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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gin italienischer Katholik über die Freiheit

seines Schutzes erfreuen, kein Unrecht geübt werde." Und so kommt es denn,
fügen wir hinzu, daß die modernen Verehrer des Staates und entschiednen
Gegner der Sozialdemokratie dieser den Rechtsboden bereiten, denn weiter wollen
ja die Sozialsten und Kommunisten nichts, als daß sich der Staat der Güter¬
verteilung mehr als bisher annehme, daß jeder der sozialen Gerechtigkeit in dem¬
selben Maße teilhaftig werde, wie die Staatsbeamten, daß jeder Bürger im vollen
Sinne ^des Wortes ein Glied, das heißt bei Lichte besehn ein Beamter des
Staates werde kurz: daß man endlich einmal mit der folgerichtigen Durch¬
führung der von Fichte und Hegel verkündigten Staatsidee Ernst mache.

Dies nebenbei. Wir stimmen also mit Cenni in der Auffassung des Luxus
überein und erkennen mit ihm den Anspruch auf standesgemäßes Einkommen
an; ja wir teilen sogar mit ihm die Überzeugung, daß der christliche Glaube
die Pflicht auferlege, sich des Überflüssigem zu Gunsten der notleidenden Brüder
zu entäußern. Aber wir teilen nicht sein Vertrauen auf die großartigen Wir¬
kungen des Glaubens an diese Pflicht. Abgesehen von dem schon erwähnten
Umstände, daß die menschliche Selbstsucht der allgemeinen Anerkennung solcher
christlichen Grundsätze und selbst schon ihrer Verkündigung zu allen Zeiten un¬
überwindliche Hindernisse in den Weg legt, ist es auch gar nicht richtig, daß
es bloß sündhafte Selbstsucht sei, was die Verwirklichung der Gerechtigkeit
hindere. Daß Liebe nach Kräften die Ungerechtigkeiten gut zu machen habe,
die Selbstsucht begeht, versteht sich von selbst und gilt sür alle Orte, Zeiten
und Verhältnisse. Aber Massenelend, das vom Standpunkte der Gerechtigkeit
aus gesehen stets als Ungerechtigkeit erscheint, entsteht mich häufig ans Ur¬
sachen, die vom menschlichen Willen unabhängig sind. Gerade bei den heutigen
sozialen Nöten handelt es sich um zwei solche Ursachen: die Umwälzung aller Pro¬
duktionsverhältnisse durch die Dampfmaschine und örtliche Übervölkerung. Da¬
gegen hilft weder die christliche Nächstenliebe, noch dürfen die Staatsmänner
solchen Verlegenheiten gegenüber die Hände in den Schoß legen und auf "Er¬
eignisse" warten, sondern sie müssen auf Abhilfe sinnen.

Übrigens ist es einem Neapolitaner zu verzeihen, wenn er die moralischen
Ursachen des Volkselends deutlicher sieht als die wirtschaftlichen, denn Italien
ist bisher von jener Umwälzung der Produktion nur wenig, Süditalien gar
nicht berührt worden; sein Volkselend entspringt, abgesehen von der Über¬
völkerung, wirklich vorzugsweise moralischen Ursachen oder richtiger gesprochen
der Jmmoralität und Unbedachtsamkeit seiner Lenker. Und wie denn die christ¬
liche Gesinnung, wo sie weitere Kreise umfaßt, gewiß eine soziale Macht ist,
so würde sie gerade in Italien ohne Zweifel die wohlthätigsten Wirkungen
hervorbringen. Darum wünschen wir von Herzen, daß das edle Feuer dieses
reinen und liebenswürdigen Philosvphengemüts") zünde. Die Aussicht darauf



*) Dieses Gemüt spricht schon aus der Widmung des Buches an seine verstorbne Frau.
Gin italienischer Katholik über die Freiheit

seines Schutzes erfreuen, kein Unrecht geübt werde." Und so kommt es denn,
fügen wir hinzu, daß die modernen Verehrer des Staates und entschiednen
Gegner der Sozialdemokratie dieser den Rechtsboden bereiten, denn weiter wollen
ja die Sozialsten und Kommunisten nichts, als daß sich der Staat der Güter¬
verteilung mehr als bisher annehme, daß jeder der sozialen Gerechtigkeit in dem¬
selben Maße teilhaftig werde, wie die Staatsbeamten, daß jeder Bürger im vollen
Sinne ^des Wortes ein Glied, das heißt bei Lichte besehn ein Beamter des
Staates werde kurz: daß man endlich einmal mit der folgerichtigen Durch¬
führung der von Fichte und Hegel verkündigten Staatsidee Ernst mache.

Dies nebenbei. Wir stimmen also mit Cenni in der Auffassung des Luxus
überein und erkennen mit ihm den Anspruch auf standesgemäßes Einkommen
an; ja wir teilen sogar mit ihm die Überzeugung, daß der christliche Glaube
die Pflicht auferlege, sich des Überflüssigem zu Gunsten der notleidenden Brüder
zu entäußern. Aber wir teilen nicht sein Vertrauen auf die großartigen Wir¬
kungen des Glaubens an diese Pflicht. Abgesehen von dem schon erwähnten
Umstände, daß die menschliche Selbstsucht der allgemeinen Anerkennung solcher
christlichen Grundsätze und selbst schon ihrer Verkündigung zu allen Zeiten un¬
überwindliche Hindernisse in den Weg legt, ist es auch gar nicht richtig, daß
es bloß sündhafte Selbstsucht sei, was die Verwirklichung der Gerechtigkeit
hindere. Daß Liebe nach Kräften die Ungerechtigkeiten gut zu machen habe,
die Selbstsucht begeht, versteht sich von selbst und gilt sür alle Orte, Zeiten
und Verhältnisse. Aber Massenelend, das vom Standpunkte der Gerechtigkeit
aus gesehen stets als Ungerechtigkeit erscheint, entsteht mich häufig ans Ur¬
sachen, die vom menschlichen Willen unabhängig sind. Gerade bei den heutigen
sozialen Nöten handelt es sich um zwei solche Ursachen: die Umwälzung aller Pro¬
duktionsverhältnisse durch die Dampfmaschine und örtliche Übervölkerung. Da¬
gegen hilft weder die christliche Nächstenliebe, noch dürfen die Staatsmänner
solchen Verlegenheiten gegenüber die Hände in den Schoß legen und auf „Er¬
eignisse" warten, sondern sie müssen auf Abhilfe sinnen.

Übrigens ist es einem Neapolitaner zu verzeihen, wenn er die moralischen
Ursachen des Volkselends deutlicher sieht als die wirtschaftlichen, denn Italien
ist bisher von jener Umwälzung der Produktion nur wenig, Süditalien gar
nicht berührt worden; sein Volkselend entspringt, abgesehen von der Über¬
völkerung, wirklich vorzugsweise moralischen Ursachen oder richtiger gesprochen
der Jmmoralität und Unbedachtsamkeit seiner Lenker. Und wie denn die christ¬
liche Gesinnung, wo sie weitere Kreise umfaßt, gewiß eine soziale Macht ist,
so würde sie gerade in Italien ohne Zweifel die wohlthätigsten Wirkungen
hervorbringen. Darum wünschen wir von Herzen, daß das edle Feuer dieses
reinen und liebenswürdigen Philosvphengemüts") zünde. Die Aussicht darauf



*) Dieses Gemüt spricht schon aus der Widmung des Buches an seine verstorbne Frau.
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[0120] Gin italienischer Katholik über die Freiheit seines Schutzes erfreuen, kein Unrecht geübt werde." Und so kommt es denn, fügen wir hinzu, daß die modernen Verehrer des Staates und entschiednen Gegner der Sozialdemokratie dieser den Rechtsboden bereiten, denn weiter wollen ja die Sozialsten und Kommunisten nichts, als daß sich der Staat der Güter¬ verteilung mehr als bisher annehme, daß jeder der sozialen Gerechtigkeit in dem¬ selben Maße teilhaftig werde, wie die Staatsbeamten, daß jeder Bürger im vollen Sinne ^des Wortes ein Glied, das heißt bei Lichte besehn ein Beamter des Staates werde kurz: daß man endlich einmal mit der folgerichtigen Durch¬ führung der von Fichte und Hegel verkündigten Staatsidee Ernst mache. Dies nebenbei. Wir stimmen also mit Cenni in der Auffassung des Luxus überein und erkennen mit ihm den Anspruch auf standesgemäßes Einkommen an; ja wir teilen sogar mit ihm die Überzeugung, daß der christliche Glaube die Pflicht auferlege, sich des Überflüssigem zu Gunsten der notleidenden Brüder zu entäußern. Aber wir teilen nicht sein Vertrauen auf die großartigen Wir¬ kungen des Glaubens an diese Pflicht. Abgesehen von dem schon erwähnten Umstände, daß die menschliche Selbstsucht der allgemeinen Anerkennung solcher christlichen Grundsätze und selbst schon ihrer Verkündigung zu allen Zeiten un¬ überwindliche Hindernisse in den Weg legt, ist es auch gar nicht richtig, daß es bloß sündhafte Selbstsucht sei, was die Verwirklichung der Gerechtigkeit hindere. Daß Liebe nach Kräften die Ungerechtigkeiten gut zu machen habe, die Selbstsucht begeht, versteht sich von selbst und gilt sür alle Orte, Zeiten und Verhältnisse. Aber Massenelend, das vom Standpunkte der Gerechtigkeit aus gesehen stets als Ungerechtigkeit erscheint, entsteht mich häufig ans Ur¬ sachen, die vom menschlichen Willen unabhängig sind. Gerade bei den heutigen sozialen Nöten handelt es sich um zwei solche Ursachen: die Umwälzung aller Pro¬ duktionsverhältnisse durch die Dampfmaschine und örtliche Übervölkerung. Da¬ gegen hilft weder die christliche Nächstenliebe, noch dürfen die Staatsmänner solchen Verlegenheiten gegenüber die Hände in den Schoß legen und auf „Er¬ eignisse" warten, sondern sie müssen auf Abhilfe sinnen. Übrigens ist es einem Neapolitaner zu verzeihen, wenn er die moralischen Ursachen des Volkselends deutlicher sieht als die wirtschaftlichen, denn Italien ist bisher von jener Umwälzung der Produktion nur wenig, Süditalien gar nicht berührt worden; sein Volkselend entspringt, abgesehen von der Über¬ völkerung, wirklich vorzugsweise moralischen Ursachen oder richtiger gesprochen der Jmmoralität und Unbedachtsamkeit seiner Lenker. Und wie denn die christ¬ liche Gesinnung, wo sie weitere Kreise umfaßt, gewiß eine soziale Macht ist, so würde sie gerade in Italien ohne Zweifel die wohlthätigsten Wirkungen hervorbringen. Darum wünschen wir von Herzen, daß das edle Feuer dieses reinen und liebenswürdigen Philosvphengemüts") zünde. Die Aussicht darauf *) Dieses Gemüt spricht schon aus der Widmung des Buches an seine verstorbne Frau.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/120>, abgerufen am 22.07.2024.