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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

haben zunächst den großen Vorteil, daß sich ihnen keine nationalen Kräfte
entgegenstellen: die Bevölkerung Indiens bildet eben keine Nation. Im besten
Falle stehen die einzelnen Bestandteile der indischen Bevölkerung gleichgiltig
neben einander, jeder unbekümmert um des andern Schicksal; meistens aber
werden sie durch alte Feindschaften und Gegensätze schroff einander gegenüber¬
gestellt. Dem innern Zwist sällt die gemeinsame Unabhängigkeit zum Opfer.
Der eine Stamm hilft zur Unterdrückung des andern; die Bekenner der einen
Religion halten die der andern mit nieder, und so werden sie alle zu Werk¬
zeugen in der Hand des Fremdherrn. Wie Cäsar die Häduer gegen die
Averner, wie Napoleon Baiern gegen Preußen, so spielt der Brite hier Sikhs
gegen Pathans, dort Nadschputen gegen Marathen und überall Hindus gegen
Muhammedaner aus. Vor allem ist die grundsätzliche Gegnerschaft der beiden
letztgenannten die sicherste Stütze der englischen Herrschaft. Durch innere
Gegensätze, äußere Unterschiede und die Kämpfe eines Jahrtausends mit ein¬
ander verfeindet, halten sich Brnhmcmismus und Islam ungefähr die Wage,
der eine durch sein Alter und seine Zahl, der andre durch seine Energie und
Organisation. Und wie diese beiden größten, so heben sich auch alle kleinern
Kräfte gegenseitig auf, sodaß das Maß des Widerstandes gegen den Fremd¬
herrn gleich Null ist. Das Gleichgewicht ist thatsächlich so vollkommen, daß
sich das anglo-indische Reich sozusagen im Ruhezustände befindet. Kein
Volksaufstand bedroht die britische Herrschaft auf der Halbinsel. Keine größere
Erhebung der Unterthanen stört die Ruhe der Machthaber.

Es wird vielleicht eingewendet werden, daß doch schon einmal ein größerer
Aufstand dagewesen sei, daß er das anglo-indische Reich bis auf den Grund
erschüttert habe und von den Engländern nur mit großer Anstrengung nieder¬
geschlagen worden sei, und daß die Wiederkehr solcher Ereignisse nicht un¬
möglich sei. Aber man verkennt das Wesen der Empörung von 1857 voll¬
ständig, wenn man darin eine Erhebung des Volkes gegen den Fremdherrn,
einen nationalen Aufstand der Inder gegen die Briten sieht. Sie war viel¬
mehr weiter nichts als eine Meuterei von Söldnerscharen, weshalb sie von
den Engländern auch sehr richtig tus undir^ genannt wird. Miettruppen
haben immer Neigung gezeigt, ihre Waffen im Übermut gelegentlich gegen
die eignen Herren zu kehren. So machten es eines die Sepohs der benga¬
lischen Armee in dem übertriebnen Gefühl ihrer Macht. Die geringe Anzahl
der in Indien stehenden europäischen Truppen, die ans Anlaß des Krimkrieges
noch verringert worden war, und im Vergleich damit ihre eigne große Zahl
hatte den Sepohs die Überzeugung gegeben, daß sich die Negierung nur auf
ihre Schwerter stütze. Sie fingen an, sich als die eigentlichen Herren des


einem richtigen Neapolitaner, völlig unverständlich sein mag, ein seltsames, unheimliches Tier,
das man nur scheu von der Seite ansieht.
Indische Zustände

haben zunächst den großen Vorteil, daß sich ihnen keine nationalen Kräfte
entgegenstellen: die Bevölkerung Indiens bildet eben keine Nation. Im besten
Falle stehen die einzelnen Bestandteile der indischen Bevölkerung gleichgiltig
neben einander, jeder unbekümmert um des andern Schicksal; meistens aber
werden sie durch alte Feindschaften und Gegensätze schroff einander gegenüber¬
gestellt. Dem innern Zwist sällt die gemeinsame Unabhängigkeit zum Opfer.
Der eine Stamm hilft zur Unterdrückung des andern; die Bekenner der einen
Religion halten die der andern mit nieder, und so werden sie alle zu Werk¬
zeugen in der Hand des Fremdherrn. Wie Cäsar die Häduer gegen die
Averner, wie Napoleon Baiern gegen Preußen, so spielt der Brite hier Sikhs
gegen Pathans, dort Nadschputen gegen Marathen und überall Hindus gegen
Muhammedaner aus. Vor allem ist die grundsätzliche Gegnerschaft der beiden
letztgenannten die sicherste Stütze der englischen Herrschaft. Durch innere
Gegensätze, äußere Unterschiede und die Kämpfe eines Jahrtausends mit ein¬
ander verfeindet, halten sich Brnhmcmismus und Islam ungefähr die Wage,
der eine durch sein Alter und seine Zahl, der andre durch seine Energie und
Organisation. Und wie diese beiden größten, so heben sich auch alle kleinern
Kräfte gegenseitig auf, sodaß das Maß des Widerstandes gegen den Fremd¬
herrn gleich Null ist. Das Gleichgewicht ist thatsächlich so vollkommen, daß
sich das anglo-indische Reich sozusagen im Ruhezustände befindet. Kein
Volksaufstand bedroht die britische Herrschaft auf der Halbinsel. Keine größere
Erhebung der Unterthanen stört die Ruhe der Machthaber.

Es wird vielleicht eingewendet werden, daß doch schon einmal ein größerer
Aufstand dagewesen sei, daß er das anglo-indische Reich bis auf den Grund
erschüttert habe und von den Engländern nur mit großer Anstrengung nieder¬
geschlagen worden sei, und daß die Wiederkehr solcher Ereignisse nicht un¬
möglich sei. Aber man verkennt das Wesen der Empörung von 1857 voll¬
ständig, wenn man darin eine Erhebung des Volkes gegen den Fremdherrn,
einen nationalen Aufstand der Inder gegen die Briten sieht. Sie war viel¬
mehr weiter nichts als eine Meuterei von Söldnerscharen, weshalb sie von
den Engländern auch sehr richtig tus undir^ genannt wird. Miettruppen
haben immer Neigung gezeigt, ihre Waffen im Übermut gelegentlich gegen
die eignen Herren zu kehren. So machten es eines die Sepohs der benga¬
lischen Armee in dem übertriebnen Gefühl ihrer Macht. Die geringe Anzahl
der in Indien stehenden europäischen Truppen, die ans Anlaß des Krimkrieges
noch verringert worden war, und im Vergleich damit ihre eigne große Zahl
hatte den Sepohs die Überzeugung gegeben, daß sich die Negierung nur auf
ihre Schwerter stütze. Sie fingen an, sich als die eigentlichen Herren des


einem richtigen Neapolitaner, völlig unverständlich sein mag, ein seltsames, unheimliches Tier,
das man nur scheu von der Seite ansieht.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/122>, abgerufen am 24.07.2024.