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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Zinn Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten

seiner Ausführungen betreffen aber doch gerade diese Seite. Wenn es daher
der Universitätslehrer als "Nichtschulmann" ausdrücklich ablehnt, sich in weitere
Erörterungen über das richtige Maß der geschichtlichen Kenntnisse einzulassen, so
glaubt gerade hinsichtlich dieser Frage ein Fachlehrer, der sich seit einer Reihe
von Jahren in der Ghmnasialprimn den Geschichtsunterricht zur Quelle vieler
Freude, Belehrung und Anregung hat machen können, einige Bemerkungen
hinzufügen zu können, um so mehr, als eine zweite Historikerversammlung bald
in Leipzig tagen wird.

Lorenz giebt einige Beispiele dafür, wie "beschämend wenig" von den ge¬
schichtlichen Dingen, die auf den höhern Schulen zu behandeln sind, behalten
werde, wie es selbst an "elementaren Kenntnissen" fehle. Er meint, es sei
unmöglich, "in den paar Stunden, die dem Geschichtsunterricht jetzt gewährt
sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Geschichte in dem un¬
geheuern Umfang eines dreitausendjährigcu Zeitraums von Anfang bis zu
Ende eingetrichtert werden soll." Gegen die letzte Äußerung nun ist aufs ent¬
schiedenste Verwahrung einzulegen. Sie beweist schlagend, daß Lorenz von
den bestehenden Forderungen und ihrer Durchführung ganz falsche Vorstellungen
hat. Ein preußischer Abiturient soll "die epochemachenden Begebenheiten der
Weltgeschichte, namentlich der deutschen und preußischen Geschichte, im Zu¬
sammenhang ihrer Ursachen und Wirkungen kennen." Wo bleibt da der "un¬
geheure Umfang," wenn die Lehrer, als vernünftige Menschen, was sie doch
wohl im Durchschnitt sind, den Begriff "epochemachende Begebenheit" ver¬
nünftig fassen? Und wo bleibt das "Eintrichtern," wenn ausdrücklich vor¬
geschrieben wird, daß "mehr auf den Erweis des innern Verständnisses und
der geistigen Aneignung als auf ein gedächtnismäßiges Wissen äußerer Daten
Gewicht zu legen" ist? Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung kann
doch nimmermehr bloß mechanisch eingeprägt werden. Es handelt sich darum,
wie das u. n. auch in dieser Zeitschrift (1892, Heft 52) gefordert wurde, ein
Verständnis der geschichtlichen Entwicklung anzubahnen/") Es gilt also nicht
bloß eine Einwirkung muss Gemüt oder eine Schulung des Gedächtnisses,
sondern in den obersten Klassen ganz vorwiegend eine Verstandesübung. Es
soll nicht etwa nur nach der Kathedermethvde vorgetragen oder gar schulmeister¬
lich pedantisch eingeblänt werden, sondern der Stoff, der die bildende .Kraft
in sich trägt, muß mit den Schülern in heuristischer Weise behandelt werden,
sodaß ihre Selbstthätigkeit möglichst rege bleibt. Nur so kann mirklich Jnter-



Auf das "Anbahnen" ist ein besondrer Nachdruck zu legen. Denn von vollem Ver¬
ständnis kann natürlich keine Rede sein, so wenig wie z. B. bei der Lektüre der deutschen
Klassiker. Oder will man etwa einem Unterprimaner die Großartigkeit des Wallenstein "voll
und ganz" erschließen? Gereifte Männer erst dringen wirklich in das Verständnis dieses einzig
dastehenden Kunstwerks ein. In der Schule gilt es, die Keime zum Verständnis zu legen
und Interesse zu erwecken.
Zinn Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten

seiner Ausführungen betreffen aber doch gerade diese Seite. Wenn es daher
der Universitätslehrer als „Nichtschulmann" ausdrücklich ablehnt, sich in weitere
Erörterungen über das richtige Maß der geschichtlichen Kenntnisse einzulassen, so
glaubt gerade hinsichtlich dieser Frage ein Fachlehrer, der sich seit einer Reihe
von Jahren in der Ghmnasialprimn den Geschichtsunterricht zur Quelle vieler
Freude, Belehrung und Anregung hat machen können, einige Bemerkungen
hinzufügen zu können, um so mehr, als eine zweite Historikerversammlung bald
in Leipzig tagen wird.

Lorenz giebt einige Beispiele dafür, wie „beschämend wenig" von den ge¬
schichtlichen Dingen, die auf den höhern Schulen zu behandeln sind, behalten
werde, wie es selbst an „elementaren Kenntnissen" fehle. Er meint, es sei
unmöglich, „in den paar Stunden, die dem Geschichtsunterricht jetzt gewährt
sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Geschichte in dem un¬
geheuern Umfang eines dreitausendjährigcu Zeitraums von Anfang bis zu
Ende eingetrichtert werden soll." Gegen die letzte Äußerung nun ist aufs ent¬
schiedenste Verwahrung einzulegen. Sie beweist schlagend, daß Lorenz von
den bestehenden Forderungen und ihrer Durchführung ganz falsche Vorstellungen
hat. Ein preußischer Abiturient soll „die epochemachenden Begebenheiten der
Weltgeschichte, namentlich der deutschen und preußischen Geschichte, im Zu¬
sammenhang ihrer Ursachen und Wirkungen kennen." Wo bleibt da der „un¬
geheure Umfang," wenn die Lehrer, als vernünftige Menschen, was sie doch
wohl im Durchschnitt sind, den Begriff „epochemachende Begebenheit" ver¬
nünftig fassen? Und wo bleibt das „Eintrichtern," wenn ausdrücklich vor¬
geschrieben wird, daß „mehr auf den Erweis des innern Verständnisses und
der geistigen Aneignung als auf ein gedächtnismäßiges Wissen äußerer Daten
Gewicht zu legen" ist? Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung kann
doch nimmermehr bloß mechanisch eingeprägt werden. Es handelt sich darum,
wie das u. n. auch in dieser Zeitschrift (1892, Heft 52) gefordert wurde, ein
Verständnis der geschichtlichen Entwicklung anzubahnen/") Es gilt also nicht
bloß eine Einwirkung muss Gemüt oder eine Schulung des Gedächtnisses,
sondern in den obersten Klassen ganz vorwiegend eine Verstandesübung. Es
soll nicht etwa nur nach der Kathedermethvde vorgetragen oder gar schulmeister¬
lich pedantisch eingeblänt werden, sondern der Stoff, der die bildende .Kraft
in sich trägt, muß mit den Schülern in heuristischer Weise behandelt werden,
sodaß ihre Selbstthätigkeit möglichst rege bleibt. Nur so kann mirklich Jnter-



Auf das „Anbahnen" ist ein besondrer Nachdruck zu legen. Denn von vollem Ver¬
ständnis kann natürlich keine Rede sein, so wenig wie z. B. bei der Lektüre der deutschen
Klassiker. Oder will man etwa einem Unterprimaner die Großartigkeit des Wallenstein „voll
und ganz" erschließen? Gereifte Männer erst dringen wirklich in das Verständnis dieses einzig
dastehenden Kunstwerks ein. In der Schule gilt es, die Keime zum Verständnis zu legen
und Interesse zu erwecken.
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[0132] Zinn Geschichtsunterricht an den höhern Lehranstalten seiner Ausführungen betreffen aber doch gerade diese Seite. Wenn es daher der Universitätslehrer als „Nichtschulmann" ausdrücklich ablehnt, sich in weitere Erörterungen über das richtige Maß der geschichtlichen Kenntnisse einzulassen, so glaubt gerade hinsichtlich dieser Frage ein Fachlehrer, der sich seit einer Reihe von Jahren in der Ghmnasialprimn den Geschichtsunterricht zur Quelle vieler Freude, Belehrung und Anregung hat machen können, einige Bemerkungen hinzufügen zu können, um so mehr, als eine zweite Historikerversammlung bald in Leipzig tagen wird. Lorenz giebt einige Beispiele dafür, wie „beschämend wenig" von den ge¬ schichtlichen Dingen, die auf den höhern Schulen zu behandeln sind, behalten werde, wie es selbst an „elementaren Kenntnissen" fehle. Er meint, es sei unmöglich, „in den paar Stunden, die dem Geschichtsunterricht jetzt gewährt sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Geschichte in dem un¬ geheuern Umfang eines dreitausendjährigcu Zeitraums von Anfang bis zu Ende eingetrichtert werden soll." Gegen die letzte Äußerung nun ist aufs ent¬ schiedenste Verwahrung einzulegen. Sie beweist schlagend, daß Lorenz von den bestehenden Forderungen und ihrer Durchführung ganz falsche Vorstellungen hat. Ein preußischer Abiturient soll „die epochemachenden Begebenheiten der Weltgeschichte, namentlich der deutschen und preußischen Geschichte, im Zu¬ sammenhang ihrer Ursachen und Wirkungen kennen." Wo bleibt da der „un¬ geheure Umfang," wenn die Lehrer, als vernünftige Menschen, was sie doch wohl im Durchschnitt sind, den Begriff „epochemachende Begebenheit" ver¬ nünftig fassen? Und wo bleibt das „Eintrichtern," wenn ausdrücklich vor¬ geschrieben wird, daß „mehr auf den Erweis des innern Verständnisses und der geistigen Aneignung als auf ein gedächtnismäßiges Wissen äußerer Daten Gewicht zu legen" ist? Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung kann doch nimmermehr bloß mechanisch eingeprägt werden. Es handelt sich darum, wie das u. n. auch in dieser Zeitschrift (1892, Heft 52) gefordert wurde, ein Verständnis der geschichtlichen Entwicklung anzubahnen/") Es gilt also nicht bloß eine Einwirkung muss Gemüt oder eine Schulung des Gedächtnisses, sondern in den obersten Klassen ganz vorwiegend eine Verstandesübung. Es soll nicht etwa nur nach der Kathedermethvde vorgetragen oder gar schulmeister¬ lich pedantisch eingeblänt werden, sondern der Stoff, der die bildende .Kraft in sich trägt, muß mit den Schülern in heuristischer Weise behandelt werden, sodaß ihre Selbstthätigkeit möglichst rege bleibt. Nur so kann mirklich Jnter- Auf das „Anbahnen" ist ein besondrer Nachdruck zu legen. Denn von vollem Ver¬ ständnis kann natürlich keine Rede sein, so wenig wie z. B. bei der Lektüre der deutschen Klassiker. Oder will man etwa einem Unterprimaner die Großartigkeit des Wallenstein „voll und ganz" erschließen? Gereifte Männer erst dringen wirklich in das Verständnis dieses einzig dastehenden Kunstwerks ein. In der Schule gilt es, die Keime zum Verständnis zu legen und Interesse zu erwecken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/132>, abgerufen am 24.07.2024.