutschen. Man hat, wie mir scheinen will, dem Zustande der deutschen
Litteratur um 1860 bisher noch viel zu wenig Anfmerksamkeit gewidmet; er
bezeichnete unbedingt eine Höhe der Entwicklung. Noch lebten die beiden großen
Vertreter des realistischen Charakterdramas der Deutschen, Hebbel und Otto
Ludwig, aber sie standen, wie die Genies fast immer, völlig einsam; es hatten
sich ferner aus jungdeutschen Anfängen manche hervorragende Talente zu be¬
deutendem Schaffen erhoben, so Gutzkow und Freytag, aber an der Spitze der
litterarischen Bewegung befanden sich nicht mehr diese, sondern die Münchner,
die nicht Publizisten, sondern Künstler sein wollten und etwas wie ein dichte¬
risches Standesbewußtsein schufen, das sich, wie gesagt, auch äußerlich zeigte.
Neue Bahnen schlugen sie, die glücklichen Erben der klassischen Dichtung und
formgewandten Eklektiker, freilich nicht ein, aber sie brachten die poetische Kultur
Deutschlands auf ihre Höhe und — wurden natürlich konventionell. So kamen
auch die Spezialitäten auf; Scheffel, der mit den Münchnern sehr eng zu¬
sammenhängt, Heyse, Storm, selbst Keller und Raabe sind Spezialisten. Und
endlich Pflegte man in Deutschland nur noch drei Spezialitäten: den archäo¬
logischen Roman, die episch-lyrische Dichtung ü. 1^ Trompeter von Säckingen
und die sogenannte Vutzcnscheibenlyrik. Die Mehrzahl der deutschen Dichter
gab vor, vielleicht in einem gewissen Zusammenhange mit jenem dichterischen
Standesbewußtsein der Münchner, Spielmann und Vagant zu sein. Da kam,
zum Teil durch starke ausländische Einflüsse, die neue Reaktion; das jüngste
Deutschland, die „Moderne" trat auf, und um das Jahr 1890 errang sie ihre
ersten Erfolge.

Heute kann kein Zweifel mehr sein, daß, wie immer, die Jungen auf der
ganzen Linie gesiegt Habens?); ebenso wenig aber, daß die Litteratur der Alten
damit keineswegs tot ist, wie es sich die Jungen einreden. Jedes neuauf¬
tauchende bedeutendere Talent pflegt anzunehmen, daß mit ihm eine neue Zeit
beginne, und auf der andern Seite sieht das über den Höhepunkt seiner Ent¬
wicklung hinaus gelangte in dem Neuen nur das Hereinbrechen einer neuen
Barbarei. Das ist immer so gewesen und wird immer so sein. Da der Kon¬
ventionalismus diesmal sehr groß geworden war, so zeigte sich auch der Sturm
und Drang, der ihn ablöste, ziemlich gewaltthätiger Natur, die Jungen be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/140>, abgerufen am 25.08.2024.