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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Ein italienischer Katholik über die Freiheit

Menschheit von der Sklaverei durch die Hörigkeit hindurch zur persönlichen
Freiheit, aber wie sich im Nahmen dieser drei juristischen Begriffe die Lage
der Menschen zu verschiednen Zeiten und an verschiednen Orten thatsächlich
gestaltet hat, darüber hören nur nichts.

Wie unfruchtbar diese von der Erfahrung absehende BeHandlungsweise
für das Leben ist, zeigt sich besonders in dem Kapitel: "Von der Idee der
Freiheit in Beziehung ans die soziale Frage," dessen Inhalt wir abgekürzt
wiedergeben wollen. Zuvor werfen wir aber einen Blick auf das vorhergehende
Kapitel, worin der Verfasser mit einem Radikalismus, der einerseits an Rousseau,
andrerseits an die Sozmldemokraten erinnert, alle gesellschaftlichen Vorrechte
bekämpft. Der christliche Glaube, daß alle Menschen Kinder Gottes sind, dessen
Wesen die Liebe ist -- führt Cenni aus --, schneidet alle Ausprüche auf Vor¬
rechte der einen über die andern an der Wurzel ab; er duldet keinerlei Privi¬
legium, mag es aus dem Genie, oder ans der Tugend, oder ans dem Amte,
oder aus der Geburt abgeleitet werden. Mit Feuer bekämpft er den Legi-
tismus De Maistres, jede" Absolutismus und das Adelsvvrnrteil, "diesen
letzten Kehricht des Mittelalters." Er beruft sich in diesem Stück vorzüglich
auf Dante, den er überhaupt als Meister verehrt. Nach der Entwicklungs¬
theorie allerdings, deren wirkliche Urheber, wie er richtig zeigt, nicht sowohl
Darwin und Herbert Spencer als vielmehr Spinoza und Hobbes sind, gilt
das Vorrecht des Stärkern, nimmermehr aber nach dem Glauben des Christen-
tums. Aus höherer geistiger Begabung z. B. entspringt nicht das Recht, die
minder begabten zu beherrschen, sondern bloß die Pflicht, sie zu belehren und
zu bilden. Im Christentum, das die Demut für die Wurzel aller Tugenden
und den Hochmut für die Wurzel aller Sünden erklärt, ist jede Aristokratie
unmöglich, denn Aristokratie ist nichts andres, als die Verkörperung des grund¬
sätzlichen Hochmuts. Jede der vier Hauptarten der Aristokratie charakterisirt
Cenni mit einem Beiwort; die Plntvkratie ist die roheste, die Beamtenherr¬
schaft die am meisten tyrannische, die Bildnngsaristokratie mephistophelisch,
der Geburtsadel nichtig (vuow, hohl). Edel -- sagt er -- nennen wir ein
Wesen, das gewisse nur ihm eigne, andern Wesen unerreichbare Borzüge besitzt;
das Pferd, nicht das Krokodil, nennen wir ein edles Tier. Unter alleu irdischen
Wesen aber ist der Mensch das edelste, und unter den Menschen wiederum
sind die edelsten, deren Geist und Gemüt der Idee der Menschheit am nächsten
kommt. Dieser Adel ist aber rein persönlich und kamt uicht vererbt werden.
Edle Väter haben oft sehr unedle Söhne, und mit dem Stande hat dieser
Adel gar nichts zu thun; sind doch viele Geister ersten Ranges, wie Shake¬
speare, dem niedrigsten Stande entsprossen. Ein edler Mensch adelt wohl seine
Familie, nie aber vermag die Familie ihren Sprößling zu adeln. Und wie
die Vorzüge des Geistes und Herzens, so sind mich die Verdienste nicht ver¬
erbbar; nichts lächerlicheres als jemanden für die Verdienste seines Vaters


Grenzboten IV 1893 14
Ein italienischer Katholik über die Freiheit

Menschheit von der Sklaverei durch die Hörigkeit hindurch zur persönlichen
Freiheit, aber wie sich im Nahmen dieser drei juristischen Begriffe die Lage
der Menschen zu verschiednen Zeiten und an verschiednen Orten thatsächlich
gestaltet hat, darüber hören nur nichts.

Wie unfruchtbar diese von der Erfahrung absehende BeHandlungsweise
für das Leben ist, zeigt sich besonders in dem Kapitel: „Von der Idee der
Freiheit in Beziehung ans die soziale Frage," dessen Inhalt wir abgekürzt
wiedergeben wollen. Zuvor werfen wir aber einen Blick auf das vorhergehende
Kapitel, worin der Verfasser mit einem Radikalismus, der einerseits an Rousseau,
andrerseits an die Sozmldemokraten erinnert, alle gesellschaftlichen Vorrechte
bekämpft. Der christliche Glaube, daß alle Menschen Kinder Gottes sind, dessen
Wesen die Liebe ist — führt Cenni aus —, schneidet alle Ausprüche auf Vor¬
rechte der einen über die andern an der Wurzel ab; er duldet keinerlei Privi¬
legium, mag es aus dem Genie, oder ans der Tugend, oder ans dem Amte,
oder aus der Geburt abgeleitet werden. Mit Feuer bekämpft er den Legi-
tismus De Maistres, jede» Absolutismus und das Adelsvvrnrteil, „diesen
letzten Kehricht des Mittelalters." Er beruft sich in diesem Stück vorzüglich
auf Dante, den er überhaupt als Meister verehrt. Nach der Entwicklungs¬
theorie allerdings, deren wirkliche Urheber, wie er richtig zeigt, nicht sowohl
Darwin und Herbert Spencer als vielmehr Spinoza und Hobbes sind, gilt
das Vorrecht des Stärkern, nimmermehr aber nach dem Glauben des Christen-
tums. Aus höherer geistiger Begabung z. B. entspringt nicht das Recht, die
minder begabten zu beherrschen, sondern bloß die Pflicht, sie zu belehren und
zu bilden. Im Christentum, das die Demut für die Wurzel aller Tugenden
und den Hochmut für die Wurzel aller Sünden erklärt, ist jede Aristokratie
unmöglich, denn Aristokratie ist nichts andres, als die Verkörperung des grund¬
sätzlichen Hochmuts. Jede der vier Hauptarten der Aristokratie charakterisirt
Cenni mit einem Beiwort; die Plntvkratie ist die roheste, die Beamtenherr¬
schaft die am meisten tyrannische, die Bildnngsaristokratie mephistophelisch,
der Geburtsadel nichtig (vuow, hohl). Edel — sagt er — nennen wir ein
Wesen, das gewisse nur ihm eigne, andern Wesen unerreichbare Borzüge besitzt;
das Pferd, nicht das Krokodil, nennen wir ein edles Tier. Unter alleu irdischen
Wesen aber ist der Mensch das edelste, und unter den Menschen wiederum
sind die edelsten, deren Geist und Gemüt der Idee der Menschheit am nächsten
kommt. Dieser Adel ist aber rein persönlich und kamt uicht vererbt werden.
Edle Väter haben oft sehr unedle Söhne, und mit dem Stande hat dieser
Adel gar nichts zu thun; sind doch viele Geister ersten Ranges, wie Shake¬
speare, dem niedrigsten Stande entsprossen. Ein edler Mensch adelt wohl seine
Familie, nie aber vermag die Familie ihren Sprößling zu adeln. Und wie
die Vorzüge des Geistes und Herzens, so sind mich die Verdienste nicht ver¬
erbbar; nichts lächerlicheres als jemanden für die Verdienste seines Vaters


Grenzboten IV 1893 14
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[0113] Ein italienischer Katholik über die Freiheit Menschheit von der Sklaverei durch die Hörigkeit hindurch zur persönlichen Freiheit, aber wie sich im Nahmen dieser drei juristischen Begriffe die Lage der Menschen zu verschiednen Zeiten und an verschiednen Orten thatsächlich gestaltet hat, darüber hören nur nichts. Wie unfruchtbar diese von der Erfahrung absehende BeHandlungsweise für das Leben ist, zeigt sich besonders in dem Kapitel: „Von der Idee der Freiheit in Beziehung ans die soziale Frage," dessen Inhalt wir abgekürzt wiedergeben wollen. Zuvor werfen wir aber einen Blick auf das vorhergehende Kapitel, worin der Verfasser mit einem Radikalismus, der einerseits an Rousseau, andrerseits an die Sozmldemokraten erinnert, alle gesellschaftlichen Vorrechte bekämpft. Der christliche Glaube, daß alle Menschen Kinder Gottes sind, dessen Wesen die Liebe ist — führt Cenni aus —, schneidet alle Ausprüche auf Vor¬ rechte der einen über die andern an der Wurzel ab; er duldet keinerlei Privi¬ legium, mag es aus dem Genie, oder ans der Tugend, oder ans dem Amte, oder aus der Geburt abgeleitet werden. Mit Feuer bekämpft er den Legi- tismus De Maistres, jede» Absolutismus und das Adelsvvrnrteil, „diesen letzten Kehricht des Mittelalters." Er beruft sich in diesem Stück vorzüglich auf Dante, den er überhaupt als Meister verehrt. Nach der Entwicklungs¬ theorie allerdings, deren wirkliche Urheber, wie er richtig zeigt, nicht sowohl Darwin und Herbert Spencer als vielmehr Spinoza und Hobbes sind, gilt das Vorrecht des Stärkern, nimmermehr aber nach dem Glauben des Christen- tums. Aus höherer geistiger Begabung z. B. entspringt nicht das Recht, die minder begabten zu beherrschen, sondern bloß die Pflicht, sie zu belehren und zu bilden. Im Christentum, das die Demut für die Wurzel aller Tugenden und den Hochmut für die Wurzel aller Sünden erklärt, ist jede Aristokratie unmöglich, denn Aristokratie ist nichts andres, als die Verkörperung des grund¬ sätzlichen Hochmuts. Jede der vier Hauptarten der Aristokratie charakterisirt Cenni mit einem Beiwort; die Plntvkratie ist die roheste, die Beamtenherr¬ schaft die am meisten tyrannische, die Bildnngsaristokratie mephistophelisch, der Geburtsadel nichtig (vuow, hohl). Edel — sagt er — nennen wir ein Wesen, das gewisse nur ihm eigne, andern Wesen unerreichbare Borzüge besitzt; das Pferd, nicht das Krokodil, nennen wir ein edles Tier. Unter alleu irdischen Wesen aber ist der Mensch das edelste, und unter den Menschen wiederum sind die edelsten, deren Geist und Gemüt der Idee der Menschheit am nächsten kommt. Dieser Adel ist aber rein persönlich und kamt uicht vererbt werden. Edle Väter haben oft sehr unedle Söhne, und mit dem Stande hat dieser Adel gar nichts zu thun; sind doch viele Geister ersten Ranges, wie Shake¬ speare, dem niedrigsten Stande entsprossen. Ein edler Mensch adelt wohl seine Familie, nie aber vermag die Familie ihren Sprößling zu adeln. Und wie die Vorzüge des Geistes und Herzens, so sind mich die Verdienste nicht ver¬ erbbar; nichts lächerlicheres als jemanden für die Verdienste seines Vaters Grenzboten IV 1893 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/113>, abgerufen am 22.07.2024.