Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Land und Leute in Vstfriesland

Noch eine Eigentümlichkeit Ostfrieslands muß ich als eine Folge des
starken Windes erwähnen. Wenn eS regnet -- und es regnet hier so viel,
daß man beinahe fragen könnte, manu es denn eigentlich nicht regne --, so
regnet es hier nicht, mie in Deutschland, lotrecht, sondern wagerecht. Daher
ist ein Regenschirm hier kaum von Nutzen; er ist auch so schwer zu handhaben,
daß mau sich ihn am besten ganz abgewöhnt und es so macht wie die Ein-
gebornen, die sich ganz in Wolle - auch in ein wollenes Hemd, also Jägerianer
lange vor Jäger! -- kleiden und es dann ruhig regnen lassen.

Muß das aber ein rauhes, unwirkliches Land sein! Wer möchte da
wohnen? so höre ich die Leserin fragen. Und in der That ist es schon mancher
Ostseeschwärmerin arg gegen den Strich gegangen, wenn der Gemahl an die
Nordsee versetzt wurde. Nein, hier ist aber anch gar keine landschaftliche
Schönheit! klagte so eine arme Versetzte. Aber ein Seeoffizier, der hier schon
akklimatisirt war oder, wie der gangbare technische Nnsdruck lautet, "schon
beinahe Schwimmhäute bekommen hatte," antwortete ihr: Gnädige Fran ver¬
gessen die Wolkenbildung! Ja die Wolkenbildung kann sich wirklich sehen
lassen. Überdies ist ja die Hanptsehenswnrdigkeit eines Landes nicht die "so¬
genannte" Natur, sondern der Mensch. Und der kann sich hier erst recht
sehen lassen. Noch heute hat er sich etwas von seinem alten stolzen Freiheits-
nnd Unabhängigkeitssinn bewahrt. Er ist zwar 1366 mit Freuden preußisch
geworden, wie er es schon einmal sechzig fruchtbare Jahre gewesen war; er
hat auch mit Freuden, so weit das bei ihm äußerlich bemerkbar ist, die Auf¬
richtung des neuen deutschen Reichs begrüßt, aber er ist doch in erster Linie
Ostfriese geblieben, "Stark nach außen, schwertgewaltig um ein hoch Panier
geschart" -- das ist ihm schon recht; aber gerade bei ihm gehört als besonders
notwendig dazu: "innen reich und vielgestaltig, jeder Stamm nach seiner Art."
In seiner "Art" aber ist der Ostfriese der konservativste Mann von der Welt,
wenn er auch gelegentlich einen Deutschfreisinnigen in den Reichstag schickt;
weil er so deutsch und so freisinnig ist, meint er in seiner politischen Harm¬
losigkeit, ein Deutschfreisinniger sei sein Mann.")

Doch diese Plauderei soll nicht in ein politisches Lied ausklingen.
Ich wende mich auf ein andres, unverfänglicheres Gebiet. Ich wollte noch
eine Vorstellung geben von dem Reichtum der ostfriesischen Sprache an Sprich¬
wörtern, und ich wähle dazu das Kapitel vom Freien und Heiraten.

"Der Gott, der Muhammed sandte, ist kein Gott der Hagestolze," sagt
irgendwo jemand, das heißt: wo es noch mit natürlichen Dingen zugeht, da
wird fleißig geheiratet. Und so geht es hier zu. Es fehlt zwar nicht an
Stimmen, die davor warnen, kM nur örst, s-i.' Ap sodöxkor to sin Inmcl,
asu sermlst an alö stört öl >vo1 dkMFön laden. Auch wird auf die Umstände,



Neulich, am 16. Juni, hat er sich aber eines bessern besonnen.
Land und Leute in Vstfriesland

Noch eine Eigentümlichkeit Ostfrieslands muß ich als eine Folge des
starken Windes erwähnen. Wenn eS regnet — und es regnet hier so viel,
daß man beinahe fragen könnte, manu es denn eigentlich nicht regne —, so
regnet es hier nicht, mie in Deutschland, lotrecht, sondern wagerecht. Daher
ist ein Regenschirm hier kaum von Nutzen; er ist auch so schwer zu handhaben,
daß mau sich ihn am besten ganz abgewöhnt und es so macht wie die Ein-
gebornen, die sich ganz in Wolle - auch in ein wollenes Hemd, also Jägerianer
lange vor Jäger! — kleiden und es dann ruhig regnen lassen.

Muß das aber ein rauhes, unwirkliches Land sein! Wer möchte da
wohnen? so höre ich die Leserin fragen. Und in der That ist es schon mancher
Ostseeschwärmerin arg gegen den Strich gegangen, wenn der Gemahl an die
Nordsee versetzt wurde. Nein, hier ist aber anch gar keine landschaftliche
Schönheit! klagte so eine arme Versetzte. Aber ein Seeoffizier, der hier schon
akklimatisirt war oder, wie der gangbare technische Nnsdruck lautet, „schon
beinahe Schwimmhäute bekommen hatte," antwortete ihr: Gnädige Fran ver¬
gessen die Wolkenbildung! Ja die Wolkenbildung kann sich wirklich sehen
lassen. Überdies ist ja die Hanptsehenswnrdigkeit eines Landes nicht die „so¬
genannte" Natur, sondern der Mensch. Und der kann sich hier erst recht
sehen lassen. Noch heute hat er sich etwas von seinem alten stolzen Freiheits-
nnd Unabhängigkeitssinn bewahrt. Er ist zwar 1366 mit Freuden preußisch
geworden, wie er es schon einmal sechzig fruchtbare Jahre gewesen war; er
hat auch mit Freuden, so weit das bei ihm äußerlich bemerkbar ist, die Auf¬
richtung des neuen deutschen Reichs begrüßt, aber er ist doch in erster Linie
Ostfriese geblieben, „Stark nach außen, schwertgewaltig um ein hoch Panier
geschart" — das ist ihm schon recht; aber gerade bei ihm gehört als besonders
notwendig dazu: „innen reich und vielgestaltig, jeder Stamm nach seiner Art."
In seiner „Art" aber ist der Ostfriese der konservativste Mann von der Welt,
wenn er auch gelegentlich einen Deutschfreisinnigen in den Reichstag schickt;
weil er so deutsch und so freisinnig ist, meint er in seiner politischen Harm¬
losigkeit, ein Deutschfreisinniger sei sein Mann.")

Doch diese Plauderei soll nicht in ein politisches Lied ausklingen.
Ich wende mich auf ein andres, unverfänglicheres Gebiet. Ich wollte noch
eine Vorstellung geben von dem Reichtum der ostfriesischen Sprache an Sprich¬
wörtern, und ich wähle dazu das Kapitel vom Freien und Heiraten.

„Der Gott, der Muhammed sandte, ist kein Gott der Hagestolze," sagt
irgendwo jemand, das heißt: wo es noch mit natürlichen Dingen zugeht, da
wird fleißig geheiratet. Und so geht es hier zu. Es fehlt zwar nicht an
Stimmen, die davor warnen, kM nur örst, s-i.' Ap sodöxkor to sin Inmcl,
asu sermlst an alö stört öl >vo1 dkMFön laden. Auch wird auf die Umstände,



Neulich, am 16. Juni, hat er sich aber eines bessern besonnen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0084" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215174"/>
          <fw type="header" place="top"> Land und Leute in Vstfriesland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_272"> Noch eine Eigentümlichkeit Ostfrieslands muß ich als eine Folge des<lb/>
starken Windes erwähnen. Wenn eS regnet &#x2014; und es regnet hier so viel,<lb/>
daß man beinahe fragen könnte, manu es denn eigentlich nicht regne &#x2014;, so<lb/>
regnet es hier nicht, mie in Deutschland, lotrecht, sondern wagerecht. Daher<lb/>
ist ein Regenschirm hier kaum von Nutzen; er ist auch so schwer zu handhaben,<lb/>
daß mau sich ihn am besten ganz abgewöhnt und es so macht wie die Ein-<lb/>
gebornen, die sich ganz in Wolle - auch in ein wollenes Hemd, also Jägerianer<lb/>
lange vor Jäger! &#x2014; kleiden und es dann ruhig regnen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_273"> Muß das aber ein rauhes, unwirkliches Land sein! Wer möchte da<lb/>
wohnen? so höre ich die Leserin fragen. Und in der That ist es schon mancher<lb/>
Ostseeschwärmerin arg gegen den Strich gegangen, wenn der Gemahl an die<lb/>
Nordsee versetzt wurde. Nein, hier ist aber anch gar keine landschaftliche<lb/>
Schönheit! klagte so eine arme Versetzte. Aber ein Seeoffizier, der hier schon<lb/>
akklimatisirt war oder, wie der gangbare technische Nnsdruck lautet, &#x201E;schon<lb/>
beinahe Schwimmhäute bekommen hatte," antwortete ihr: Gnädige Fran ver¬<lb/>
gessen die Wolkenbildung! Ja die Wolkenbildung kann sich wirklich sehen<lb/>
lassen. Überdies ist ja die Hanptsehenswnrdigkeit eines Landes nicht die &#x201E;so¬<lb/>
genannte" Natur, sondern der Mensch. Und der kann sich hier erst recht<lb/>
sehen lassen. Noch heute hat er sich etwas von seinem alten stolzen Freiheits-<lb/>
nnd Unabhängigkeitssinn bewahrt. Er ist zwar 1366 mit Freuden preußisch<lb/>
geworden, wie er es schon einmal sechzig fruchtbare Jahre gewesen war; er<lb/>
hat auch mit Freuden, so weit das bei ihm äußerlich bemerkbar ist, die Auf¬<lb/>
richtung des neuen deutschen Reichs begrüßt, aber er ist doch in erster Linie<lb/>
Ostfriese geblieben, &#x201E;Stark nach außen, schwertgewaltig um ein hoch Panier<lb/>
geschart" &#x2014; das ist ihm schon recht; aber gerade bei ihm gehört als besonders<lb/>
notwendig dazu: &#x201E;innen reich und vielgestaltig, jeder Stamm nach seiner Art."<lb/>
In seiner &#x201E;Art" aber ist der Ostfriese der konservativste Mann von der Welt,<lb/>
wenn er auch gelegentlich einen Deutschfreisinnigen in den Reichstag schickt;<lb/>
weil er so deutsch und so freisinnig ist, meint er in seiner politischen Harm¬<lb/>
losigkeit, ein Deutschfreisinniger sei sein Mann.")</p><lb/>
          <p xml:id="ID_274"> Doch diese Plauderei soll nicht in ein politisches Lied ausklingen.<lb/>
Ich wende mich auf ein andres, unverfänglicheres Gebiet. Ich wollte noch<lb/>
eine Vorstellung geben von dem Reichtum der ostfriesischen Sprache an Sprich¬<lb/>
wörtern, und ich wähle dazu das Kapitel vom Freien und Heiraten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_275" next="#ID_276"> &#x201E;Der Gott, der Muhammed sandte, ist kein Gott der Hagestolze," sagt<lb/>
irgendwo jemand, das heißt: wo es noch mit natürlichen Dingen zugeht, da<lb/>
wird fleißig geheiratet. Und so geht es hier zu. Es fehlt zwar nicht an<lb/>
Stimmen, die davor warnen, kM nur örst, s-i.' Ap sodöxkor to sin Inmcl,<lb/>
asu sermlst an alö stört öl &gt;vo1 dkMFön laden. Auch wird auf die Umstände,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_13" place="foot"> Neulich, am 16. Juni, hat er sich aber eines bessern besonnen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0084] Land und Leute in Vstfriesland Noch eine Eigentümlichkeit Ostfrieslands muß ich als eine Folge des starken Windes erwähnen. Wenn eS regnet — und es regnet hier so viel, daß man beinahe fragen könnte, manu es denn eigentlich nicht regne —, so regnet es hier nicht, mie in Deutschland, lotrecht, sondern wagerecht. Daher ist ein Regenschirm hier kaum von Nutzen; er ist auch so schwer zu handhaben, daß mau sich ihn am besten ganz abgewöhnt und es so macht wie die Ein- gebornen, die sich ganz in Wolle - auch in ein wollenes Hemd, also Jägerianer lange vor Jäger! — kleiden und es dann ruhig regnen lassen. Muß das aber ein rauhes, unwirkliches Land sein! Wer möchte da wohnen? so höre ich die Leserin fragen. Und in der That ist es schon mancher Ostseeschwärmerin arg gegen den Strich gegangen, wenn der Gemahl an die Nordsee versetzt wurde. Nein, hier ist aber anch gar keine landschaftliche Schönheit! klagte so eine arme Versetzte. Aber ein Seeoffizier, der hier schon akklimatisirt war oder, wie der gangbare technische Nnsdruck lautet, „schon beinahe Schwimmhäute bekommen hatte," antwortete ihr: Gnädige Fran ver¬ gessen die Wolkenbildung! Ja die Wolkenbildung kann sich wirklich sehen lassen. Überdies ist ja die Hanptsehenswnrdigkeit eines Landes nicht die „so¬ genannte" Natur, sondern der Mensch. Und der kann sich hier erst recht sehen lassen. Noch heute hat er sich etwas von seinem alten stolzen Freiheits- nnd Unabhängigkeitssinn bewahrt. Er ist zwar 1366 mit Freuden preußisch geworden, wie er es schon einmal sechzig fruchtbare Jahre gewesen war; er hat auch mit Freuden, so weit das bei ihm äußerlich bemerkbar ist, die Auf¬ richtung des neuen deutschen Reichs begrüßt, aber er ist doch in erster Linie Ostfriese geblieben, „Stark nach außen, schwertgewaltig um ein hoch Panier geschart" — das ist ihm schon recht; aber gerade bei ihm gehört als besonders notwendig dazu: „innen reich und vielgestaltig, jeder Stamm nach seiner Art." In seiner „Art" aber ist der Ostfriese der konservativste Mann von der Welt, wenn er auch gelegentlich einen Deutschfreisinnigen in den Reichstag schickt; weil er so deutsch und so freisinnig ist, meint er in seiner politischen Harm¬ losigkeit, ein Deutschfreisinniger sei sein Mann.") Doch diese Plauderei soll nicht in ein politisches Lied ausklingen. Ich wende mich auf ein andres, unverfänglicheres Gebiet. Ich wollte noch eine Vorstellung geben von dem Reichtum der ostfriesischen Sprache an Sprich¬ wörtern, und ich wähle dazu das Kapitel vom Freien und Heiraten. „Der Gott, der Muhammed sandte, ist kein Gott der Hagestolze," sagt irgendwo jemand, das heißt: wo es noch mit natürlichen Dingen zugeht, da wird fleißig geheiratet. Und so geht es hier zu. Es fehlt zwar nicht an Stimmen, die davor warnen, kM nur örst, s-i.' Ap sodöxkor to sin Inmcl, asu sermlst an alö stört öl >vo1 dkMFön laden. Auch wird auf die Umstände, Neulich, am 16. Juni, hat er sich aber eines bessern besonnen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/84
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/84>, abgerufen am 01.09.2024.