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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Zum Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten

esse ein der Sache geweckt und zu geschichtlicher Bildung ein sichrer Grund
gelegt werden.

In dieser Beziehung hat also Lorenz offenbar übertrieben. Ans den von
ihm mitgeteilten Fällen von Unkenntnis der Thatsachen allgemeine Schlüsse
zu Gunsten seiner Ansicht, also zu Ungunsten des Geschichtsunterrichts zu ziehen,
mochte aber auch bedenklich sein. Bei juristischen Prüfungen -- so ist Lorenz
berichtet-- hat in langer Zeit kcuun jemals ein Kandidat von der Gründling
des Zollvereins eine Vorstellung gehabt. Was beweist das? Etwa daß die
Betreffenden vor so und so viel Jahren, als wirtschaftliche Fragen von der
Geschichtschreibung noch nicht so berücksichtigt wurden wie jetzt, nur sehr wenig
davon beim Unterricht gehört haben? Vielleicht trifft das zu; vielleicht haben
sie aber seiner Zeit recht gutes und ausreichendes gehört, anch gewisse That¬
sachen "lernen" und über sie berichten müssen, aber -- während ihrer Studenten¬
zeit haben sie sich überhaupt nicht um Geschichte bekümmert, haben nicht ein¬
mal ein einstündiges Publikum gehört (Lorenz selbst hebt diese leider sehr oft
zutreffende Thatsache nachdrücklich hervor), ja kaum die eigentlich juristischen
Vorlesungen besucht, sondern sich kurz vor dem Staatsexamen das nötige ein¬
pauken lassen. Dann trifft aber doch wegen Unwissenheit in der Geschichte
den Geschichtsunterricht keine Schuld.

Weiter führt Lorenz um, es käme "jetzt" vor, daß junge Leute, die zu
den Staatsprüfungen kommen, von den Vorgängen der französischen Revolution
"uicht ein Wort gehört" hätten, da im besten Falle immer uur deutsche Ge¬
schichte gelehrt werde. Wie viel junge Leute hat wohl Lorenz da im Auge?
Daß es "jetzt" in deutschen Landen irgend eine höhere Lehranstalt gebe, an
der unter normalen Verhältnissen von den Vorgängen der französischen Revo¬
lution kein Wort gesprochen würde, halte ich denn doch für unmöglich
(welcher Geschichtslehrer sollte nicht Rankes Äußerung würdigen: "Es giebt
keinen Gegenstand unsers Lebens, der nicht von der französischen Revolution
berührt worden wäre"?). Seit geraumer Zeit schon ist bis 1815 der Stoff
in der nötigen Ausdehnung, und zwar auch in Bezug auf außerdeutsche Ge¬
schichte, behandelt worden; so steht wenigstens in Programmen und Verhand¬
lungen von Versammlungen zu lesen. Natürlich kann sich in einzelnen Fällen
durch .Krankheit eines Lehrers oder Schülers die Sachlage ändern. Hat aber
ein Schüler gerade währenddem gefehlt, dann führt er später, um das
Mitleid des Examinators zu erregen (versuchen das doch selbst Männer in
Amt und Würden gelegentlich ans alle Weise), die Thatsache, daß er kein
Wort da oder davon gehört hat, mit allem Nachdruck, aber ohne jede Erklä¬
rung ins Feld. Vielleicht hat das Lorenz gerade bei solchen Kandidaten erlebt,
die ihre Studienzeit ziemlich verbummelt hatten, und bei denen es sich um die
Prüfung in der sogenannten allgemeinen Bildung handelte, wobei bisweilen
gar seltsame Fragen gestellt werden sollen; mußte doch sogar einmal einem


Zum Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten

esse ein der Sache geweckt und zu geschichtlicher Bildung ein sichrer Grund
gelegt werden.

In dieser Beziehung hat also Lorenz offenbar übertrieben. Ans den von
ihm mitgeteilten Fällen von Unkenntnis der Thatsachen allgemeine Schlüsse
zu Gunsten seiner Ansicht, also zu Ungunsten des Geschichtsunterrichts zu ziehen,
mochte aber auch bedenklich sein. Bei juristischen Prüfungen — so ist Lorenz
berichtet— hat in langer Zeit kcuun jemals ein Kandidat von der Gründling
des Zollvereins eine Vorstellung gehabt. Was beweist das? Etwa daß die
Betreffenden vor so und so viel Jahren, als wirtschaftliche Fragen von der
Geschichtschreibung noch nicht so berücksichtigt wurden wie jetzt, nur sehr wenig
davon beim Unterricht gehört haben? Vielleicht trifft das zu; vielleicht haben
sie aber seiner Zeit recht gutes und ausreichendes gehört, anch gewisse That¬
sachen „lernen" und über sie berichten müssen, aber — während ihrer Studenten¬
zeit haben sie sich überhaupt nicht um Geschichte bekümmert, haben nicht ein¬
mal ein einstündiges Publikum gehört (Lorenz selbst hebt diese leider sehr oft
zutreffende Thatsache nachdrücklich hervor), ja kaum die eigentlich juristischen
Vorlesungen besucht, sondern sich kurz vor dem Staatsexamen das nötige ein¬
pauken lassen. Dann trifft aber doch wegen Unwissenheit in der Geschichte
den Geschichtsunterricht keine Schuld.

Weiter führt Lorenz um, es käme „jetzt" vor, daß junge Leute, die zu
den Staatsprüfungen kommen, von den Vorgängen der französischen Revolution
„uicht ein Wort gehört" hätten, da im besten Falle immer uur deutsche Ge¬
schichte gelehrt werde. Wie viel junge Leute hat wohl Lorenz da im Auge?
Daß es „jetzt" in deutschen Landen irgend eine höhere Lehranstalt gebe, an
der unter normalen Verhältnissen von den Vorgängen der französischen Revo¬
lution kein Wort gesprochen würde, halte ich denn doch für unmöglich
(welcher Geschichtslehrer sollte nicht Rankes Äußerung würdigen: „Es giebt
keinen Gegenstand unsers Lebens, der nicht von der französischen Revolution
berührt worden wäre"?). Seit geraumer Zeit schon ist bis 1815 der Stoff
in der nötigen Ausdehnung, und zwar auch in Bezug auf außerdeutsche Ge¬
schichte, behandelt worden; so steht wenigstens in Programmen und Verhand¬
lungen von Versammlungen zu lesen. Natürlich kann sich in einzelnen Fällen
durch .Krankheit eines Lehrers oder Schülers die Sachlage ändern. Hat aber
ein Schüler gerade währenddem gefehlt, dann führt er später, um das
Mitleid des Examinators zu erregen (versuchen das doch selbst Männer in
Amt und Würden gelegentlich ans alle Weise), die Thatsache, daß er kein
Wort da oder davon gehört hat, mit allem Nachdruck, aber ohne jede Erklä¬
rung ins Feld. Vielleicht hat das Lorenz gerade bei solchen Kandidaten erlebt,
die ihre Studienzeit ziemlich verbummelt hatten, und bei denen es sich um die
Prüfung in der sogenannten allgemeinen Bildung handelte, wobei bisweilen
gar seltsame Fragen gestellt werden sollen; mußte doch sogar einmal einem


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[0133] Zum Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten esse ein der Sache geweckt und zu geschichtlicher Bildung ein sichrer Grund gelegt werden. In dieser Beziehung hat also Lorenz offenbar übertrieben. Ans den von ihm mitgeteilten Fällen von Unkenntnis der Thatsachen allgemeine Schlüsse zu Gunsten seiner Ansicht, also zu Ungunsten des Geschichtsunterrichts zu ziehen, mochte aber auch bedenklich sein. Bei juristischen Prüfungen — so ist Lorenz berichtet— hat in langer Zeit kcuun jemals ein Kandidat von der Gründling des Zollvereins eine Vorstellung gehabt. Was beweist das? Etwa daß die Betreffenden vor so und so viel Jahren, als wirtschaftliche Fragen von der Geschichtschreibung noch nicht so berücksichtigt wurden wie jetzt, nur sehr wenig davon beim Unterricht gehört haben? Vielleicht trifft das zu; vielleicht haben sie aber seiner Zeit recht gutes und ausreichendes gehört, anch gewisse That¬ sachen „lernen" und über sie berichten müssen, aber — während ihrer Studenten¬ zeit haben sie sich überhaupt nicht um Geschichte bekümmert, haben nicht ein¬ mal ein einstündiges Publikum gehört (Lorenz selbst hebt diese leider sehr oft zutreffende Thatsache nachdrücklich hervor), ja kaum die eigentlich juristischen Vorlesungen besucht, sondern sich kurz vor dem Staatsexamen das nötige ein¬ pauken lassen. Dann trifft aber doch wegen Unwissenheit in der Geschichte den Geschichtsunterricht keine Schuld. Weiter führt Lorenz um, es käme „jetzt" vor, daß junge Leute, die zu den Staatsprüfungen kommen, von den Vorgängen der französischen Revolution „uicht ein Wort gehört" hätten, da im besten Falle immer uur deutsche Ge¬ schichte gelehrt werde. Wie viel junge Leute hat wohl Lorenz da im Auge? Daß es „jetzt" in deutschen Landen irgend eine höhere Lehranstalt gebe, an der unter normalen Verhältnissen von den Vorgängen der französischen Revo¬ lution kein Wort gesprochen würde, halte ich denn doch für unmöglich (welcher Geschichtslehrer sollte nicht Rankes Äußerung würdigen: „Es giebt keinen Gegenstand unsers Lebens, der nicht von der französischen Revolution berührt worden wäre"?). Seit geraumer Zeit schon ist bis 1815 der Stoff in der nötigen Ausdehnung, und zwar auch in Bezug auf außerdeutsche Ge¬ schichte, behandelt worden; so steht wenigstens in Programmen und Verhand¬ lungen von Versammlungen zu lesen. Natürlich kann sich in einzelnen Fällen durch .Krankheit eines Lehrers oder Schülers die Sachlage ändern. Hat aber ein Schüler gerade währenddem gefehlt, dann führt er später, um das Mitleid des Examinators zu erregen (versuchen das doch selbst Männer in Amt und Würden gelegentlich ans alle Weise), die Thatsache, daß er kein Wort da oder davon gehört hat, mit allem Nachdruck, aber ohne jede Erklä¬ rung ins Feld. Vielleicht hat das Lorenz gerade bei solchen Kandidaten erlebt, die ihre Studienzeit ziemlich verbummelt hatten, und bei denen es sich um die Prüfung in der sogenannten allgemeinen Bildung handelte, wobei bisweilen gar seltsame Fragen gestellt werden sollen; mußte doch sogar einmal einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/133>, abgerufen am 22.07.2024.