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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gin italienischer Katholik über die Freiheit

seinen Bedürfnissen, andre den Grundsatz, jeder solle nach seinen Leistungen
bezahlt werden, so fällt das offenbar mit der von Cenni aufgestellten Regel
zusammen.

Dieser Regel nach also, sagt Cenni weiter, hat der Lohnarbeiter nichts
zu fordern, als was zur Entfaltung seiner geringen Anlagen notwendig ist, so¬
dann die Mittel für einige Genüsse zur leiblichen und geistigen Erholung und
darüber noch soviel, daß er einen Sparpfennig zurücklegen kann. Cenni erkennt
an, daß sehr vielen Lohnarbeitern dieses Nötige nicht beschieden sei, daß
namentlich die Frauenarbeit erbärmlich bezahlt werde und oft nicht einmal zur
Fristung des Lebens hinreiche; das positive Recht müsse demnach in diesem
Stück dem Naturrecht besser angepaßt, der Lohn müsse erhöht, die Arbeitszeit
verkürzt werden, damit die Freiheit, die das Gesetz auch den Arbeitern zusichere,
nicht eine Lüge bleibe, wie bisher, sondern Wahrheit und Wirklichkeit werde.
Wie das aber zu erreichen sei, das gesteht er mit einer Offenherzigkeit, die ihm
Ehre macht, nicht zu wissen. Wahrscheinlich, meint er, würden die Ereignisse
die Sache besorgen, unterstützt von Juristen und Publizisten, die diesen Namen
verdienten, was nur dann der Fall sei, wenn sie von der allein wahren, das
heißt von der katholischen Philosophie erleuchtet seien. Sollten etwa die
Nationalökonomen behaupten, die Erfüllung jener Forderung sei nach den Ge¬
setzen ihrer Wissenschaft unmöglich, so würde damit weiter nichts bewiesen sein,
als daß diese Wissenschaft der Vernunft widerspreche und falsch sei. Viel könne
ohnehin an dieser Wissenschaft nicht sein, das leuchte schon bei einem Blick
auf die Streitigkeiten ihrer Vertreter ein, die sich nicht einmal über den Grund¬
begriff, den des Wertes, zu einigen vermöchten. Wenn irgend eine Wissen¬
schaft etwas zu leisten vermöge in dieser Sache, so sei das einzig und allein
die wahre Philosophie, die Philosophie des Christentums, und daher habe
Reichensperger Recht gehabt, als er bei Beratung des Sozialistengesetzes im
Jahre 1373 ausgerufen habe: "Öffne" Sie ihr ^ der Lehre des Christentums'!
alle Pforten, von der Universität bis zur untersten Volksschule, und der So-
zialismus wird verschwinden!"

Darauf ist zweierlei zu erwidern. Einmal, daß in Deutschland der christ¬
lichen Lehre alle Pforten stets offen gestanden haben, daß es ihr nicht allein
unverwehrt bleibt, überall einzudringen, sondern daß sie in den Volksschulen,
nach wie vor Falk, in wöchentlich sechs Stunden eingepaukt wird. Daß an
der Universität auch Ansichten gelehrt werden, die dem Christenglauben wider¬
sprechen, ist richtig, aber wie will man das verhindern? Ganz folgerichtig
hat sich die ungläubige Wissenschaft aus der gläubigen entwickelt, und wie
Voltaire Jesuitenschüler gewesen ist, so hat sein königlicher Freund in der
Jugend unter der Aufsicht eines strenggläubigen Vaters einen rechtgläubig
protestantische" Religionsunterricht genossen. Andrerseits: vom vierten bis tief
inS achtzehnte Jahrhundert hinein hat das Christentum oder haben vielmehr


Gin italienischer Katholik über die Freiheit

seinen Bedürfnissen, andre den Grundsatz, jeder solle nach seinen Leistungen
bezahlt werden, so fällt das offenbar mit der von Cenni aufgestellten Regel
zusammen.

Dieser Regel nach also, sagt Cenni weiter, hat der Lohnarbeiter nichts
zu fordern, als was zur Entfaltung seiner geringen Anlagen notwendig ist, so¬
dann die Mittel für einige Genüsse zur leiblichen und geistigen Erholung und
darüber noch soviel, daß er einen Sparpfennig zurücklegen kann. Cenni erkennt
an, daß sehr vielen Lohnarbeitern dieses Nötige nicht beschieden sei, daß
namentlich die Frauenarbeit erbärmlich bezahlt werde und oft nicht einmal zur
Fristung des Lebens hinreiche; das positive Recht müsse demnach in diesem
Stück dem Naturrecht besser angepaßt, der Lohn müsse erhöht, die Arbeitszeit
verkürzt werden, damit die Freiheit, die das Gesetz auch den Arbeitern zusichere,
nicht eine Lüge bleibe, wie bisher, sondern Wahrheit und Wirklichkeit werde.
Wie das aber zu erreichen sei, das gesteht er mit einer Offenherzigkeit, die ihm
Ehre macht, nicht zu wissen. Wahrscheinlich, meint er, würden die Ereignisse
die Sache besorgen, unterstützt von Juristen und Publizisten, die diesen Namen
verdienten, was nur dann der Fall sei, wenn sie von der allein wahren, das
heißt von der katholischen Philosophie erleuchtet seien. Sollten etwa die
Nationalökonomen behaupten, die Erfüllung jener Forderung sei nach den Ge¬
setzen ihrer Wissenschaft unmöglich, so würde damit weiter nichts bewiesen sein,
als daß diese Wissenschaft der Vernunft widerspreche und falsch sei. Viel könne
ohnehin an dieser Wissenschaft nicht sein, das leuchte schon bei einem Blick
auf die Streitigkeiten ihrer Vertreter ein, die sich nicht einmal über den Grund¬
begriff, den des Wertes, zu einigen vermöchten. Wenn irgend eine Wissen¬
schaft etwas zu leisten vermöge in dieser Sache, so sei das einzig und allein
die wahre Philosophie, die Philosophie des Christentums, und daher habe
Reichensperger Recht gehabt, als er bei Beratung des Sozialistengesetzes im
Jahre 1373 ausgerufen habe: „Öffne» Sie ihr ^ der Lehre des Christentums'!
alle Pforten, von der Universität bis zur untersten Volksschule, und der So-
zialismus wird verschwinden!"

Darauf ist zweierlei zu erwidern. Einmal, daß in Deutschland der christ¬
lichen Lehre alle Pforten stets offen gestanden haben, daß es ihr nicht allein
unverwehrt bleibt, überall einzudringen, sondern daß sie in den Volksschulen,
nach wie vor Falk, in wöchentlich sechs Stunden eingepaukt wird. Daß an
der Universität auch Ansichten gelehrt werden, die dem Christenglauben wider¬
sprechen, ist richtig, aber wie will man das verhindern? Ganz folgerichtig
hat sich die ungläubige Wissenschaft aus der gläubigen entwickelt, und wie
Voltaire Jesuitenschüler gewesen ist, so hat sein königlicher Freund in der
Jugend unter der Aufsicht eines strenggläubigen Vaters einen rechtgläubig
protestantische« Religionsunterricht genossen. Andrerseits: vom vierten bis tief
inS achtzehnte Jahrhundert hinein hat das Christentum oder haben vielmehr


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[0116] Gin italienischer Katholik über die Freiheit seinen Bedürfnissen, andre den Grundsatz, jeder solle nach seinen Leistungen bezahlt werden, so fällt das offenbar mit der von Cenni aufgestellten Regel zusammen. Dieser Regel nach also, sagt Cenni weiter, hat der Lohnarbeiter nichts zu fordern, als was zur Entfaltung seiner geringen Anlagen notwendig ist, so¬ dann die Mittel für einige Genüsse zur leiblichen und geistigen Erholung und darüber noch soviel, daß er einen Sparpfennig zurücklegen kann. Cenni erkennt an, daß sehr vielen Lohnarbeitern dieses Nötige nicht beschieden sei, daß namentlich die Frauenarbeit erbärmlich bezahlt werde und oft nicht einmal zur Fristung des Lebens hinreiche; das positive Recht müsse demnach in diesem Stück dem Naturrecht besser angepaßt, der Lohn müsse erhöht, die Arbeitszeit verkürzt werden, damit die Freiheit, die das Gesetz auch den Arbeitern zusichere, nicht eine Lüge bleibe, wie bisher, sondern Wahrheit und Wirklichkeit werde. Wie das aber zu erreichen sei, das gesteht er mit einer Offenherzigkeit, die ihm Ehre macht, nicht zu wissen. Wahrscheinlich, meint er, würden die Ereignisse die Sache besorgen, unterstützt von Juristen und Publizisten, die diesen Namen verdienten, was nur dann der Fall sei, wenn sie von der allein wahren, das heißt von der katholischen Philosophie erleuchtet seien. Sollten etwa die Nationalökonomen behaupten, die Erfüllung jener Forderung sei nach den Ge¬ setzen ihrer Wissenschaft unmöglich, so würde damit weiter nichts bewiesen sein, als daß diese Wissenschaft der Vernunft widerspreche und falsch sei. Viel könne ohnehin an dieser Wissenschaft nicht sein, das leuchte schon bei einem Blick auf die Streitigkeiten ihrer Vertreter ein, die sich nicht einmal über den Grund¬ begriff, den des Wertes, zu einigen vermöchten. Wenn irgend eine Wissen¬ schaft etwas zu leisten vermöge in dieser Sache, so sei das einzig und allein die wahre Philosophie, die Philosophie des Christentums, und daher habe Reichensperger Recht gehabt, als er bei Beratung des Sozialistengesetzes im Jahre 1373 ausgerufen habe: „Öffne» Sie ihr ^ der Lehre des Christentums'! alle Pforten, von der Universität bis zur untersten Volksschule, und der So- zialismus wird verschwinden!" Darauf ist zweierlei zu erwidern. Einmal, daß in Deutschland der christ¬ lichen Lehre alle Pforten stets offen gestanden haben, daß es ihr nicht allein unverwehrt bleibt, überall einzudringen, sondern daß sie in den Volksschulen, nach wie vor Falk, in wöchentlich sechs Stunden eingepaukt wird. Daß an der Universität auch Ansichten gelehrt werden, die dem Christenglauben wider¬ sprechen, ist richtig, aber wie will man das verhindern? Ganz folgerichtig hat sich die ungläubige Wissenschaft aus der gläubigen entwickelt, und wie Voltaire Jesuitenschüler gewesen ist, so hat sein königlicher Freund in der Jugend unter der Aufsicht eines strenggläubigen Vaters einen rechtgläubig protestantische« Religionsunterricht genossen. Andrerseits: vom vierten bis tief inS achtzehnte Jahrhundert hinein hat das Christentum oder haben vielmehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/116>, abgerufen am 25.08.2024.