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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Bilder ans dein Westen

der mich einführte, als Fräulein Lizzie Brown vor, die Tochter eines der
reichsten Leute von Kansas City -- fügte er später leise hinzu --, die erst
seit kurzer Zeit zu aller Erstaunen die Schullaufbahn ergriffen hat, obwohl
sie es durchaus nicht nötig hätte.

Ich erfuhr dann weiter, daß, wenn man von dem "Brvwuschen Glück"
sprach, man damit eine Börsenspekulation meinte, die mit Bleistiftnotizen auf
Manschetten geschrieben in Zusammenhang stehe. Das war mir neu, und ich
mußte es mir erklären lassen. Während wir die Treppen zu den Schulzimmern
hinaufstiegen, erfuhr ich weiter, daß es sich bei den beiden Familien Brown
und Green oder Grün (denn es waren Abkömmlinge von Deutschen) an der
Judependenee-Avenue um eine Rivalität zwischen zwei reichen und verwandt¬
schaftlich einander nahestehenden Familien handelte. Da haben Sie Mvntecchi
und Capulctti ins Amerikanische übersetzt, sagte Mr. Miller. Die Väter hassen
sich und spielen an der Börse gegen einander. Die Kinder lieben sich und
sollen sich natürlich nicht kriegen. Montecchi hat die Angewohnheit, seine
Börsennotizeu mit Bleistift auf seine linke Manschette zu kritzeln. Capuletti
merkt das. Die Frau seines Kutschers wäscht für beide Familien. Durch sie
erhält er die Bleistiftnotizen auf Browns Manschetten und spekulirt mit Glück
gegen ihn, bis dieser dahinterkommt. Aber er läßt sich nichts merken, sondern
macht seine Manschettennotizen ruhig weiter, aber falsch, um den Gegner irre
zu führen. Endlich kommt es zur Katastrophe. Die Sache hat vor kurzer
Zeit hier viel von sich reden gemacht: Green, der eben noch so hoch dastand,
fällt, kann seinen Bankrott nicht überleben, und ein "Schlaganfall" rafft ihn
hinweg.

Inzwischen waren wir in einen der Schulsüle getreten, wo die erste Klasse
der Knaben, junge Leute von fünfzehn bis siebzehn Jahren, zum Unterricht
versammelt war. Der dort auf der vordersten Bank, einer meiner besten
Schüler, ist der Sohn des verunglückten Kaufmanns -- damit zeigte Herr
Miller auf den hochaufgeschossener jungen Mann, dessen Bekanntschaft ich im
Kabelbahnwagen gemacht hatte.

Es war eine Geographie- und Geschichtsstunde, der ich nun beiwohnte.
Es wurde gerade alte Geschichte getrieben, und ich bewunderte die praktischen Er-
läutcrnngstafeln und Geschichtstabellen, die an den Wänden hingen. Es waren
Farbendruckbilder, die die Entwicklung des Menschengeschlechts von einer Kultur¬
stufe zur andern unter dem Bilde eines Stromlaufs vergegenwärtigten. Dazu
kamen große stammbaumartige Zeichnungen, die die Ausbreitung der Rassen über
den Erdkreis darstellten. Fresken aus der alten Geschichte schmückten die Wände.
Der Unterricht lehnte sich an diese Anschauungsmittel an. Es war eine Unter¬
haltung zwischen Lehrer und Schülern, wie sie sich etwa bei der Betrach¬
tung eines Panoramas entspinnt. Es herrschte aber allgemein gespannte Auf¬
merksamkeit.


Bilder ans dein Westen

der mich einführte, als Fräulein Lizzie Brown vor, die Tochter eines der
reichsten Leute von Kansas City — fügte er später leise hinzu —, die erst
seit kurzer Zeit zu aller Erstaunen die Schullaufbahn ergriffen hat, obwohl
sie es durchaus nicht nötig hätte.

Ich erfuhr dann weiter, daß, wenn man von dem „Brvwuschen Glück"
sprach, man damit eine Börsenspekulation meinte, die mit Bleistiftnotizen auf
Manschetten geschrieben in Zusammenhang stehe. Das war mir neu, und ich
mußte es mir erklären lassen. Während wir die Treppen zu den Schulzimmern
hinaufstiegen, erfuhr ich weiter, daß es sich bei den beiden Familien Brown
und Green oder Grün (denn es waren Abkömmlinge von Deutschen) an der
Judependenee-Avenue um eine Rivalität zwischen zwei reichen und verwandt¬
schaftlich einander nahestehenden Familien handelte. Da haben Sie Mvntecchi
und Capulctti ins Amerikanische übersetzt, sagte Mr. Miller. Die Väter hassen
sich und spielen an der Börse gegen einander. Die Kinder lieben sich und
sollen sich natürlich nicht kriegen. Montecchi hat die Angewohnheit, seine
Börsennotizeu mit Bleistift auf seine linke Manschette zu kritzeln. Capuletti
merkt das. Die Frau seines Kutschers wäscht für beide Familien. Durch sie
erhält er die Bleistiftnotizen auf Browns Manschetten und spekulirt mit Glück
gegen ihn, bis dieser dahinterkommt. Aber er läßt sich nichts merken, sondern
macht seine Manschettennotizen ruhig weiter, aber falsch, um den Gegner irre
zu führen. Endlich kommt es zur Katastrophe. Die Sache hat vor kurzer
Zeit hier viel von sich reden gemacht: Green, der eben noch so hoch dastand,
fällt, kann seinen Bankrott nicht überleben, und ein „Schlaganfall" rafft ihn
hinweg.

Inzwischen waren wir in einen der Schulsüle getreten, wo die erste Klasse
der Knaben, junge Leute von fünfzehn bis siebzehn Jahren, zum Unterricht
versammelt war. Der dort auf der vordersten Bank, einer meiner besten
Schüler, ist der Sohn des verunglückten Kaufmanns — damit zeigte Herr
Miller auf den hochaufgeschossener jungen Mann, dessen Bekanntschaft ich im
Kabelbahnwagen gemacht hatte.

Es war eine Geographie- und Geschichtsstunde, der ich nun beiwohnte.
Es wurde gerade alte Geschichte getrieben, und ich bewunderte die praktischen Er-
läutcrnngstafeln und Geschichtstabellen, die an den Wänden hingen. Es waren
Farbendruckbilder, die die Entwicklung des Menschengeschlechts von einer Kultur¬
stufe zur andern unter dem Bilde eines Stromlaufs vergegenwärtigten. Dazu
kamen große stammbaumartige Zeichnungen, die die Ausbreitung der Rassen über
den Erdkreis darstellten. Fresken aus der alten Geschichte schmückten die Wände.
Der Unterricht lehnte sich an diese Anschauungsmittel an. Es war eine Unter¬
haltung zwischen Lehrer und Schülern, wie sie sich etwa bei der Betrach¬
tung eines Panoramas entspinnt. Es herrschte aber allgemein gespannte Auf¬
merksamkeit.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/615>, abgerufen am 23.11.2024.