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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Bilder aus dem Westen

die Lexika wälzt bei der Lektüre des Homer, Birgil und Horciz, schmiedet er
sich in Amerika aus zwei Gasröhren sein Spektroskop und macht sich den
Spaß, durch ein Prisma die Frauenhoferschen Linien zu beobachten und die
Bestandteile des Sonnenkörpers nachzuprüfen. Daß er deshalb unlogischer
denke als sein lexikonwälzender Altersgenosse in Deutschland, möchte ich nicht
behaupten. Er denkt, wenn er einmal angefangen hat, sich für eine Sache zu
interessiren, jedenfalls freier, ungehinderter. Vielleicht ist schließlich der Horizont
des siebzehnjährigen Amerikaners nicht so weit, wie der des philologisch ge¬
drillten deutschen Abiturienten, der, wenigstens zu meiner Zeit, die Verwandt¬
schaften der Zähringer wie die Anfänge der römischen Agrargesetzgebung am
Schnürchen herzählen mußte, vielleicht fehlt deshalb dem Amerikaner für immer
in seiner Weltanschauung der Schwung himmelanstürmender Gedanken; aber
es fehlt ihm auch die hamletische und faustische Schwere und Trauer, die nicht
zu naiver Lebensfreudigkeit gelangen kann.

Als ich mich dankend von Herrn Miller verabschiedete, fiel mir ein, daß
er in der Erzählung seiner Montecchi- und Capulettigeschichte unterbrochen
worden War.

Ja, da könnte wirklich ein Novellenschreiber von Fach Kapital drausschlagen,
sagte er, denn hier "kriegen sie sich," und das Gute wird belohnt. Und er
erzählte mir weiter: Die blasse Gesichtsfarbe, die an dem jungen Manne auf¬
fällt, hat er sich auf ganz eigentümliche Weise erworben. Um eine verarmte
Kutscherfamilie vom Untergänge zu retten und für sie heimlich den Mietzins
zu erarbeiten, hatte er den Nachtdienst in der Druckerei eines Morgenblattes
besorgt, und das hing so zusammen. In der letzten Zeit vor dem Bankerott,
als die Geschäfte von Harrhs Vater zurückgingen, sollte das Fuhrwerk ver¬
kauft werdeu. Der junge Mensch fuhr mit dein Kutscher aus, um das Pferd
einem Kauflustigen vorzufahren. Vor dem Hanse der niedlichen Lizzie, die auf
dem Balkon steht, scheut das Pferd vor dem plötzlich um die Ecke biegenden
Kabelbahuwagen. Der sonst so gewandte junge Mann kann das Tier nicht
bändigen. Es geht durch, und der Kutscher, der neben dem Herrn im Buggy
sitzt, wird herausgeschleudert und gerade vor den dahersausenden Kabelwageu,
sodaß ihm dieser im nächsten Augenblicke über beide Beine gehen mußte. Harrh
springt heraus, und während er mit der Linken dem Pferd in die Zügel fällt,
schiebt er mit der Rechten den Hilflosen von den Schienen weg, sodaß dieser
noch mit einem Schenkelbruch davonkömmt. Wenige Tage darauf ereignet sich
die Katastrophe mit Harrhs Vater. Der Kutscher mit seinem gebrochnen Bein
wäre nun ohne Erbarmen auf die Straße gesetzt worden und die Familie in
Not und Elend gekommen, wenn nicht Harrh, der sich verpflichtet fühlte, hier
zu helfen, dem treuen Diener versprochen hätte, aus seiner Tasche die Mittel
für Wohnung und Unterhalt der Familie zu schaffen. So kam es, daß er ein
Vierteljahr in der Druckerei des Morgenblattes Nachtdienst that, ohne daß die


Bilder aus dem Westen

die Lexika wälzt bei der Lektüre des Homer, Birgil und Horciz, schmiedet er
sich in Amerika aus zwei Gasröhren sein Spektroskop und macht sich den
Spaß, durch ein Prisma die Frauenhoferschen Linien zu beobachten und die
Bestandteile des Sonnenkörpers nachzuprüfen. Daß er deshalb unlogischer
denke als sein lexikonwälzender Altersgenosse in Deutschland, möchte ich nicht
behaupten. Er denkt, wenn er einmal angefangen hat, sich für eine Sache zu
interessiren, jedenfalls freier, ungehinderter. Vielleicht ist schließlich der Horizont
des siebzehnjährigen Amerikaners nicht so weit, wie der des philologisch ge¬
drillten deutschen Abiturienten, der, wenigstens zu meiner Zeit, die Verwandt¬
schaften der Zähringer wie die Anfänge der römischen Agrargesetzgebung am
Schnürchen herzählen mußte, vielleicht fehlt deshalb dem Amerikaner für immer
in seiner Weltanschauung der Schwung himmelanstürmender Gedanken; aber
es fehlt ihm auch die hamletische und faustische Schwere und Trauer, die nicht
zu naiver Lebensfreudigkeit gelangen kann.

Als ich mich dankend von Herrn Miller verabschiedete, fiel mir ein, daß
er in der Erzählung seiner Montecchi- und Capulettigeschichte unterbrochen
worden War.

Ja, da könnte wirklich ein Novellenschreiber von Fach Kapital drausschlagen,
sagte er, denn hier „kriegen sie sich," und das Gute wird belohnt. Und er
erzählte mir weiter: Die blasse Gesichtsfarbe, die an dem jungen Manne auf¬
fällt, hat er sich auf ganz eigentümliche Weise erworben. Um eine verarmte
Kutscherfamilie vom Untergänge zu retten und für sie heimlich den Mietzins
zu erarbeiten, hatte er den Nachtdienst in der Druckerei eines Morgenblattes
besorgt, und das hing so zusammen. In der letzten Zeit vor dem Bankerott,
als die Geschäfte von Harrhs Vater zurückgingen, sollte das Fuhrwerk ver¬
kauft werdeu. Der junge Mensch fuhr mit dein Kutscher aus, um das Pferd
einem Kauflustigen vorzufahren. Vor dem Hanse der niedlichen Lizzie, die auf
dem Balkon steht, scheut das Pferd vor dem plötzlich um die Ecke biegenden
Kabelbahuwagen. Der sonst so gewandte junge Mann kann das Tier nicht
bändigen. Es geht durch, und der Kutscher, der neben dem Herrn im Buggy
sitzt, wird herausgeschleudert und gerade vor den dahersausenden Kabelwageu,
sodaß ihm dieser im nächsten Augenblicke über beide Beine gehen mußte. Harrh
springt heraus, und während er mit der Linken dem Pferd in die Zügel fällt,
schiebt er mit der Rechten den Hilflosen von den Schienen weg, sodaß dieser
noch mit einem Schenkelbruch davonkömmt. Wenige Tage darauf ereignet sich
die Katastrophe mit Harrhs Vater. Der Kutscher mit seinem gebrochnen Bein
wäre nun ohne Erbarmen auf die Straße gesetzt worden und die Familie in
Not und Elend gekommen, wenn nicht Harrh, der sich verpflichtet fühlte, hier
zu helfen, dem treuen Diener versprochen hätte, aus seiner Tasche die Mittel
für Wohnung und Unterhalt der Familie zu schaffen. So kam es, daß er ein
Vierteljahr in der Druckerei des Morgenblattes Nachtdienst that, ohne daß die


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[0619] Bilder aus dem Westen die Lexika wälzt bei der Lektüre des Homer, Birgil und Horciz, schmiedet er sich in Amerika aus zwei Gasröhren sein Spektroskop und macht sich den Spaß, durch ein Prisma die Frauenhoferschen Linien zu beobachten und die Bestandteile des Sonnenkörpers nachzuprüfen. Daß er deshalb unlogischer denke als sein lexikonwälzender Altersgenosse in Deutschland, möchte ich nicht behaupten. Er denkt, wenn er einmal angefangen hat, sich für eine Sache zu interessiren, jedenfalls freier, ungehinderter. Vielleicht ist schließlich der Horizont des siebzehnjährigen Amerikaners nicht so weit, wie der des philologisch ge¬ drillten deutschen Abiturienten, der, wenigstens zu meiner Zeit, die Verwandt¬ schaften der Zähringer wie die Anfänge der römischen Agrargesetzgebung am Schnürchen herzählen mußte, vielleicht fehlt deshalb dem Amerikaner für immer in seiner Weltanschauung der Schwung himmelanstürmender Gedanken; aber es fehlt ihm auch die hamletische und faustische Schwere und Trauer, die nicht zu naiver Lebensfreudigkeit gelangen kann. Als ich mich dankend von Herrn Miller verabschiedete, fiel mir ein, daß er in der Erzählung seiner Montecchi- und Capulettigeschichte unterbrochen worden War. Ja, da könnte wirklich ein Novellenschreiber von Fach Kapital drausschlagen, sagte er, denn hier „kriegen sie sich," und das Gute wird belohnt. Und er erzählte mir weiter: Die blasse Gesichtsfarbe, die an dem jungen Manne auf¬ fällt, hat er sich auf ganz eigentümliche Weise erworben. Um eine verarmte Kutscherfamilie vom Untergänge zu retten und für sie heimlich den Mietzins zu erarbeiten, hatte er den Nachtdienst in der Druckerei eines Morgenblattes besorgt, und das hing so zusammen. In der letzten Zeit vor dem Bankerott, als die Geschäfte von Harrhs Vater zurückgingen, sollte das Fuhrwerk ver¬ kauft werdeu. Der junge Mensch fuhr mit dein Kutscher aus, um das Pferd einem Kauflustigen vorzufahren. Vor dem Hanse der niedlichen Lizzie, die auf dem Balkon steht, scheut das Pferd vor dem plötzlich um die Ecke biegenden Kabelbahuwagen. Der sonst so gewandte junge Mann kann das Tier nicht bändigen. Es geht durch, und der Kutscher, der neben dem Herrn im Buggy sitzt, wird herausgeschleudert und gerade vor den dahersausenden Kabelwageu, sodaß ihm dieser im nächsten Augenblicke über beide Beine gehen mußte. Harrh springt heraus, und während er mit der Linken dem Pferd in die Zügel fällt, schiebt er mit der Rechten den Hilflosen von den Schienen weg, sodaß dieser noch mit einem Schenkelbruch davonkömmt. Wenige Tage darauf ereignet sich die Katastrophe mit Harrhs Vater. Der Kutscher mit seinem gebrochnen Bein wäre nun ohne Erbarmen auf die Straße gesetzt worden und die Familie in Not und Elend gekommen, wenn nicht Harrh, der sich verpflichtet fühlte, hier zu helfen, dem treuen Diener versprochen hätte, aus seiner Tasche die Mittel für Wohnung und Unterhalt der Familie zu schaffen. So kam es, daß er ein Vierteljahr in der Druckerei des Morgenblattes Nachtdienst that, ohne daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/619>, abgerufen am 28.07.2024.