Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

gar selten in dunkler Stube beisammen, sie bewegen sich fleiszig draußen in
der freien Natur, und da heißt es: "Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!"
Ja, sie bläst gewaltig, aber die Leute sind dran gewöhnt. Nach ihrer Mei¬
nung "weht es ein wenig" bei einer Windstärke, die man im Reich einen tüch¬
tigen Sturm "euren würde. Mit dem Sonnenschein dagegen ist es so eine
Sache. Der ist hier selten, um nicht zu sagen "rar." Wenn Taeitus meint,
es habe noch niemals eine Einwanderung in Germanien stattgefunden, weil
er sich nicht denken könne, daß jemand in dieses niederdrückende Klima ziehe,
dessen Wiege nicht hier gestanden hat, so hat er augenscheinlich die Küste, also
unser Friesland, im Auge gehabt und ganz besonders den Mangel an
Sonnenschein. Der war von jeher groß, wie wir aus den allerältesten Schrift¬
denkmälern, den Bannsormelli, sehen können. Überall sonst wird einer gebannt,
"so weit die Sonne scheint." Im Altfriesischen aber ist dabei von Sonnen¬
schein nicht die Rede. Für Sonne lesen wir da Wind. ^Isv l-urgii "os all
vzmä üm aom, vo!l"ZQki> viy'ä, oder: Mo lanxd als vvyill v^vt "znäs Kzmt
sorgst, ZrL8 Aro^se, gnäo blosen blöket.

Doch gesegnet sei uns dieser ewige Sturm. Wir verdanken ihm Leben
und Gesundheit. Ostfriesland ist das gesündeste Land, das es geben kann,
jedenfalls die gesündeste Gegend in ganz Deutschland. Der Regierungsbezirk
Aurich hat die geringste Sterblichkeit in ganz Preußen. Das macht nur der
luftreinigende Wind. Wenn wir den nicht hätten, was würde aus den Be¬
wohnern eines Landes werden, das von tausend "Grahem," natürlichen oder
"gegrabenen," mit stehendem Wasser durchzogen ist? Dazu der miasmatische
Boden der Marsch, der seiner Entstehung nach mit Milliarden von verwesten
Seekrustentierchen durchsetzt ist! So augenehm ein "Granat" in frischem Zu¬
stande schmeckt, beinahe nach frischen Walnüssen, so schauderhaft ist sein Ge¬
ruch bei der Verwesung, die so schnell eintritt, daß an eine Versendung ins
Binnenland nicht zu denken ist. Ein sonderbarer Name -- "Granat." Es
ist vermutet worden, er komme von den beiden Fühlhörnern des Tieres, Adam
und Eva genannt , die allerdings wie Gerstengranneu aussehen. Aber diese
Erklärung ist offenbar sehr gesucht. Sieht man den Granatlentcn genauer auf
den Mund, so merkt man, daß sie gar nicht Granat sagen, sondern daß sich
die Aussprache über Gamal, Gemal, Genae auf Genoat zu bewegt, und daß
man oft gradezu Genot hören kann. Und das wird wohl daS Ursprüngliche
sein. Genot ist Genosse. Der Hering hat den Namen von den Herden, in
denen er lebt. So hat unser Tierchen, das in so ungeheuern Mengen auf¬
tritt, daß es häufig als Düngemittel verwandt worden ist, den seinen von
seinem genossenschaftlichen Leben erhalten. Ein höchst nützliches Tierchen, das
hierzulande eine wichtige Rolle spielt, wenn es auch von so niederer Organi¬
sation ist, daß man sich jedenfalls keiner Schmeichelei schuldig macht, wenn
man von einem sagt, er habe einen Granatverstand oder ein Granatgedächtnis.


gar selten in dunkler Stube beisammen, sie bewegen sich fleiszig draußen in
der freien Natur, und da heißt es: „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!"
Ja, sie bläst gewaltig, aber die Leute sind dran gewöhnt. Nach ihrer Mei¬
nung „weht es ein wenig" bei einer Windstärke, die man im Reich einen tüch¬
tigen Sturm »euren würde. Mit dem Sonnenschein dagegen ist es so eine
Sache. Der ist hier selten, um nicht zu sagen „rar." Wenn Taeitus meint,
es habe noch niemals eine Einwanderung in Germanien stattgefunden, weil
er sich nicht denken könne, daß jemand in dieses niederdrückende Klima ziehe,
dessen Wiege nicht hier gestanden hat, so hat er augenscheinlich die Küste, also
unser Friesland, im Auge gehabt und ganz besonders den Mangel an
Sonnenschein. Der war von jeher groß, wie wir aus den allerältesten Schrift¬
denkmälern, den Bannsormelli, sehen können. Überall sonst wird einer gebannt,
„so weit die Sonne scheint." Im Altfriesischen aber ist dabei von Sonnen¬
schein nicht die Rede. Für Sonne lesen wir da Wind. ^Isv l-urgii »os all
vzmä üm aom, vo!l«ZQki> viy'ä, oder: Mo lanxd als vvyill v^vt «znäs Kzmt
sorgst, ZrL8 Aro^se, gnäo blosen blöket.

Doch gesegnet sei uns dieser ewige Sturm. Wir verdanken ihm Leben
und Gesundheit. Ostfriesland ist das gesündeste Land, das es geben kann,
jedenfalls die gesündeste Gegend in ganz Deutschland. Der Regierungsbezirk
Aurich hat die geringste Sterblichkeit in ganz Preußen. Das macht nur der
luftreinigende Wind. Wenn wir den nicht hätten, was würde aus den Be¬
wohnern eines Landes werden, das von tausend „Grahem," natürlichen oder
„gegrabenen," mit stehendem Wasser durchzogen ist? Dazu der miasmatische
Boden der Marsch, der seiner Entstehung nach mit Milliarden von verwesten
Seekrustentierchen durchsetzt ist! So augenehm ein „Granat" in frischem Zu¬
stande schmeckt, beinahe nach frischen Walnüssen, so schauderhaft ist sein Ge¬
ruch bei der Verwesung, die so schnell eintritt, daß an eine Versendung ins
Binnenland nicht zu denken ist. Ein sonderbarer Name — „Granat." Es
ist vermutet worden, er komme von den beiden Fühlhörnern des Tieres, Adam
und Eva genannt , die allerdings wie Gerstengranneu aussehen. Aber diese
Erklärung ist offenbar sehr gesucht. Sieht man den Granatlentcn genauer auf
den Mund, so merkt man, daß sie gar nicht Granat sagen, sondern daß sich
die Aussprache über Gamal, Gemal, Genae auf Genoat zu bewegt, und daß
man oft gradezu Genot hören kann. Und das wird wohl daS Ursprüngliche
sein. Genot ist Genosse. Der Hering hat den Namen von den Herden, in
denen er lebt. So hat unser Tierchen, das in so ungeheuern Mengen auf¬
tritt, daß es häufig als Düngemittel verwandt worden ist, den seinen von
seinem genossenschaftlichen Leben erhalten. Ein höchst nützliches Tierchen, das
hierzulande eine wichtige Rolle spielt, wenn es auch von so niederer Organi¬
sation ist, daß man sich jedenfalls keiner Schmeichelei schuldig macht, wenn
man von einem sagt, er habe einen Granatverstand oder ein Granatgedächtnis.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215173"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_270" prev="#ID_269"> gar selten in dunkler Stube beisammen, sie bewegen sich fleiszig draußen in<lb/>
der freien Natur, und da heißt es: &#x201E;Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!"<lb/>
Ja, sie bläst gewaltig, aber die Leute sind dran gewöhnt. Nach ihrer Mei¬<lb/>
nung &#x201E;weht es ein wenig" bei einer Windstärke, die man im Reich einen tüch¬<lb/>
tigen Sturm »euren würde. Mit dem Sonnenschein dagegen ist es so eine<lb/>
Sache. Der ist hier selten, um nicht zu sagen &#x201E;rar." Wenn Taeitus meint,<lb/>
es habe noch niemals eine Einwanderung in Germanien stattgefunden, weil<lb/>
er sich nicht denken könne, daß jemand in dieses niederdrückende Klima ziehe,<lb/>
dessen Wiege nicht hier gestanden hat, so hat er augenscheinlich die Küste, also<lb/>
unser Friesland, im Auge gehabt und ganz besonders den Mangel an<lb/>
Sonnenschein. Der war von jeher groß, wie wir aus den allerältesten Schrift¬<lb/>
denkmälern, den Bannsormelli, sehen können. Überall sonst wird einer gebannt,<lb/>
&#x201E;so weit die Sonne scheint." Im Altfriesischen aber ist dabei von Sonnen¬<lb/>
schein nicht die Rede. Für Sonne lesen wir da Wind. ^Isv l-urgii »os all<lb/>
vzmä üm aom, vo!l«ZQki&gt; viy'ä, oder: Mo lanxd als vvyill v^vt «znäs Kzmt<lb/>
sorgst, ZrL8 Aro^se, gnäo blosen blöket.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_271"> Doch gesegnet sei uns dieser ewige Sturm.  Wir verdanken ihm Leben<lb/>
und Gesundheit.  Ostfriesland ist das gesündeste Land, das es geben kann,<lb/>
jedenfalls die gesündeste Gegend in ganz Deutschland.  Der Regierungsbezirk<lb/>
Aurich hat die geringste Sterblichkeit in ganz Preußen.  Das macht nur der<lb/>
luftreinigende Wind.  Wenn wir den nicht hätten, was würde aus den Be¬<lb/>
wohnern eines Landes werden, das von tausend &#x201E;Grahem," natürlichen oder<lb/>
&#x201E;gegrabenen," mit stehendem Wasser durchzogen ist?  Dazu der miasmatische<lb/>
Boden der Marsch, der seiner Entstehung nach mit Milliarden von verwesten<lb/>
Seekrustentierchen durchsetzt ist! So augenehm ein &#x201E;Granat" in frischem Zu¬<lb/>
stande schmeckt, beinahe nach frischen Walnüssen, so schauderhaft ist sein Ge¬<lb/>
ruch bei der Verwesung, die so schnell eintritt, daß an eine Versendung ins<lb/>
Binnenland nicht zu denken ist.  Ein sonderbarer Name &#x2014; &#x201E;Granat." Es<lb/>
ist vermutet worden, er komme von den beiden Fühlhörnern des Tieres, Adam<lb/>
und Eva genannt , die allerdings wie Gerstengranneu aussehen.  Aber diese<lb/>
Erklärung ist offenbar sehr gesucht. Sieht man den Granatlentcn genauer auf<lb/>
den Mund, so merkt man, daß sie gar nicht Granat sagen, sondern daß sich<lb/>
die Aussprache über Gamal, Gemal, Genae auf Genoat zu bewegt, und daß<lb/>
man oft gradezu Genot hören kann.  Und das wird wohl daS Ursprüngliche<lb/>
sein.  Genot ist Genosse.  Der Hering hat den Namen von den Herden, in<lb/>
denen er lebt.  So hat unser Tierchen, das in so ungeheuern Mengen auf¬<lb/>
tritt, daß es häufig als Düngemittel verwandt worden ist, den seinen von<lb/>
seinem genossenschaftlichen Leben erhalten. Ein höchst nützliches Tierchen, das<lb/>
hierzulande eine wichtige Rolle spielt, wenn es auch von so niederer Organi¬<lb/>
sation ist, daß man sich jedenfalls keiner Schmeichelei schuldig macht, wenn<lb/>
man von einem sagt, er habe einen Granatverstand oder ein Granatgedächtnis.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] gar selten in dunkler Stube beisammen, sie bewegen sich fleiszig draußen in der freien Natur, und da heißt es: „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!" Ja, sie bläst gewaltig, aber die Leute sind dran gewöhnt. Nach ihrer Mei¬ nung „weht es ein wenig" bei einer Windstärke, die man im Reich einen tüch¬ tigen Sturm »euren würde. Mit dem Sonnenschein dagegen ist es so eine Sache. Der ist hier selten, um nicht zu sagen „rar." Wenn Taeitus meint, es habe noch niemals eine Einwanderung in Germanien stattgefunden, weil er sich nicht denken könne, daß jemand in dieses niederdrückende Klima ziehe, dessen Wiege nicht hier gestanden hat, so hat er augenscheinlich die Küste, also unser Friesland, im Auge gehabt und ganz besonders den Mangel an Sonnenschein. Der war von jeher groß, wie wir aus den allerältesten Schrift¬ denkmälern, den Bannsormelli, sehen können. Überall sonst wird einer gebannt, „so weit die Sonne scheint." Im Altfriesischen aber ist dabei von Sonnen¬ schein nicht die Rede. Für Sonne lesen wir da Wind. ^Isv l-urgii »os all vzmä üm aom, vo!l«ZQki> viy'ä, oder: Mo lanxd als vvyill v^vt «znäs Kzmt sorgst, ZrL8 Aro^se, gnäo blosen blöket. Doch gesegnet sei uns dieser ewige Sturm. Wir verdanken ihm Leben und Gesundheit. Ostfriesland ist das gesündeste Land, das es geben kann, jedenfalls die gesündeste Gegend in ganz Deutschland. Der Regierungsbezirk Aurich hat die geringste Sterblichkeit in ganz Preußen. Das macht nur der luftreinigende Wind. Wenn wir den nicht hätten, was würde aus den Be¬ wohnern eines Landes werden, das von tausend „Grahem," natürlichen oder „gegrabenen," mit stehendem Wasser durchzogen ist? Dazu der miasmatische Boden der Marsch, der seiner Entstehung nach mit Milliarden von verwesten Seekrustentierchen durchsetzt ist! So augenehm ein „Granat" in frischem Zu¬ stande schmeckt, beinahe nach frischen Walnüssen, so schauderhaft ist sein Ge¬ ruch bei der Verwesung, die so schnell eintritt, daß an eine Versendung ins Binnenland nicht zu denken ist. Ein sonderbarer Name — „Granat." Es ist vermutet worden, er komme von den beiden Fühlhörnern des Tieres, Adam und Eva genannt , die allerdings wie Gerstengranneu aussehen. Aber diese Erklärung ist offenbar sehr gesucht. Sieht man den Granatlentcn genauer auf den Mund, so merkt man, daß sie gar nicht Granat sagen, sondern daß sich die Aussprache über Gamal, Gemal, Genae auf Genoat zu bewegt, und daß man oft gradezu Genot hören kann. Und das wird wohl daS Ursprüngliche sein. Genot ist Genosse. Der Hering hat den Namen von den Herden, in denen er lebt. So hat unser Tierchen, das in so ungeheuern Mengen auf¬ tritt, daß es häufig als Düngemittel verwandt worden ist, den seinen von seinem genossenschaftlichen Leben erhalten. Ein höchst nützliches Tierchen, das hierzulande eine wichtige Rolle spielt, wenn es auch von so niederer Organi¬ sation ist, daß man sich jedenfalls keiner Schmeichelei schuldig macht, wenn man von einem sagt, er habe einen Granatverstand oder ein Granatgedächtnis.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/83>, abgerufen am 24.11.2024.