Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bilder aus dem Westen

nicht auf. Aber man bemühte sich, das eben als wahr erkannte in kurze
Sprüche zu fassen. Das Unbegreifliche, Unfaßliche nannte man in den unter:?
Klassen Gott, in den obern "das Göttliche" oder auch "die Natur." Daß
darüber zu allen Zeiten und bei allen Völkern wandelbare Vorstellungen ge¬
herrscht haben, die von den Priestern zu Systemen verarbeitet worden seien,
das wußten die Größern. Das war aber auch so ziemlich alles, was sie
über Religions- und Konfessionsunterschiede hörten. Eingehenderes über
Branche und Unterschiede der Religionen lernten sie in der Lektüre kennen.
Besondern Religionsunterricht gab es nicht. Damit wird allem Konfessions-
streit schon in der Schule der Boden entzogen. Ebenso lehrt anch der Ge¬
schichtsunterricht nnr, wie der Mensch allmählich vom Kannibalismus zur
Sklaverei und von der Sklaverei zur Interessensolidarität fortschreitet, und
wie sich aller Rückschritt rächt. Auch hier ist alles erfüllt von dem kosmo¬
politischen Gedanken, und so wird das Kind auch schon über allen Rassen¬
haß durch die Schule emporgehoben. Ein "Leitfaden des religiösen Denkens"
führte unvermerkt zur Poesie. Lvngfellows Gedichte, auch Freiligrathsche,
faßten die Kiuder leicht auf, deutsch wie englisch. Es war überhaupt den
meisten gleich, in welcher der beiden Sprachen sie sich ausdrückten. Kinder,
die auf dem Schulplatze englisch mit einander geplappert hatten, hörte ich
dann den Goethischen Erlkönig in einer sächsischen Travestie (!) oder ein platt¬
deutsches Stück von Fritz Reuter vortragen.

Die beim Examen anwesenden Eltern sprachen meist kein so gutes Deutsch
wie die Kinder und drückten ihre Verwunderung über deren Leistungen oft in
sehr gemischtem ?WQKzckvg.mis.-I)nee1i aus, wie mau die Uranfänge der neuen
Weltsprache zu nennen beliebt.

In der obersten Klasse unterrichtete ein Amerikaner, der wenig Deutsch
sprach, im Englischen. Er las mit den Kindern Auszüge aus Byrons (Äcklcks
U-u'olÄ, und im deutschen Unterricht hörte ich unter der Leitung eines jungen
deutscheu Lehrers Schillers Glocke sehr gut und mit großem Verständnis vor¬
tragen von einem, der eben noch draußen auf dem Spielplatze nicht gewußt
hatte, was der Ball auf deutsch heißt. Die Fertigkeit auch der Kleinern im
Kopfrechnen setzte geradezu in Erstannen. Knaben und Mädchen von zehn und
elf Jahren rechneten den Kubikinhalt eines Zimmers aus und gaben an, ob
es nach den Gesundheitsregeln groß genug sei für die Zahl der Schüler darin,
sie wußten auch mit bewundernswürdiger Schnelligkeit Zinsesziusaufgciben zu
lösen, sooaß es einem oft schwer wurde, thuen zu folgen-

Freilich, welche Mühe es den Direktor gekostet hatte und noch kostete,
die von der Vortrefflichkeit der Sache vollkommen überzeugten Eltern zur
Weiterführung der Schule zu überreden, die man aller Augenblicke eingehen
lassen wollte, sobald sie Zuschüsse erforderte, das erfuhr ich erst später. Wenn
ein Geschäft wirklich gut sei, müsse es sich selbst erhalten, und die Gründer


Bilder aus dem Westen

nicht auf. Aber man bemühte sich, das eben als wahr erkannte in kurze
Sprüche zu fassen. Das Unbegreifliche, Unfaßliche nannte man in den unter:?
Klassen Gott, in den obern „das Göttliche" oder auch „die Natur." Daß
darüber zu allen Zeiten und bei allen Völkern wandelbare Vorstellungen ge¬
herrscht haben, die von den Priestern zu Systemen verarbeitet worden seien,
das wußten die Größern. Das war aber auch so ziemlich alles, was sie
über Religions- und Konfessionsunterschiede hörten. Eingehenderes über
Branche und Unterschiede der Religionen lernten sie in der Lektüre kennen.
Besondern Religionsunterricht gab es nicht. Damit wird allem Konfessions-
streit schon in der Schule der Boden entzogen. Ebenso lehrt anch der Ge¬
schichtsunterricht nnr, wie der Mensch allmählich vom Kannibalismus zur
Sklaverei und von der Sklaverei zur Interessensolidarität fortschreitet, und
wie sich aller Rückschritt rächt. Auch hier ist alles erfüllt von dem kosmo¬
politischen Gedanken, und so wird das Kind auch schon über allen Rassen¬
haß durch die Schule emporgehoben. Ein „Leitfaden des religiösen Denkens"
führte unvermerkt zur Poesie. Lvngfellows Gedichte, auch Freiligrathsche,
faßten die Kiuder leicht auf, deutsch wie englisch. Es war überhaupt den
meisten gleich, in welcher der beiden Sprachen sie sich ausdrückten. Kinder,
die auf dem Schulplatze englisch mit einander geplappert hatten, hörte ich
dann den Goethischen Erlkönig in einer sächsischen Travestie (!) oder ein platt¬
deutsches Stück von Fritz Reuter vortragen.

Die beim Examen anwesenden Eltern sprachen meist kein so gutes Deutsch
wie die Kinder und drückten ihre Verwunderung über deren Leistungen oft in
sehr gemischtem ?WQKzckvg.mis.-I)nee1i aus, wie mau die Uranfänge der neuen
Weltsprache zu nennen beliebt.

In der obersten Klasse unterrichtete ein Amerikaner, der wenig Deutsch
sprach, im Englischen. Er las mit den Kindern Auszüge aus Byrons (Äcklcks
U-u'olÄ, und im deutschen Unterricht hörte ich unter der Leitung eines jungen
deutscheu Lehrers Schillers Glocke sehr gut und mit großem Verständnis vor¬
tragen von einem, der eben noch draußen auf dem Spielplatze nicht gewußt
hatte, was der Ball auf deutsch heißt. Die Fertigkeit auch der Kleinern im
Kopfrechnen setzte geradezu in Erstannen. Knaben und Mädchen von zehn und
elf Jahren rechneten den Kubikinhalt eines Zimmers aus und gaben an, ob
es nach den Gesundheitsregeln groß genug sei für die Zahl der Schüler darin,
sie wußten auch mit bewundernswürdiger Schnelligkeit Zinsesziusaufgciben zu
lösen, sooaß es einem oft schwer wurde, thuen zu folgen-

Freilich, welche Mühe es den Direktor gekostet hatte und noch kostete,
die von der Vortrefflichkeit der Sache vollkommen überzeugten Eltern zur
Weiterführung der Schule zu überreden, die man aller Augenblicke eingehen
lassen wollte, sobald sie Zuschüsse erforderte, das erfuhr ich erst später. Wenn
ein Geschäft wirklich gut sei, müsse es sich selbst erhalten, und die Gründer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0624" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215714"/>
          <fw type="header" place="top"> Bilder aus dem Westen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2120" prev="#ID_2119"> nicht auf. Aber man bemühte sich, das eben als wahr erkannte in kurze<lb/>
Sprüche zu fassen. Das Unbegreifliche, Unfaßliche nannte man in den unter:?<lb/>
Klassen Gott, in den obern &#x201E;das Göttliche" oder auch &#x201E;die Natur." Daß<lb/>
darüber zu allen Zeiten und bei allen Völkern wandelbare Vorstellungen ge¬<lb/>
herrscht haben, die von den Priestern zu Systemen verarbeitet worden seien,<lb/>
das wußten die Größern. Das war aber auch so ziemlich alles, was sie<lb/>
über Religions- und Konfessionsunterschiede hörten. Eingehenderes über<lb/>
Branche und Unterschiede der Religionen lernten sie in der Lektüre kennen.<lb/>
Besondern Religionsunterricht gab es nicht. Damit wird allem Konfessions-<lb/>
streit schon in der Schule der Boden entzogen. Ebenso lehrt anch der Ge¬<lb/>
schichtsunterricht nnr, wie der Mensch allmählich vom Kannibalismus zur<lb/>
Sklaverei und von der Sklaverei zur Interessensolidarität fortschreitet, und<lb/>
wie sich aller Rückschritt rächt. Auch hier ist alles erfüllt von dem kosmo¬<lb/>
politischen Gedanken, und so wird das Kind auch schon über allen Rassen¬<lb/>
haß durch die Schule emporgehoben. Ein &#x201E;Leitfaden des religiösen Denkens"<lb/>
führte unvermerkt zur Poesie. Lvngfellows Gedichte, auch Freiligrathsche,<lb/>
faßten die Kiuder leicht auf, deutsch wie englisch. Es war überhaupt den<lb/>
meisten gleich, in welcher der beiden Sprachen sie sich ausdrückten. Kinder,<lb/>
die auf dem Schulplatze englisch mit einander geplappert hatten, hörte ich<lb/>
dann den Goethischen Erlkönig in einer sächsischen Travestie (!) oder ein platt¬<lb/>
deutsches Stück von Fritz Reuter vortragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2121"> Die beim Examen anwesenden Eltern sprachen meist kein so gutes Deutsch<lb/>
wie die Kinder und drückten ihre Verwunderung über deren Leistungen oft in<lb/>
sehr gemischtem ?WQKzckvg.mis.-I)nee1i aus, wie mau die Uranfänge der neuen<lb/>
Weltsprache zu nennen beliebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2122"> In der obersten Klasse unterrichtete ein Amerikaner, der wenig Deutsch<lb/>
sprach, im Englischen. Er las mit den Kindern Auszüge aus Byrons (Äcklcks<lb/>
U-u'olÄ, und im deutschen Unterricht hörte ich unter der Leitung eines jungen<lb/>
deutscheu Lehrers Schillers Glocke sehr gut und mit großem Verständnis vor¬<lb/>
tragen von einem, der eben noch draußen auf dem Spielplatze nicht gewußt<lb/>
hatte, was der Ball auf deutsch heißt. Die Fertigkeit auch der Kleinern im<lb/>
Kopfrechnen setzte geradezu in Erstannen. Knaben und Mädchen von zehn und<lb/>
elf Jahren rechneten den Kubikinhalt eines Zimmers aus und gaben an, ob<lb/>
es nach den Gesundheitsregeln groß genug sei für die Zahl der Schüler darin,<lb/>
sie wußten auch mit bewundernswürdiger Schnelligkeit Zinsesziusaufgciben zu<lb/>
lösen, sooaß es einem oft schwer wurde, thuen zu folgen-</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2123" next="#ID_2124"> Freilich, welche Mühe es den Direktor gekostet hatte und noch kostete,<lb/>
die von der Vortrefflichkeit der Sache vollkommen überzeugten Eltern zur<lb/>
Weiterführung der Schule zu überreden, die man aller Augenblicke eingehen<lb/>
lassen wollte, sobald sie Zuschüsse erforderte, das erfuhr ich erst später. Wenn<lb/>
ein Geschäft wirklich gut sei, müsse es sich selbst erhalten, und die Gründer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0624] Bilder aus dem Westen nicht auf. Aber man bemühte sich, das eben als wahr erkannte in kurze Sprüche zu fassen. Das Unbegreifliche, Unfaßliche nannte man in den unter:? Klassen Gott, in den obern „das Göttliche" oder auch „die Natur." Daß darüber zu allen Zeiten und bei allen Völkern wandelbare Vorstellungen ge¬ herrscht haben, die von den Priestern zu Systemen verarbeitet worden seien, das wußten die Größern. Das war aber auch so ziemlich alles, was sie über Religions- und Konfessionsunterschiede hörten. Eingehenderes über Branche und Unterschiede der Religionen lernten sie in der Lektüre kennen. Besondern Religionsunterricht gab es nicht. Damit wird allem Konfessions- streit schon in der Schule der Boden entzogen. Ebenso lehrt anch der Ge¬ schichtsunterricht nnr, wie der Mensch allmählich vom Kannibalismus zur Sklaverei und von der Sklaverei zur Interessensolidarität fortschreitet, und wie sich aller Rückschritt rächt. Auch hier ist alles erfüllt von dem kosmo¬ politischen Gedanken, und so wird das Kind auch schon über allen Rassen¬ haß durch die Schule emporgehoben. Ein „Leitfaden des religiösen Denkens" führte unvermerkt zur Poesie. Lvngfellows Gedichte, auch Freiligrathsche, faßten die Kiuder leicht auf, deutsch wie englisch. Es war überhaupt den meisten gleich, in welcher der beiden Sprachen sie sich ausdrückten. Kinder, die auf dem Schulplatze englisch mit einander geplappert hatten, hörte ich dann den Goethischen Erlkönig in einer sächsischen Travestie (!) oder ein platt¬ deutsches Stück von Fritz Reuter vortragen. Die beim Examen anwesenden Eltern sprachen meist kein so gutes Deutsch wie die Kinder und drückten ihre Verwunderung über deren Leistungen oft in sehr gemischtem ?WQKzckvg.mis.-I)nee1i aus, wie mau die Uranfänge der neuen Weltsprache zu nennen beliebt. In der obersten Klasse unterrichtete ein Amerikaner, der wenig Deutsch sprach, im Englischen. Er las mit den Kindern Auszüge aus Byrons (Äcklcks U-u'olÄ, und im deutschen Unterricht hörte ich unter der Leitung eines jungen deutscheu Lehrers Schillers Glocke sehr gut und mit großem Verständnis vor¬ tragen von einem, der eben noch draußen auf dem Spielplatze nicht gewußt hatte, was der Ball auf deutsch heißt. Die Fertigkeit auch der Kleinern im Kopfrechnen setzte geradezu in Erstannen. Knaben und Mädchen von zehn und elf Jahren rechneten den Kubikinhalt eines Zimmers aus und gaben an, ob es nach den Gesundheitsregeln groß genug sei für die Zahl der Schüler darin, sie wußten auch mit bewundernswürdiger Schnelligkeit Zinsesziusaufgciben zu lösen, sooaß es einem oft schwer wurde, thuen zu folgen- Freilich, welche Mühe es den Direktor gekostet hatte und noch kostete, die von der Vortrefflichkeit der Sache vollkommen überzeugten Eltern zur Weiterführung der Schule zu überreden, die man aller Augenblicke eingehen lassen wollte, sobald sie Zuschüsse erforderte, das erfuhr ich erst später. Wenn ein Geschäft wirklich gut sei, müsse es sich selbst erhalten, und die Gründer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/624
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/624>, abgerufen am 27.11.2024.