Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Nickelprinzeszchen

gehandhabt werden, und zwar nicht von büreaukratischen, juristischen, meta¬
physischen Standpunkte aus, sondern vom physischen, von Standpunkte der
Natnrgesetzgebnng! Er war, nachdem er den französischen Krieg als Arzt
mitgemacht hatte, lange Jahre im Auslande und in der Hauptstadt Mexiko
als dirigireuder Hospitalarzt angestellt gewesen und kehrte nun mit vollem
Herzen sich nach seinem großgcwordnen Vaterlande sehnend und wissenschafts-
uud entdeckungsdnrstig nach Berlin zurück. Das junge mexikanische Mädchen
aber mit den feurigen dunkeln Augen und dem blauschwarzen Haar hatte es
ihm angethan, ohne daß sie es wußte. Von seinen Juuggesellengelüsten war
er bekehrt, und so hing er, wenn er sich nicht für Bakteriologie und Welt¬
hygieine erhitzte, an ihren Augen und war trotz seiner Jahre geschäftig um
sie wie ein jugendlicher Liebhaber.

Trotz der Verschiedenheit unsrer Ansichten in vielen Stücken -- ein eigen¬
sinniger Hagestolz wie ich und ein bekehrter Junggeselle wie er passen selten zu¬
sammen -- trotz meines misanthropischen und seines optimistischen Wesens
stimmten unsre Ansichten doch in einem Punkte überein: in der Ausfassung
des ärztlichen Berufs; mir hatten sie uns beide zu ganz entgegengesetzten
Extremen geführt: mir stand der ärztliche Beruf so hoch, daß ich vou der
Misere der Praxis in Stadt und Land gar nichts mehr wissen wollte, sondern
mich aufs Meer zurückgezogen hatte, und ihm stand er so hoch, daß er noch
einmal am Born der Wissenschaft, in Deutschland, von neuem anfangen wollte
zu studiren, um womöglich die Anschauungen über die Notwendigkeit der
Alleinherrschaft der Naturgesetze zur Geltung zu bringen gegenüber den Halb¬
heiten der gesellschaftlichen und der büreaukmtischen Einrichtungen. In einem
Punkte waren wir ganz einig: daß es für den Arzt unwürdig sei, anzuziehen
an der großen Gesellschaftskarosfe, wo die Reichen obenauf sitzen und sich von
den Armen ziehen ließen, die unter den Peitschenhieben des .Kutschers "Hunger"
und des Dieners "Not" keuchen.

So kurz wie in dieser angenehmen Gesellschaft war mir noch nie eine
Seereise vorgekommen, und wir bedauerten es förmlich, als wir uns nun dem
Hafen von Newyork näherten und uns trennen mußten.

Plötzlich wurde ich durch einen Schlag auf die Schulter aus meinen Er¬
innerungen und Träumen geweckt: vor mir stand der Kollege aus Mexiko!
Ich hatte recht gesehen. Er war der Herr im grauen Überzieher mit grauem
Schlapphut, der, mit dem Streckstuhl um Arme, mir vorhin im Gedränge
nur seinen Rücken gezeigt hatte. Da stand er vor mir mit seinem dunkel¬
lockigen Haar und seinen zusammengczognen Augenbrauen, noch ganz so,
wie ich ihn vor vier Jahren nach Hamburg hatte abreisen sehen. Nur etwas
grauer geworden war er.

Nun, Sie unverbesserlicher Meergreis, wie geht es Ihnen? Freue mich,
Sie wieder hier zu treffen, wäre auf keinem andern Schiffe nach Mexiko


Das Nickelprinzeszchen

gehandhabt werden, und zwar nicht von büreaukratischen, juristischen, meta¬
physischen Standpunkte aus, sondern vom physischen, von Standpunkte der
Natnrgesetzgebnng! Er war, nachdem er den französischen Krieg als Arzt
mitgemacht hatte, lange Jahre im Auslande und in der Hauptstadt Mexiko
als dirigireuder Hospitalarzt angestellt gewesen und kehrte nun mit vollem
Herzen sich nach seinem großgcwordnen Vaterlande sehnend und wissenschafts-
uud entdeckungsdnrstig nach Berlin zurück. Das junge mexikanische Mädchen
aber mit den feurigen dunkeln Augen und dem blauschwarzen Haar hatte es
ihm angethan, ohne daß sie es wußte. Von seinen Juuggesellengelüsten war
er bekehrt, und so hing er, wenn er sich nicht für Bakteriologie und Welt¬
hygieine erhitzte, an ihren Augen und war trotz seiner Jahre geschäftig um
sie wie ein jugendlicher Liebhaber.

Trotz der Verschiedenheit unsrer Ansichten in vielen Stücken — ein eigen¬
sinniger Hagestolz wie ich und ein bekehrter Junggeselle wie er passen selten zu¬
sammen — trotz meines misanthropischen und seines optimistischen Wesens
stimmten unsre Ansichten doch in einem Punkte überein: in der Ausfassung
des ärztlichen Berufs; mir hatten sie uns beide zu ganz entgegengesetzten
Extremen geführt: mir stand der ärztliche Beruf so hoch, daß ich vou der
Misere der Praxis in Stadt und Land gar nichts mehr wissen wollte, sondern
mich aufs Meer zurückgezogen hatte, und ihm stand er so hoch, daß er noch
einmal am Born der Wissenschaft, in Deutschland, von neuem anfangen wollte
zu studiren, um womöglich die Anschauungen über die Notwendigkeit der
Alleinherrschaft der Naturgesetze zur Geltung zu bringen gegenüber den Halb¬
heiten der gesellschaftlichen und der büreaukmtischen Einrichtungen. In einem
Punkte waren wir ganz einig: daß es für den Arzt unwürdig sei, anzuziehen
an der großen Gesellschaftskarosfe, wo die Reichen obenauf sitzen und sich von
den Armen ziehen ließen, die unter den Peitschenhieben des .Kutschers „Hunger"
und des Dieners „Not" keuchen.

So kurz wie in dieser angenehmen Gesellschaft war mir noch nie eine
Seereise vorgekommen, und wir bedauerten es förmlich, als wir uns nun dem
Hafen von Newyork näherten und uns trennen mußten.

Plötzlich wurde ich durch einen Schlag auf die Schulter aus meinen Er¬
innerungen und Träumen geweckt: vor mir stand der Kollege aus Mexiko!
Ich hatte recht gesehen. Er war der Herr im grauen Überzieher mit grauem
Schlapphut, der, mit dem Streckstuhl um Arme, mir vorhin im Gedränge
nur seinen Rücken gezeigt hatte. Da stand er vor mir mit seinem dunkel¬
lockigen Haar und seinen zusammengczognen Augenbrauen, noch ganz so,
wie ich ihn vor vier Jahren nach Hamburg hatte abreisen sehen. Nur etwas
grauer geworden war er.

Nun, Sie unverbesserlicher Meergreis, wie geht es Ihnen? Freue mich,
Sie wieder hier zu treffen, wäre auf keinem andern Schiffe nach Mexiko


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215182"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Nickelprinzeszchen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_296" prev="#ID_295"> gehandhabt werden, und zwar nicht von büreaukratischen, juristischen, meta¬<lb/>
physischen Standpunkte aus, sondern vom physischen, von Standpunkte der<lb/>
Natnrgesetzgebnng! Er war, nachdem er den französischen Krieg als Arzt<lb/>
mitgemacht hatte, lange Jahre im Auslande und in der Hauptstadt Mexiko<lb/>
als dirigireuder Hospitalarzt angestellt gewesen und kehrte nun mit vollem<lb/>
Herzen sich nach seinem großgcwordnen Vaterlande sehnend und wissenschafts-<lb/>
uud entdeckungsdnrstig nach Berlin zurück. Das junge mexikanische Mädchen<lb/>
aber mit den feurigen dunkeln Augen und dem blauschwarzen Haar hatte es<lb/>
ihm angethan, ohne daß sie es wußte. Von seinen Juuggesellengelüsten war<lb/>
er bekehrt, und so hing er, wenn er sich nicht für Bakteriologie und Welt¬<lb/>
hygieine erhitzte, an ihren Augen und war trotz seiner Jahre geschäftig um<lb/>
sie wie ein jugendlicher Liebhaber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_297"> Trotz der Verschiedenheit unsrer Ansichten in vielen Stücken &#x2014; ein eigen¬<lb/>
sinniger Hagestolz wie ich und ein bekehrter Junggeselle wie er passen selten zu¬<lb/>
sammen &#x2014; trotz meines misanthropischen und seines optimistischen Wesens<lb/>
stimmten unsre Ansichten doch in einem Punkte überein: in der Ausfassung<lb/>
des ärztlichen Berufs; mir hatten sie uns beide zu ganz entgegengesetzten<lb/>
Extremen geführt: mir stand der ärztliche Beruf so hoch, daß ich vou der<lb/>
Misere der Praxis in Stadt und Land gar nichts mehr wissen wollte, sondern<lb/>
mich aufs Meer zurückgezogen hatte, und ihm stand er so hoch, daß er noch<lb/>
einmal am Born der Wissenschaft, in Deutschland, von neuem anfangen wollte<lb/>
zu studiren, um womöglich die Anschauungen über die Notwendigkeit der<lb/>
Alleinherrschaft der Naturgesetze zur Geltung zu bringen gegenüber den Halb¬<lb/>
heiten der gesellschaftlichen und der büreaukmtischen Einrichtungen. In einem<lb/>
Punkte waren wir ganz einig: daß es für den Arzt unwürdig sei, anzuziehen<lb/>
an der großen Gesellschaftskarosfe, wo die Reichen obenauf sitzen und sich von<lb/>
den Armen ziehen ließen, die unter den Peitschenhieben des .Kutschers &#x201E;Hunger"<lb/>
und des Dieners &#x201E;Not" keuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_298"> So kurz wie in dieser angenehmen Gesellschaft war mir noch nie eine<lb/>
Seereise vorgekommen, und wir bedauerten es förmlich, als wir uns nun dem<lb/>
Hafen von Newyork näherten und uns trennen mußten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_299"> Plötzlich wurde ich durch einen Schlag auf die Schulter aus meinen Er¬<lb/>
innerungen und Träumen geweckt: vor mir stand der Kollege aus Mexiko!<lb/>
Ich hatte recht gesehen. Er war der Herr im grauen Überzieher mit grauem<lb/>
Schlapphut, der, mit dem Streckstuhl um Arme, mir vorhin im Gedränge<lb/>
nur seinen Rücken gezeigt hatte. Da stand er vor mir mit seinem dunkel¬<lb/>
lockigen Haar und seinen zusammengczognen Augenbrauen, noch ganz so,<lb/>
wie ich ihn vor vier Jahren nach Hamburg hatte abreisen sehen. Nur etwas<lb/>
grauer geworden war er.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_300" next="#ID_301"> Nun, Sie unverbesserlicher Meergreis, wie geht es Ihnen? Freue mich,<lb/>
Sie wieder hier zu treffen, wäre auf keinem andern Schiffe nach Mexiko</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] Das Nickelprinzeszchen gehandhabt werden, und zwar nicht von büreaukratischen, juristischen, meta¬ physischen Standpunkte aus, sondern vom physischen, von Standpunkte der Natnrgesetzgebnng! Er war, nachdem er den französischen Krieg als Arzt mitgemacht hatte, lange Jahre im Auslande und in der Hauptstadt Mexiko als dirigireuder Hospitalarzt angestellt gewesen und kehrte nun mit vollem Herzen sich nach seinem großgcwordnen Vaterlande sehnend und wissenschafts- uud entdeckungsdnrstig nach Berlin zurück. Das junge mexikanische Mädchen aber mit den feurigen dunkeln Augen und dem blauschwarzen Haar hatte es ihm angethan, ohne daß sie es wußte. Von seinen Juuggesellengelüsten war er bekehrt, und so hing er, wenn er sich nicht für Bakteriologie und Welt¬ hygieine erhitzte, an ihren Augen und war trotz seiner Jahre geschäftig um sie wie ein jugendlicher Liebhaber. Trotz der Verschiedenheit unsrer Ansichten in vielen Stücken — ein eigen¬ sinniger Hagestolz wie ich und ein bekehrter Junggeselle wie er passen selten zu¬ sammen — trotz meines misanthropischen und seines optimistischen Wesens stimmten unsre Ansichten doch in einem Punkte überein: in der Ausfassung des ärztlichen Berufs; mir hatten sie uns beide zu ganz entgegengesetzten Extremen geführt: mir stand der ärztliche Beruf so hoch, daß ich vou der Misere der Praxis in Stadt und Land gar nichts mehr wissen wollte, sondern mich aufs Meer zurückgezogen hatte, und ihm stand er so hoch, daß er noch einmal am Born der Wissenschaft, in Deutschland, von neuem anfangen wollte zu studiren, um womöglich die Anschauungen über die Notwendigkeit der Alleinherrschaft der Naturgesetze zur Geltung zu bringen gegenüber den Halb¬ heiten der gesellschaftlichen und der büreaukmtischen Einrichtungen. In einem Punkte waren wir ganz einig: daß es für den Arzt unwürdig sei, anzuziehen an der großen Gesellschaftskarosfe, wo die Reichen obenauf sitzen und sich von den Armen ziehen ließen, die unter den Peitschenhieben des .Kutschers „Hunger" und des Dieners „Not" keuchen. So kurz wie in dieser angenehmen Gesellschaft war mir noch nie eine Seereise vorgekommen, und wir bedauerten es förmlich, als wir uns nun dem Hafen von Newyork näherten und uns trennen mußten. Plötzlich wurde ich durch einen Schlag auf die Schulter aus meinen Er¬ innerungen und Träumen geweckt: vor mir stand der Kollege aus Mexiko! Ich hatte recht gesehen. Er war der Herr im grauen Überzieher mit grauem Schlapphut, der, mit dem Streckstuhl um Arme, mir vorhin im Gedränge nur seinen Rücken gezeigt hatte. Da stand er vor mir mit seinem dunkel¬ lockigen Haar und seinen zusammengczognen Augenbrauen, noch ganz so, wie ich ihn vor vier Jahren nach Hamburg hatte abreisen sehen. Nur etwas grauer geworden war er. Nun, Sie unverbesserlicher Meergreis, wie geht es Ihnen? Freue mich, Sie wieder hier zu treffen, wäre auf keinem andern Schiffe nach Mexiko

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/92>, abgerufen am 01.09.2024.