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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

setzen müsse. Da nun das Herrlichste auf Erden, die leibliche und geistige
Blüte des Menschen, vergänglich und von kurzer Dauer ist, spätestens im
Tode und oft schon vor dem Tode verwelkt, da ferner auf Erden oft Un¬
recht und Unvernunft zu siegen scheinen, so mußte diese Wahrnehmung
Menschen, die an keine Ergänzung des Diesseits durch ein Jenseits glaubten,
tief erschüttern. "O Menschengeschick! -- singt der Chorführer im Aga-
memnon --, Wenns glückt, ein Bild ists, stolz zu schauen; das mißlungne,
ein feuchter Schwamm fährt drüber hin und löscht es weg; und mehr als
jenes thut mir solch Verlöschen weh." Ein leeres Traumbild nennt sich
Ödipus in den Phönikerinnen, düstres Wahngebild der Chorgreis im rasenden
Herakles. "Jetzt seh ichs deutlich -- ruft Odhsseus schmerzlich ergriffen beim
Anblick des wahnsinnig gewordnen Aias --, alle, die wir leben, sind doch
nichts als Scheiugestalteu, leere Schatten nur!" Deu berühmten pessimistischen
Schlußchor des Hippolytus brauchen wir, da er allgemein bekannt ist, nicht
erst anzuführen. Und von dieser Nichtigkeit des irdischen Lebens und alles
irdische" Strebens überwältigt, mochte sich der Heitere wohl zuweilen fragen,
ob es sich lohne, aus Pflichtgefühl einer Versuchung zu widerstehen, einem
augenblicklichen Genuß oder Vorteil zu entsagen. Sich alle ernsten Sorgen
aus dem Sinne zu schlagen und die Gaben des Augenblicks zu genießen,
schien so gestimmten die einzige vernünftige Philosophie zu sein. Da der
Durchschnittsgrieche zu heiter war, Pessimist zu werden, mußte ihn seine Re¬
ligion zum Hedoniker machen, sobald er anfing, über seinen Götterglaubeu
nachzudenken und ihn kritisch zu zersetzen. Die Götter erschienen nur als ver¬
körperte Abstraktionen, als Sinnbilder von Naturgewalten, von Trieben, von
Leidenschaften, von Tugenden und Lastern. Damit verloren sie für den
Sünder das schreckende, um so mehr, als die tägliche Erfahrung statt der
waltenden Gerechtigkeit eher das Gegenteil erkennen zu lassen schien. Neo-
ptolemos berichtet dem Philoktet über die vor Ilion gefallnen Helden und be¬
merkt dazu: "Niemals raffet gern der Krieg den schlechten Mann hin, nur
die Edeln nimmt er stets." Als er dann meldet, daß auch Thersttes lebe,
ruft Philoktet: "Er muß wohl! Denn das Schlechte ging noch nie zu Grund;
nein, sorglich stets umhegen es die Himmlischen. Was soll ich dazu sagen?
wie es loben, wenn die Götter ich erprobte und sie schlecht erfand?" Das
Christentum hat seine Anhänger mit einem Glauben an die Wirklichkeit
des Jenseits und an die persönliche Fortdauer der Menschenseelen erfüllt, der
kaum auf natürliche Weise zu erklären ist; nur bei den Mohammedanern er¬
scheint er gleich lebendig und unerschütterlich; hier aber kommt ihm eine
glühende Sinnlichkeit entgegen, der er volle und endlose Sättigung verheißt.

Darum bildet der Glaube an die leibliche Auferstehung Christi den Grund¬
stein des christlichen Lehrgebäudes, und ohne diesen Glauben würde das Neue
Testament kaum mehr wert sein, als Ciceros Buch über die Pflichten oder die


Die ätherische Volksmoral im Drama

setzen müsse. Da nun das Herrlichste auf Erden, die leibliche und geistige
Blüte des Menschen, vergänglich und von kurzer Dauer ist, spätestens im
Tode und oft schon vor dem Tode verwelkt, da ferner auf Erden oft Un¬
recht und Unvernunft zu siegen scheinen, so mußte diese Wahrnehmung
Menschen, die an keine Ergänzung des Diesseits durch ein Jenseits glaubten,
tief erschüttern. „O Menschengeschick! — singt der Chorführer im Aga-
memnon —, Wenns glückt, ein Bild ists, stolz zu schauen; das mißlungne,
ein feuchter Schwamm fährt drüber hin und löscht es weg; und mehr als
jenes thut mir solch Verlöschen weh." Ein leeres Traumbild nennt sich
Ödipus in den Phönikerinnen, düstres Wahngebild der Chorgreis im rasenden
Herakles. „Jetzt seh ichs deutlich — ruft Odhsseus schmerzlich ergriffen beim
Anblick des wahnsinnig gewordnen Aias —, alle, die wir leben, sind doch
nichts als Scheiugestalteu, leere Schatten nur!" Deu berühmten pessimistischen
Schlußchor des Hippolytus brauchen wir, da er allgemein bekannt ist, nicht
erst anzuführen. Und von dieser Nichtigkeit des irdischen Lebens und alles
irdische» Strebens überwältigt, mochte sich der Heitere wohl zuweilen fragen,
ob es sich lohne, aus Pflichtgefühl einer Versuchung zu widerstehen, einem
augenblicklichen Genuß oder Vorteil zu entsagen. Sich alle ernsten Sorgen
aus dem Sinne zu schlagen und die Gaben des Augenblicks zu genießen,
schien so gestimmten die einzige vernünftige Philosophie zu sein. Da der
Durchschnittsgrieche zu heiter war, Pessimist zu werden, mußte ihn seine Re¬
ligion zum Hedoniker machen, sobald er anfing, über seinen Götterglaubeu
nachzudenken und ihn kritisch zu zersetzen. Die Götter erschienen nur als ver¬
körperte Abstraktionen, als Sinnbilder von Naturgewalten, von Trieben, von
Leidenschaften, von Tugenden und Lastern. Damit verloren sie für den
Sünder das schreckende, um so mehr, als die tägliche Erfahrung statt der
waltenden Gerechtigkeit eher das Gegenteil erkennen zu lassen schien. Neo-
ptolemos berichtet dem Philoktet über die vor Ilion gefallnen Helden und be¬
merkt dazu: „Niemals raffet gern der Krieg den schlechten Mann hin, nur
die Edeln nimmt er stets." Als er dann meldet, daß auch Thersttes lebe,
ruft Philoktet: „Er muß wohl! Denn das Schlechte ging noch nie zu Grund;
nein, sorglich stets umhegen es die Himmlischen. Was soll ich dazu sagen?
wie es loben, wenn die Götter ich erprobte und sie schlecht erfand?" Das
Christentum hat seine Anhänger mit einem Glauben an die Wirklichkeit
des Jenseits und an die persönliche Fortdauer der Menschenseelen erfüllt, der
kaum auf natürliche Weise zu erklären ist; nur bei den Mohammedanern er¬
scheint er gleich lebendig und unerschütterlich; hier aber kommt ihm eine
glühende Sinnlichkeit entgegen, der er volle und endlose Sättigung verheißt.

Darum bildet der Glaube an die leibliche Auferstehung Christi den Grund¬
stein des christlichen Lehrgebäudes, und ohne diesen Glauben würde das Neue
Testament kaum mehr wert sein, als Ciceros Buch über die Pflichten oder die


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[0608] Die ätherische Volksmoral im Drama setzen müsse. Da nun das Herrlichste auf Erden, die leibliche und geistige Blüte des Menschen, vergänglich und von kurzer Dauer ist, spätestens im Tode und oft schon vor dem Tode verwelkt, da ferner auf Erden oft Un¬ recht und Unvernunft zu siegen scheinen, so mußte diese Wahrnehmung Menschen, die an keine Ergänzung des Diesseits durch ein Jenseits glaubten, tief erschüttern. „O Menschengeschick! — singt der Chorführer im Aga- memnon —, Wenns glückt, ein Bild ists, stolz zu schauen; das mißlungne, ein feuchter Schwamm fährt drüber hin und löscht es weg; und mehr als jenes thut mir solch Verlöschen weh." Ein leeres Traumbild nennt sich Ödipus in den Phönikerinnen, düstres Wahngebild der Chorgreis im rasenden Herakles. „Jetzt seh ichs deutlich — ruft Odhsseus schmerzlich ergriffen beim Anblick des wahnsinnig gewordnen Aias —, alle, die wir leben, sind doch nichts als Scheiugestalteu, leere Schatten nur!" Deu berühmten pessimistischen Schlußchor des Hippolytus brauchen wir, da er allgemein bekannt ist, nicht erst anzuführen. Und von dieser Nichtigkeit des irdischen Lebens und alles irdische» Strebens überwältigt, mochte sich der Heitere wohl zuweilen fragen, ob es sich lohne, aus Pflichtgefühl einer Versuchung zu widerstehen, einem augenblicklichen Genuß oder Vorteil zu entsagen. Sich alle ernsten Sorgen aus dem Sinne zu schlagen und die Gaben des Augenblicks zu genießen, schien so gestimmten die einzige vernünftige Philosophie zu sein. Da der Durchschnittsgrieche zu heiter war, Pessimist zu werden, mußte ihn seine Re¬ ligion zum Hedoniker machen, sobald er anfing, über seinen Götterglaubeu nachzudenken und ihn kritisch zu zersetzen. Die Götter erschienen nur als ver¬ körperte Abstraktionen, als Sinnbilder von Naturgewalten, von Trieben, von Leidenschaften, von Tugenden und Lastern. Damit verloren sie für den Sünder das schreckende, um so mehr, als die tägliche Erfahrung statt der waltenden Gerechtigkeit eher das Gegenteil erkennen zu lassen schien. Neo- ptolemos berichtet dem Philoktet über die vor Ilion gefallnen Helden und be¬ merkt dazu: „Niemals raffet gern der Krieg den schlechten Mann hin, nur die Edeln nimmt er stets." Als er dann meldet, daß auch Thersttes lebe, ruft Philoktet: „Er muß wohl! Denn das Schlechte ging noch nie zu Grund; nein, sorglich stets umhegen es die Himmlischen. Was soll ich dazu sagen? wie es loben, wenn die Götter ich erprobte und sie schlecht erfand?" Das Christentum hat seine Anhänger mit einem Glauben an die Wirklichkeit des Jenseits und an die persönliche Fortdauer der Menschenseelen erfüllt, der kaum auf natürliche Weise zu erklären ist; nur bei den Mohammedanern er¬ scheint er gleich lebendig und unerschütterlich; hier aber kommt ihm eine glühende Sinnlichkeit entgegen, der er volle und endlose Sättigung verheißt. Darum bildet der Glaube an die leibliche Auferstehung Christi den Grund¬ stein des christlichen Lehrgebäudes, und ohne diesen Glauben würde das Neue Testament kaum mehr wert sein, als Ciceros Buch über die Pflichten oder die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/608>, abgerufen am 28.07.2024.