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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksmoral im Drama

hier nur das zur Erhaltung des Menschengeschlechts notwendige Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe; denn die formelle Seite der Sittlichkeit,
die in dein Mischungsverhältnisse der sittlichen Ideen (z. B. im Vorherrschen
der Gerechtigkeit oder des Wohlwollens oder der Freiheit) besteht, ist bei solchen
Vergleichungen aus dein Spiele zu lassen, weil die Überlegenheit der einen
Form über die andre nicht quantitativ gemessen werden kann. Jedes Volk
leistet jederzeit, was es seiner Naturanlage nach unter den eben obwaltenden
Umständen zu leisten vermag. Haben die alten Hellenen das Menschheitsideal
reiner, faßlicher dargestellt, als wir Neuern es vermögen, so haben sich dafür
auch leichter gehabt: in mäßiger Zahl bewohnten sie ein kleines Land in einem,
glücklichen Himmelsstrich in einer Zeit sehr einfacher Wirtschaftsverhältnisse
und eines Wissens von sehr mäßigem Umsange. Uns Moderne erdrückt die
Masse; die Masse der Menschen, die Masse des Wissens, die Masse der Ein¬
drücke; uns verwirrt eine unübersehbare Menge widersprechender Ansichten, uns
reißen unversöhnliche Interessen auseinander; und außerdem macht uns, die
wir weiter uach Norden wohnen, der Winter das Leben in einer Weise schwer,
von der die Völker des glücklichern Südens nichts wissen. Eben deshalb aber
bedürfen wir zu unsrer Sammlung und Klärung mitunter des erquickenden
Blicks auf einfachere Zustünde.

Damit ist der Zweck dieser Aufsätze und die Absicht des Verfassers aus¬
gesprochen. Ich möchte etwas zur Beantwortung der Frage beitragen, ob
der Gedankeninhalt und Formenreichtum der Hellenen wert sei, von uns be¬
wahrt und gepflegt zu werden, und mochte vor dem leichtsinnigen Wegwerfen
eines kostbaren Schatzes warnen. Mir scheint: kein andres Geschlecht bedarf
so notwendig wie unser heutiges des geistigen Umgangs mit einem in seinen
Werken fortlebenden Volke, bei dem wir einfache, verständliche und feste sittliche
Grundsätze, Wahrhaftigkeit und Klarheit im Denken, Schönheit und Anmut
der Formeu, Menschenfreundlichkeit, Herzensgüte und Milde, Heiterkeit, Lebens¬
lust und Thatkraft finden.




Die ätherische volksmoral im Drama

hier nur das zur Erhaltung des Menschengeschlechts notwendige Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe; denn die formelle Seite der Sittlichkeit,
die in dein Mischungsverhältnisse der sittlichen Ideen (z. B. im Vorherrschen
der Gerechtigkeit oder des Wohlwollens oder der Freiheit) besteht, ist bei solchen
Vergleichungen aus dein Spiele zu lassen, weil die Überlegenheit der einen
Form über die andre nicht quantitativ gemessen werden kann. Jedes Volk
leistet jederzeit, was es seiner Naturanlage nach unter den eben obwaltenden
Umständen zu leisten vermag. Haben die alten Hellenen das Menschheitsideal
reiner, faßlicher dargestellt, als wir Neuern es vermögen, so haben sich dafür
auch leichter gehabt: in mäßiger Zahl bewohnten sie ein kleines Land in einem,
glücklichen Himmelsstrich in einer Zeit sehr einfacher Wirtschaftsverhältnisse
und eines Wissens von sehr mäßigem Umsange. Uns Moderne erdrückt die
Masse; die Masse der Menschen, die Masse des Wissens, die Masse der Ein¬
drücke; uns verwirrt eine unübersehbare Menge widersprechender Ansichten, uns
reißen unversöhnliche Interessen auseinander; und außerdem macht uns, die
wir weiter uach Norden wohnen, der Winter das Leben in einer Weise schwer,
von der die Völker des glücklichern Südens nichts wissen. Eben deshalb aber
bedürfen wir zu unsrer Sammlung und Klärung mitunter des erquickenden
Blicks auf einfachere Zustünde.

Damit ist der Zweck dieser Aufsätze und die Absicht des Verfassers aus¬
gesprochen. Ich möchte etwas zur Beantwortung der Frage beitragen, ob
der Gedankeninhalt und Formenreichtum der Hellenen wert sei, von uns be¬
wahrt und gepflegt zu werden, und mochte vor dem leichtsinnigen Wegwerfen
eines kostbaren Schatzes warnen. Mir scheint: kein andres Geschlecht bedarf
so notwendig wie unser heutiges des geistigen Umgangs mit einem in seinen
Werken fortlebenden Volke, bei dem wir einfache, verständliche und feste sittliche
Grundsätze, Wahrhaftigkeit und Klarheit im Denken, Schönheit und Anmut
der Formeu, Menschenfreundlichkeit, Herzensgüte und Milde, Heiterkeit, Lebens¬
lust und Thatkraft finden.




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[0612] Die ätherische volksmoral im Drama hier nur das zur Erhaltung des Menschengeschlechts notwendige Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe; denn die formelle Seite der Sittlichkeit, die in dein Mischungsverhältnisse der sittlichen Ideen (z. B. im Vorherrschen der Gerechtigkeit oder des Wohlwollens oder der Freiheit) besteht, ist bei solchen Vergleichungen aus dein Spiele zu lassen, weil die Überlegenheit der einen Form über die andre nicht quantitativ gemessen werden kann. Jedes Volk leistet jederzeit, was es seiner Naturanlage nach unter den eben obwaltenden Umständen zu leisten vermag. Haben die alten Hellenen das Menschheitsideal reiner, faßlicher dargestellt, als wir Neuern es vermögen, so haben sich dafür auch leichter gehabt: in mäßiger Zahl bewohnten sie ein kleines Land in einem, glücklichen Himmelsstrich in einer Zeit sehr einfacher Wirtschaftsverhältnisse und eines Wissens von sehr mäßigem Umsange. Uns Moderne erdrückt die Masse; die Masse der Menschen, die Masse des Wissens, die Masse der Ein¬ drücke; uns verwirrt eine unübersehbare Menge widersprechender Ansichten, uns reißen unversöhnliche Interessen auseinander; und außerdem macht uns, die wir weiter uach Norden wohnen, der Winter das Leben in einer Weise schwer, von der die Völker des glücklichern Südens nichts wissen. Eben deshalb aber bedürfen wir zu unsrer Sammlung und Klärung mitunter des erquickenden Blicks auf einfachere Zustünde. Damit ist der Zweck dieser Aufsätze und die Absicht des Verfassers aus¬ gesprochen. Ich möchte etwas zur Beantwortung der Frage beitragen, ob der Gedankeninhalt und Formenreichtum der Hellenen wert sei, von uns be¬ wahrt und gepflegt zu werden, und mochte vor dem leichtsinnigen Wegwerfen eines kostbaren Schatzes warnen. Mir scheint: kein andres Geschlecht bedarf so notwendig wie unser heutiges des geistigen Umgangs mit einem in seinen Werken fortlebenden Volke, bei dem wir einfache, verständliche und feste sittliche Grundsätze, Wahrhaftigkeit und Klarheit im Denken, Schönheit und Anmut der Formeu, Menschenfreundlichkeit, Herzensgüte und Milde, Heiterkeit, Lebens¬ lust und Thatkraft finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/612>, abgerufen am 23.11.2024.