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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

anzusehen. Die christliche Kirche erteilt ihren Gläubigen und deren Kindern
seit mehr als achtzehnhundert Jahren einen regelmäßigen Unterricht, der außer
tröstenden und stärkenden religiösen Lehren und anmutigen Erzählungen auch
die wichtigsten sittlichen Grundsätze nebst kräftigen, mahnenden und warnenden
Sprüchen und ungemein anregenden Gleichnissen von wunderbar tiefem und
reichem Inhalt mitteilt. Diese Einrichtung gewährt dem sittlichen Streben der
christlichen Völker einen festen Halt, macht es ihnen möglich, sich nach großen
Umwälzungen und Kriegen, die alle bürgerlichen Einrichtungen zerstören, aus
der Verwirrung und Barbarei leicht und rasch wieder zu erheben, und stellt
ihre sittlichen Anschauungen sicher gegen die Augriffe der weltlichen Wissenschaft
in Zeiten, wo diese, wie in der alten Sophistik und in modernen Zeiten wieder¬
holt, darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die sittlichen Grundsätze weg-
zudisputiren.

Also der feste Glaube ans Jenseits und die Einrichtungen der Kirche, das
sind die beiden Stützen, die das sittliche Leben vom Christentum empfangen
hat. Den Inhalt des sittlichen Gemüts konnte dieses nicht ändern, denn der
gehört zur Natur des Menschen und entwickelt sich bei allen höher begabten
Völkern gleichmäßig, nur daß er außerhalb des Christentums leichter der Ver
derbnis ausgesetzt ist; jedenfalls hat ihn außerhalb des Christentums und vor
ihm kein Volk in solcher Reinheit dargestellt, wie die Griechen. Will man
durchaus einen Unterschied im Inhalt nachweisen, so könnte dieser höchstens in
der dein Christentum eignen Liebe zu deu Seelen gefunden werden, die den
Glauben an die persönliche Fortdauer und an die mögliche ewige Verdammnis
voraussetzt. Es mich zugestanden werden, daß diese Liebe, die sich nicht von
selbst entfaltet, sondern dnrch Reflexion geweckt und durch religiöse Übungen
anerzogen, daher auch bloß bei Geistlichen und bei sehr frommen Personen des
Laienstnndes gefunden wird, die uneigennützigste aller Arten von Liebe ist und
die einzige von Sinnlichkeit ganz freie und von Naturtrieben unabhängige,
daher an sich höher steht, als jede andre, auch als die Mutterliebe. Leider
"ber ist die Grenzscheide zwischen ihr und dem Fanatismus, in den sie leicht
umschlügt, so schmal, daß sie leicht gefährlicher werden kaun, als selbst die
geschlechtliche Liebe. So entspricht also auch hier der Stärke des Lichtes die
Finsternis des Schattens.

Wenn ich das vorteilhafte Bild der athenischen Volkssittlichkeit, das mir die
Dramen darzubieten scheinen, für den Leser nachzumalen versucht habe, so ist es
nicht etwa zu dem Zwecke geschehen, die alten Griechen auf Kosten der modernen
Deutschen zu verherrlichen. Von der Thorheit, das eine Volk und Zeitalter
herauszustreichen und andre Völker und Zeiten schlecht zu machen, bin ich weit
entfernt. Meiner Ansicht nach gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft
auch für die geistige Welt, daher muß die einmal voryandue Menge oder Stärke
der Sittlichkeit zu allen Zeiten dieselbe bleiben. Unter Sittlichkeit verstehe ich


Die ätherische Volksmoral im Drama

anzusehen. Die christliche Kirche erteilt ihren Gläubigen und deren Kindern
seit mehr als achtzehnhundert Jahren einen regelmäßigen Unterricht, der außer
tröstenden und stärkenden religiösen Lehren und anmutigen Erzählungen auch
die wichtigsten sittlichen Grundsätze nebst kräftigen, mahnenden und warnenden
Sprüchen und ungemein anregenden Gleichnissen von wunderbar tiefem und
reichem Inhalt mitteilt. Diese Einrichtung gewährt dem sittlichen Streben der
christlichen Völker einen festen Halt, macht es ihnen möglich, sich nach großen
Umwälzungen und Kriegen, die alle bürgerlichen Einrichtungen zerstören, aus
der Verwirrung und Barbarei leicht und rasch wieder zu erheben, und stellt
ihre sittlichen Anschauungen sicher gegen die Augriffe der weltlichen Wissenschaft
in Zeiten, wo diese, wie in der alten Sophistik und in modernen Zeiten wieder¬
holt, darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die sittlichen Grundsätze weg-
zudisputiren.

Also der feste Glaube ans Jenseits und die Einrichtungen der Kirche, das
sind die beiden Stützen, die das sittliche Leben vom Christentum empfangen
hat. Den Inhalt des sittlichen Gemüts konnte dieses nicht ändern, denn der
gehört zur Natur des Menschen und entwickelt sich bei allen höher begabten
Völkern gleichmäßig, nur daß er außerhalb des Christentums leichter der Ver
derbnis ausgesetzt ist; jedenfalls hat ihn außerhalb des Christentums und vor
ihm kein Volk in solcher Reinheit dargestellt, wie die Griechen. Will man
durchaus einen Unterschied im Inhalt nachweisen, so könnte dieser höchstens in
der dein Christentum eignen Liebe zu deu Seelen gefunden werden, die den
Glauben an die persönliche Fortdauer und an die mögliche ewige Verdammnis
voraussetzt. Es mich zugestanden werden, daß diese Liebe, die sich nicht von
selbst entfaltet, sondern dnrch Reflexion geweckt und durch religiöse Übungen
anerzogen, daher auch bloß bei Geistlichen und bei sehr frommen Personen des
Laienstnndes gefunden wird, die uneigennützigste aller Arten von Liebe ist und
die einzige von Sinnlichkeit ganz freie und von Naturtrieben unabhängige,
daher an sich höher steht, als jede andre, auch als die Mutterliebe. Leider
"ber ist die Grenzscheide zwischen ihr und dem Fanatismus, in den sie leicht
umschlügt, so schmal, daß sie leicht gefährlicher werden kaun, als selbst die
geschlechtliche Liebe. So entspricht also auch hier der Stärke des Lichtes die
Finsternis des Schattens.

Wenn ich das vorteilhafte Bild der athenischen Volkssittlichkeit, das mir die
Dramen darzubieten scheinen, für den Leser nachzumalen versucht habe, so ist es
nicht etwa zu dem Zwecke geschehen, die alten Griechen auf Kosten der modernen
Deutschen zu verherrlichen. Von der Thorheit, das eine Volk und Zeitalter
herauszustreichen und andre Völker und Zeiten schlecht zu machen, bin ich weit
entfernt. Meiner Ansicht nach gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft
auch für die geistige Welt, daher muß die einmal voryandue Menge oder Stärke
der Sittlichkeit zu allen Zeiten dieselbe bleiben. Unter Sittlichkeit verstehe ich


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[0611] Die ätherische Volksmoral im Drama anzusehen. Die christliche Kirche erteilt ihren Gläubigen und deren Kindern seit mehr als achtzehnhundert Jahren einen regelmäßigen Unterricht, der außer tröstenden und stärkenden religiösen Lehren und anmutigen Erzählungen auch die wichtigsten sittlichen Grundsätze nebst kräftigen, mahnenden und warnenden Sprüchen und ungemein anregenden Gleichnissen von wunderbar tiefem und reichem Inhalt mitteilt. Diese Einrichtung gewährt dem sittlichen Streben der christlichen Völker einen festen Halt, macht es ihnen möglich, sich nach großen Umwälzungen und Kriegen, die alle bürgerlichen Einrichtungen zerstören, aus der Verwirrung und Barbarei leicht und rasch wieder zu erheben, und stellt ihre sittlichen Anschauungen sicher gegen die Augriffe der weltlichen Wissenschaft in Zeiten, wo diese, wie in der alten Sophistik und in modernen Zeiten wieder¬ holt, darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die sittlichen Grundsätze weg- zudisputiren. Also der feste Glaube ans Jenseits und die Einrichtungen der Kirche, das sind die beiden Stützen, die das sittliche Leben vom Christentum empfangen hat. Den Inhalt des sittlichen Gemüts konnte dieses nicht ändern, denn der gehört zur Natur des Menschen und entwickelt sich bei allen höher begabten Völkern gleichmäßig, nur daß er außerhalb des Christentums leichter der Ver derbnis ausgesetzt ist; jedenfalls hat ihn außerhalb des Christentums und vor ihm kein Volk in solcher Reinheit dargestellt, wie die Griechen. Will man durchaus einen Unterschied im Inhalt nachweisen, so könnte dieser höchstens in der dein Christentum eignen Liebe zu deu Seelen gefunden werden, die den Glauben an die persönliche Fortdauer und an die mögliche ewige Verdammnis voraussetzt. Es mich zugestanden werden, daß diese Liebe, die sich nicht von selbst entfaltet, sondern dnrch Reflexion geweckt und durch religiöse Übungen anerzogen, daher auch bloß bei Geistlichen und bei sehr frommen Personen des Laienstnndes gefunden wird, die uneigennützigste aller Arten von Liebe ist und die einzige von Sinnlichkeit ganz freie und von Naturtrieben unabhängige, daher an sich höher steht, als jede andre, auch als die Mutterliebe. Leider "ber ist die Grenzscheide zwischen ihr und dem Fanatismus, in den sie leicht umschlügt, so schmal, daß sie leicht gefährlicher werden kaun, als selbst die geschlechtliche Liebe. So entspricht also auch hier der Stärke des Lichtes die Finsternis des Schattens. Wenn ich das vorteilhafte Bild der athenischen Volkssittlichkeit, das mir die Dramen darzubieten scheinen, für den Leser nachzumalen versucht habe, so ist es nicht etwa zu dem Zwecke geschehen, die alten Griechen auf Kosten der modernen Deutschen zu verherrlichen. Von der Thorheit, das eine Volk und Zeitalter herauszustreichen und andre Völker und Zeiten schlecht zu machen, bin ich weit entfernt. Meiner Ansicht nach gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft auch für die geistige Welt, daher muß die einmal voryandue Menge oder Stärke der Sittlichkeit zu allen Zeiten dieselbe bleiben. Unter Sittlichkeit verstehe ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/611>, abgerufen am 28.07.2024.