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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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punkte" in der Prima auch die alte Geschichte berücksichtigen. Denn deren
Beschränkung in der Oberstufe auf ein Jahr ist denn doch bedenklich (mir fehlt
es in dieser Beziehung nach an Erfahrungen). Jedenfalls ist es zu bedauern,
daß in Preußen die Rücksicht ans die Abschlußprüfung dazu geführt hat, der
Mittelstufe drei Jahre für die vaterländische Geschichte zuzuweisen, während
auf der Oberstufe dafür nur zwei zur Berfügung stehen. Gerade im Interesse
des jetzt mit Recht nachdrücklich geforderten innern Verständnisses und der
geistigen Aneignung müßte es umgekehrt sein. In dieser Hinsicht scheint mir
die für Sachsen geltende Lehrordnnng viel zweckmäßiger. Ihr zufolge wird
in der Sexta nicht im Krebsgange begonnen, sondern mit Bildern aus der
alten Geschichte: für die "Thaten" eines Theseus, Leonidas und Secivola hegt
nun einmal der neunjährige Knabe ein weit besseres Verständnis als für die
Wilhelms I., die in den Angen eines Sextaners keine richtigen Heldenthaten
sind, ebenso wie für ihn auch die Bedeutung des neuen deutschen Reichs noch nicht
faßbar ist. Denn giebt man in Sachsen in Quarta Bilder aus der deutschen
Geschichte und in Untertertia einen Überblick über die neue Zeit 1K18 bis
1871. Darauf folgen zwei Jahre für die alte Geschichte, und in einem drei¬
jährigen Kursus (Oberseknnda und Prima) kann dann das innere Verständnis
für Mittelalter und namentlich Neuzeit jedenfalls besser und gründlicher an¬
gebahnt werden als bei uns in zwei Jahren.

In solcher Weise also kann an der Behandlung der alten wie der neuen
Geschichte recht gut festgehalten werden, wenn nur -- was Lorenz nicht be¬
achtet zu haben scheint -- aus dem so ungeheuer ausgedehnten Lehrstoff stets
nach sorgfältig erwognen Gesichtspunkten eine Auswahl getroffen wird. Unter
diesen nimmt die erste Stelle der patriotische und nationale Gesichtspunkt ein,
d. h. nur die Thatsachen sind besonders hervorzuheben, die auf die Entwick¬
lung unsers Volkes von entscheidenden Einfluß gewesen sind. Innerhalb
dieser Grenzen ist alles auszuschließen, was die Auffassungskraft der Schüler
übersteigt und daher auch Herz und Gemüt kalt läßt. Ferner ist stets Rück¬
sicht zu nehmen ans die typischen Elemente. Wo also die besondern Erschei¬
nungen, aus denen sich nach und nach ein allgemeiner Begriff entwickeln läßt,
klar und einfach hervortreten, sind sie genau bis ins einzelne zu erläutern,
damit sich allmählich eine feste Gesamtanschauung ergiebt; dagegen ist alles,
was nur eine Wiederholung derselben typischen Form darstellt, nicht weiter
zu berücksichtigen. Innerhalb des nach solchen Grundsätzen gesichteten Stoffes
werden dann einzelne Abschnitte, vielleicht begleitet von erneuten eingehenden
Studien, recht ausführlich behandelt und möglichst anschaulich vorgeführt,
während andre im wesentlichen der Lektüre des Schülers überlassen werden,
sodaß nur Verständnis und Aneignung überwacht wird, ein Verfahren, wie es
der hochverdiente David Müller im Vorwort zur ersten Auflage seiner Ge¬
schichte des deutschen Volkes (1861) begründet hat. So habe ich z. B. dieses


punkte» in der Prima auch die alte Geschichte berücksichtigen. Denn deren
Beschränkung in der Oberstufe auf ein Jahr ist denn doch bedenklich (mir fehlt
es in dieser Beziehung nach an Erfahrungen). Jedenfalls ist es zu bedauern,
daß in Preußen die Rücksicht ans die Abschlußprüfung dazu geführt hat, der
Mittelstufe drei Jahre für die vaterländische Geschichte zuzuweisen, während
auf der Oberstufe dafür nur zwei zur Berfügung stehen. Gerade im Interesse
des jetzt mit Recht nachdrücklich geforderten innern Verständnisses und der
geistigen Aneignung müßte es umgekehrt sein. In dieser Hinsicht scheint mir
die für Sachsen geltende Lehrordnnng viel zweckmäßiger. Ihr zufolge wird
in der Sexta nicht im Krebsgange begonnen, sondern mit Bildern aus der
alten Geschichte: für die „Thaten" eines Theseus, Leonidas und Secivola hegt
nun einmal der neunjährige Knabe ein weit besseres Verständnis als für die
Wilhelms I., die in den Angen eines Sextaners keine richtigen Heldenthaten
sind, ebenso wie für ihn auch die Bedeutung des neuen deutschen Reichs noch nicht
faßbar ist. Denn giebt man in Sachsen in Quarta Bilder aus der deutschen
Geschichte und in Untertertia einen Überblick über die neue Zeit 1K18 bis
1871. Darauf folgen zwei Jahre für die alte Geschichte, und in einem drei¬
jährigen Kursus (Oberseknnda und Prima) kann dann das innere Verständnis
für Mittelalter und namentlich Neuzeit jedenfalls besser und gründlicher an¬
gebahnt werden als bei uns in zwei Jahren.

In solcher Weise also kann an der Behandlung der alten wie der neuen
Geschichte recht gut festgehalten werden, wenn nur — was Lorenz nicht be¬
achtet zu haben scheint — aus dem so ungeheuer ausgedehnten Lehrstoff stets
nach sorgfältig erwognen Gesichtspunkten eine Auswahl getroffen wird. Unter
diesen nimmt die erste Stelle der patriotische und nationale Gesichtspunkt ein,
d. h. nur die Thatsachen sind besonders hervorzuheben, die auf die Entwick¬
lung unsers Volkes von entscheidenden Einfluß gewesen sind. Innerhalb
dieser Grenzen ist alles auszuschließen, was die Auffassungskraft der Schüler
übersteigt und daher auch Herz und Gemüt kalt läßt. Ferner ist stets Rück¬
sicht zu nehmen ans die typischen Elemente. Wo also die besondern Erschei¬
nungen, aus denen sich nach und nach ein allgemeiner Begriff entwickeln läßt,
klar und einfach hervortreten, sind sie genau bis ins einzelne zu erläutern,
damit sich allmählich eine feste Gesamtanschauung ergiebt; dagegen ist alles,
was nur eine Wiederholung derselben typischen Form darstellt, nicht weiter
zu berücksichtigen. Innerhalb des nach solchen Grundsätzen gesichteten Stoffes
werden dann einzelne Abschnitte, vielleicht begleitet von erneuten eingehenden
Studien, recht ausführlich behandelt und möglichst anschaulich vorgeführt,
während andre im wesentlichen der Lektüre des Schülers überlassen werden,
sodaß nur Verständnis und Aneignung überwacht wird, ein Verfahren, wie es
der hochverdiente David Müller im Vorwort zur ersten Auflage seiner Ge¬
schichte des deutschen Volkes (1861) begründet hat. So habe ich z. B. dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/136>, abgerufen am 22.07.2024.